Rainer Bruno Zimmer

 

... denn ihr habt nicht recht von mir geredet

– von der notorischen Verletzung des Zweiten Gebots –

 

 

Die Absolutheit Gottes und das Zweite Gebot

 

In den monotheistischen Religionen kursieren Sätze wie "Gott ist absolut", "Gott ist nicht zu begreifen", "Gottes Reich ist nicht von dieser Welt". Sie repräsentieren ein ursprüngliches religiöses Wissen, das unterschwellig vorhanden und verbreitet ist. Ebenso verbreitet ist allerdings, dass die Konsequenzen daraus nicht gezogen werden.

Wenn Gott absolut ist, dann ist er "abgelöst", und zwar von Allem, d.h. zu nichts in Beziehung, und dann kann man auch keine Aussagen über ihn machen, denn die würden ihn ja in Beziehung zu etwas setzen. Jeder Versuch einer Aussage über Gott relativiert Gott. Wenn Gott nicht zu begreifen, d.h. begrifflich nicht zu fassen ist, wenn er nicht von dieser Welt und damit auch außerhalb der Begrifflichkeit dieser Welt ist, dann ist "Gott" kein Begriff, und kann nicht in Aussagen eingesetzt werden.

Um es gleich zu sagen: Dies ist der eigentliche Sinn des Zweiten – in mancher Zählung: Dritten – Gebots: dass eine Aussage mit dem Namen Gottes immer ein Missbrauch dieses Namens ist und daher nichtig. Das kann man ohne jegliche Auslegungen sehen, allein mit ein wenig Einsicht in das eigene Dasein, insbesondere, dass wir alles, was uns in der Welt begegnet, zugleich begrifflich fassen, und dass das für uns begrifflich Fassbare genau unsere Welt ist.

Üblicherweise verstehen wir das Zweite Gebot ja anders: Wir sollen Gott nicht in einen negativen Zusammenhang bringen, uns nicht negativ über ihn äußern, ihn nicht karikieren, nicht verunglimpfen usw. Und daran halten wir uns im Großen und Ganzen.

Misstrauisch gegenüber diesem Verständnis könnte uns machen, dass das Original des Zweiten Gebots aus dem 2. Buch Mose (Exodus) Kapitel 20, Vers 4, sehr unterschiedlich übersetzt worden ist:

Bei Luther lautet es: "Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen". Im Katholischen Katechismus steht statt "missbrauchen" das Wort "verunehren". Buber und Rosenzweig übersetzen: "Trage nicht SEINEN, deines Gottes Namen auf das Wahnhafte". Auch ein Blick in die King-James-Bibel lohnt: "Thou shalt not take the name of the LORD thy God in vain", d.h. man soll Gottes Namen nicht vergeblich benutzen.

"Missbrauchen", "auf das Wahnhafte tragen", "verunehren" und "vergeblich benutzen": das sind so deutlich verschiedene Auslegungen der Übersetzer, dass erst einmal der Eindruck entsteht, dass womöglich keiner das richtige Verständnis hat. Ein wenig hilft immerhin der unmittelbare Kontext. Wenige Zeilen später folgt nämlich das Vierte Gebot: "Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren". Dann kann derselbe Autor doch wohl nicht meinen, dass es in Bezug auf Gott genüge, nur seinen Namen nicht zu verunehren oder missbrauchen. Er wäre ein Leichtes gewesen zu schreiben : "Du sollst den Namen Gottes ehren" oder überhaupt "Gott ehren". Da der Autor das aber nicht schreibt, geht es ihm offenbar nicht um die Ehre Gottes oder seines Namens, und so scheiden die Interpretationen "missbrauchen" und "verunehren" offensichtlich aus.

Es bleiben die rätselhafteren Fassungen: "auf das Wahnhafte tragen" und "vergeblich benutzen". Sie zeigen auf irgendeine Art von Fehlbenutzung oder vergeblicher Benutzung, die auf einem Wahn beruhen soll, und die ohne diesen Wahn vermeidbar wäre. Aber welchen Fehler und welchen Wahn er meint, das schreibt der Autor nicht.

Wir wissen ja nun schon vorweg, welche Fehlbenutzung gemeint ist. Aber es wäre auch nicht schlecht, wenn man aus der Bibel selbst einen übereinstimmenden Hinweis anführen könnte. Tatsächlich findet sich so ein Hinweis bereits in der Sündenfallgeschichte im 1. Buch Mose.

 

Das "Nullte" Gebot

 

Gott gebietet dort dem Menschen: "Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben". Das ist sozusagen das "Nullte" Gebot. Inhaltlich beschreibt es geradeheraus das Dasein des Menschen nach dem Sündenfall: er hat die Fähigkeit der Erkenntnis, kann das Gute und das Böse unterscheiden, und ist sterblich.

Das liest sich so, wie wenn das kleine Kind sagt: "Oh, wie schöne Beeren!" und die Mama warnt: "Die sind giftig. Die darfst Du nicht essen, sonst musst Du sterben". Wie das Dasein ist, so ist es nun mal: unausweichlich, alternativlos, absolut. Die Schlange aber qualifiziert Gottes Rede um: "Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist". Demnach kann man Gottes Rede auch anders sehen: nicht als eine Kommunikation von Daseinsverständnis, sondern als ein von Hinter­gedanken motiviertes, willkürliches, mit einer willkürlichen Strafe belegtes, und bei alledem übertretbares Gebot. Dass der Mensch diese Sicht übernimmt,  das genau ist der Sündenfall, die Wendung des Menschen zum Nichtsehen des Absoluten. Alle Weiterungen dieser Geschichte sind nur Vollzug und Folgen.

Das in der Sündenfallgeschichte von Gott beschriebene Dasein hat jeder Mensch. Wir haben alle sozusagen den Sündenfall hinter uns und sind nun auf Gebote Gottes fixiert. Wir wären aber gut beraten zu prüfen, ob das, was wir leichthin als Gottes Gebote handeln, nicht treffender und mit höherem Nutzen als Beschreibungen unseres Daseins zu verstehen wäre. Die Zehn Gebote jedenfalls sind eine nicht besonders gute Gebotsliste, aber eine ziemlich gute Daseinslehre.

 

Der "normale" Missbrauch

 

Wie müsste man das Zweite Gebot als Daseinsbeschreibung lesen? Unser Dasein ist so beschaffen, dass wir Gottes Namen nicht missbrauchen oder verunehren können. Das schließt nicht aus, dass wir ihn auf das Wahnhafte tragen, oder vergeblich benutzen können, womöglich sogar üblicherweise. Bevor wir das kurzerhand als unmöglich abtun, sollten wir uns doch vergegenwärtigen, dass es hier um unser Dasein, d.h. um unsere Existenz geht, und dass wir uns darin besser nicht irren sollten. Gehen wir dieser Möglichkeit also weiter nach.

Gängige Benutzungen des Namens Gottes sind z.B.: Gott ist der Allerhöchste, Gott rettet den Menschen, Gott ist Liebe, Gott ist gnädig. Sie sind so positiv wie nur irgend vorstellbar gemeint, mehr als konform zum Zweiten Gebot. Im Sinne des Zweiten Gebots als Daseinsbeschreibung sind es jedoch normale Fehlbenutzungen des Namens Gottes.

Was ist ihr gemeinsamer Nenner? Sie sind – versuchte – Aussagen über Gott. Wenn wir sagen würden: Gott ist relativ, dann würden wahrscheinlich alle Gläubigen protestieren. Aber die Aussage: Gott ist der Allerhöchste setzt nun einmal Gott in Relation, nämlich in eine Höhenrelation zu anderen Objekten. Die Aussage: Gott rettet den Menschen setzt Gott in Beziehung zu den Begriffen retten und Mensch. Gott ist Liebe setzt Gott in Beziehung zum Begriff Liebe. Gott ist gnädig setzt Gott in Beziehung zum Begriff gnädig. Beziehung ist aber dasselbe wie Relation. Wie schon gesagt: Jeder Versuch einer Aussage über Gott relativiert Gott. Und da Gott absolut ist, ist jede Aussage über ihn nichtig.

Der vorige Absatz ist um der Prägnanz willen ungenau, in der Hoffnung, dass er trotzdem richtig verstanden wird. Genau genommen gibt es überhaupt keine Aussagen über Gott. Auch der eben vorhergehende Satz kann keine Aussage über Gott sein. Der Satz: Jede Aussage über Gott ist nichtig, als Aussage genommen, erklärt sich selbst als nichtig. Was man genau aussagen kann, ist aber folgendes: In jeder Aussage mit dem Namen "Gott" kann dasjenige, das mit diesem Namen bezeichnet ist, nur ein innerweltliches – relatives – Objekt sein. Und wenn man meint, sich in einer Aussage mit dem Namen "Gott" auf den so genannten, absoluten, außerweltlichen, unbegrifflichen Gott zu beziehen, dann unterliegt man einem Wahn.

Auf diesen eigentlichen Sinn des Zweiten Gebots kann man also auch mit Hilfe der Bibel kommen. Wem übrigens die vorliegende Ableitung nicht reicht, dem sei das Buch Hiob empfohlen. Da formulieren seine Freunde 34 Kapitel lang Aussagen über Gott, und Gott sagt am Ende, dass sie nicht recht über ihn geredet haben.

Damit stehen wir nun wieder vor der Frage nach den Konsequenzen: Was folgt aus dem Zweiten Gebot, wenn es denn Aussagen über "Gott" als nichtig erweist? Naheliegend ist, dass alle Reden über Gott und alles Denken und Lehren, das auf Aussagen über "Gott" beruht, überprüft werden müssen, und womöglich vieles verworfen werden muss. Das ist Sache der Träger dieses Denkens und Lehrens.

 

Die annähernd zeigende Rede

 

Andererseits ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass das Reden über Gott doch fallweise irgendwie erfolgreich praktiziert wird. Stellen wir uns also der Frage, ob und gegebenenfalls wie es möglich ist, ohne Aussagen über Gott zu reden.

Um diese Frage zu beantworten, tritt man am besten einen Schritt zurück und fragt, warum man denn überhaupt über Gott reden sollte. Reden über Gott scheint manchen für unser Dasein relevant zu sein, anderen erscheint es irrelevant. Allein um die mögliche Relevanz zu klären, muss man schon über Gott reden.

Um Relevanz für unser Dasein zu erkennen, muss man weiterhin zunächst das Dasein in den Blick nehmen. Das ist leichter gesagt als getan. Es geht nicht um das, was uns immer am meisten beschäftigt: die Inhalte unserer jeweiligen Welt, sondern um das, was an unserem Dasein außer unserer Welt noch daran ist.

Nun sind viele Menschen der Meinung, die Welt sei alles, was es gibt. Wie soll man aber mit so einer Beschränkung Daseinsaspekte außerhalb der Welt in den Blick nehmen! Andererseits haben die Menschen keine Schwierigkeiten, etwa von einer virtuellen Realität zu sprechen. Das heißt doch: das, was uns etwa ein Computerspiel über seine Geräte – den Computer, den Bildschirm, die Lautsprecher, die Joysticks u.a.m. – als virtuelle Realität bietet, ist in irgendeiner Weise ähnlich zu der echten Realität, die uns die Welt bietet. Sehen wir uns das ein wenig näher an. Die virtuelle Realität hat eine Art Präsentationszusammenhang, nicht nur Geräte sondern auch Designer, Programmierer, Spieler. Sie befinden sich außerhalb der virtuellen Realität. – Was entspricht dem in der echten Realität? Geräte brauchen wir nicht, wir nehmen unmittelbar wahr und handeln unmittelbar. Aber die Inhalte der Welt begegnen uns, wie wenn sie von außerhalb "live" produziert und präsentiert werden, und indem sie uns begegnen, befinden wir uns ihnen gegenüber, wir spielen also auch von außerhalb der realen Welt.

Beim Computerspielen ist unser Fokus in der virtuellen Realität, wir können in ihr aufgehen und ihr so verfallen, dass sie uns nicht leicht loslässt. Aber wir können aus dem Spiel auch aussteigen, z.B. wenn wir darin scheitern, und dann sehen wir wieder die Geräte. Gibt es so etwas in der Welt auch? Der Welt sind wir meist ebenso verfallen, aber auch in der Welt können wir so heftig verlieren, dass wir "auf uns selbst zurückgeworfen" werden.

An diesen wenigen Absätzen kann man schon sehen, wie Daseinsbeschreibung funktioniert. Man muss mit den üblichen Worten – andere haben wir nicht – assoziativ und ohne Rücksicht auf begriffliche Korrektheit in die Nähe des Daseinsaspekts zeigen, der in den Blick kommen soll. Das Mittel der Daseinbeschreibung ist die annähernd zeigende Rede. Eigentlich muss man ihr gedanklich immer das Präfix "Es ist, wie wenn" voranstellen und dann versuchen – mit dem "inneren Auge" – das "Es" zu sehen, worauf sie zeigen will.

Das Wahrheitskriterium der annähernd zeigenden Rede ist, ob man das Gezeigte sieht oder nicht. Was man sieht, das kann man nicht wegargumentieren und auch nicht argumentativ bestätigen, und so ist annähernd zeigende Rede weder beweisbar noch widerlegbar. Aber sie ist objektivierbar, denn über das, was man sieht, kann man sich ja mit anderen verständigen.

Mit dem Einstieg in die annähernd zeigende Rede erschließt sich die ganze Domäne der Daseinsbeschreibungen und damit ein umfassender Blick auf das Dasein. Dabei zeigt sich auch, dass und wie Gott ins Spiel kommt: unser Dasein ist, wie wenn das Absolute, Außerweltliche, Gott darin eine Rolle spielt.

Des näheren zeigt sich, dass der Sinn unseres Daseins Welterschließung ist – anders gesagt:  Mehrung von Lebensmöglichkeiten –, und dass wir dazu durch das, was uns das Schicksal in der Welt begegnen lässt, gecoacht werden und daran wachsen, wobei es eben so ist, wie wenn es von guten, aber außerweltlichen Eltern käme. Es zeigt sich, dass unser Dasein Dimensionen hat, die uns verschiede Sichtlinien auf das Außerweltliche bieten, u.a. auch die Trinität. Es zeigt sich, wie Schuld, Vergebung, Erlösung, Seligkeit funktionieren, und dass sie ohne außerweltlichen Bezug nicht möglich sind. Es zeigt sich, wie Wissenschaft und organisierte Religion funktionieren, und wie man sie sauber abgrenzen kann. Schließlich zeigt sich im Überblick, wie reich religiöse Texte – trotz der vordergründigen Zumutungen an die Vernunft – an offenen und verschleierten Daseinsbeschreibungen sind. Die Zehn Gebote und die Sündenfallgeschichte sind zwei Beispiele von vielen, z.T. weitaus erhellenderen.

Das alles verpasst man, wenn man die annähernd zeigende Rede von Daseinsbeschreibungen als begriffliche Aussagen nimmt; wenn man argumentiert statt hinzusehen.

 

 

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