Rainer Bruno Zimmer
Eine kritische Antwort
auf Richard Dawkins' Buch
"Der Gotteswahn"
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Original: "Atheism, Science and (No) Existential Competence", Version 04.1
deutsche Übersetzung vom Autor, unlektoriert, Mai 2014
© Rainer Bruno Zimmer
ATHEISMUS, WISSENSCHAFT, UND (KEINE) EXISTENZIELLE KOMPETENZ
KAPITEL 1 – Ein tief religiöser Ungläubiger
KAPITEL 2 – Die Gott-Hypothese
Säkularismus, die Gründerväter und die Religion Nordamerikas
Die Dürftigkeit des Agnostizismus
Die Neville Chamberlain-Schule der Evolutionsanhänger
KAPITEL 3 – Argumente für die Existenz Gottes
Die "Beweise" des Thomas von Aquin
Das ontologische Argument und andere A-priori-Argumente
Das Argument des persönlichen "Erlebnisses"
Das Argument der Heiligen Schrift
Das Argument der bewunderten religiösen Wissenschaftler
KAPITEL 4 – Warum es mit ziemlicher Sicherheit keinen Gott gibt
Das anthropische Prinzip: die planetare Version
Das anthropische Prinzip: die kosmologische Version
KAPITEL 5 – Die Wurzeln der Religion
Die Darwinistische Zwangsläufigkeit
Unmittelbare Vorteile der Religion
Religion als Nebenprodukt von etwas Anderem
Psychologisch für Religion disponiert
Treten Sie sanft auf, Sie trampeln auf meinen Memen herum
KAPITEL 6 – Die Wurzeln der Moral: Warum sind wir gut?
KAPITEL 7 – Das "gute" Buch und der wandelbare ethische Zeitgeist
Ist das Neue Testament einen Deut besser?
Was ist mit Hitler and Stalin? Waren das nicht Atheisten?
KAPITEL 8 – Was stimmt denn nicht mit der Religion? Warum diese Feindseligkeit?
KAPITEL 9 – Kindheit, Kindesmisshandlung, und wie man der Religion entkommt
KAPITEL 10 – Eine notwendige Lücke. 64
Religiöse Systeme verstecken die eigentliche Religion
Falsche Vorstellungen von Gott und Existenz
Falsche Vorstellungen von der Wissenschaft
Falsche Vorstellungen von der geeigneten Vorgehensweise
Dieses Buch folgt der Gliederung und dem Text von Richard Dawkins' Buch Der Gotteswahn. Das Ziel ist nicht, Dawkins zu konterkarieren – falsche bis wahnhafte Gottesvorstellungen sind in der Tat weit verbreitet, die Verfechter verdienen die Herausforderung durch Dawkins, und dieses Buch behandelt das alles auch. Aber wenn es darum geht, eine existenzielle Sicht auf Atheismus und Wissenschaft herauszuarbeiten, dann ist es sehr hilfreich, das Referenzmaterial in einem einzigen Werk gesammelt vorzufinden. Dawkins' Buch ist so ein Werk, denn es bringt alles vor, was man aus der Perspektive des Atheisten und Naturwissenschaftlers gegen den Glauben an Gott überhaupt vorbringen kann, und dabei ist es dann unvermeidlich, dass die dahinter liegenden Vorstellungen von den Grundlagen unserer Existenz ebenfalls – explizit oder implizit – herauskommen. Dawkins' diesbezügliche Vorstellungen dürften ziemlich repräsentativ für Naturwissenschaftler sein und sind daher viel zu wichtig und viel zu interessant, als dass man sie einfach ungeprüft stehen lassen könnte.
Da gibt es z.B. die unter Naturwissenschaftlern gängige und von Dawkins offensichtlich geteilte Einstellung,
dass die Methoden der Naturwissenschaft im Prinzip alles abdecken könnten, und dass man deshalb jenseits der Wissenschaft nicht nach Wahrheiten und Wahrheitskriterien zu suchen brauche.
Dies entspricht dem Haupt-Missverständnis der Atheisten,
dass
man gegen die Existenz Gottes argumentieren könnte,
ohne etwas über Gott zu wissen.
Dass die Atheisten das meinen, ist verständlich, weil sie ja Gott für nicht existent und daher Wissen über Gott für nicht der Mühe wert halten. Allerdings führt diese Denkweise in ein Dilemma:
Wenn Gott nicht existiert, wie soll man ihn definieren? Was soll man negieren, wenn es keine Definition davon gibt oder sogar keine geben kann?
Wenn man beweisen will, dass eine Menge leer ist, dann muss man die Menge zuerst definieren. Und wenn der Beweis relevant sein soll, dann sollte es besser eine relevante Menge sein.
Was sind die Optionen angesichts dieses Dilemmas? Zu argumentieren aufzuhören oder den Atheismus aufzugeben kommt nicht in Frage. Sich eine Definition auszuleihen reicht nicht als Wissen über Gott. Der Atheist kann sein Dilemma zurückstellen und leidenschaftlich mit dem Finger auf das ein oder andere Dilemma der irrational-religiösen Gegner zeigen. Natürlich erlöst das den Atheisten nicht von seinem Dilemma, und Dawkins' Buch beweist auch, das das nun nicht gerade eine Gewinnstrategie ist.
Die Einzige Lösung des Dilemmas ist, es nicht als Dilemma zu nehmen: Man kann versuchen Gott zu bestimmen, obwohl er nicht definiert und über ihn nichts Faktisches ausgesagt werden kann. Gott kann nur falsifiziert werden, wenn man wirklich ernsthaft versucht, ihn in den Blick zu bekommen – und zwar eher nicht in der faktischen Welt, sondern möglicherweise in einem Bereich unserer Existenz jenseits der Fakten und Worte.
In diesem Sinne werden wir nachfolgend existenzielle Kompetenz ins Spiel bringen, um die Positionen der Atheisten und Naturwissenschaftler zu hinterfragen. Dazu werden wir zunächst eine entsprechende Einführung in die hier bezogene, existenzielle Kritikposition geben, und sie später bei Bedarf ergänzen.
Um mit wissenschaftlicher Autorität zu zeigen, dass Gott nicht sein kann, hat man am besten: erstens eine gute Definition von diesem "Gott", und zweitens ein vernünftiges Maß an Gewissheit, dass die Vorgehensweise in Bezug auf den so definierten Gott überhaupt anwendbar ist. Da Dawkins Wissenschaftler ist und sein Renommee als Wissenschaftler einsetzt, sollten diese beiden Anforderungen angemessen sein.
1. Die Definition
Dawkins bietet keine Definition, und wir wissen inzwischen, warum: weil er dem Atheisten-Dilemma nicht entkommt. Anfangs diskutiert er abstrakt über Gott und über menschliche Positionen gegenüber Gott, aber der Großteil des Buchs besteht dann vorwiegend aus Angriffen auf die Lehren der monotheistischen Religionsgemeinschaften. Eigentlich scheint Dawkins meistens die folgende implizite Definition zu benutzen: "Gott, wie er von den monotheistischen Religionsgemeinschaften präsentiert wird". Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass ein Beweis der Nichtexistenz Gottes unter Einbeziehung aller repräsentativen Definitionen ein stärkeres Resultat ist als ein entsprechender Beweis gegen nur eine Definition. Aber bei einem Argumentationsansatz mit wissenschaftlichem Anspruch darf man dies nicht voraussetzen: Es könnte ja theoretisch sein, dass der von den Religionsgemeinschaften präsentierte Gott gar nicht der wahre Gott ist. Diese Überlegung werden wir ein paar Absätze weiter unten fortsetzen. Hier halten wir erst einmal fest, dass Dawkins keine Definition liefert.
2. Die Methode
Die von Dawkins gewählte Methode ist überwiegend, wissenschaftliche oder sonstige rationale Argumente gegen die Aussagen religiöser Organisationen in Stellung zu bringen. Das kann seine Wirkung haben, aber es sollte zuerst die Frage beantwortet werden, ob solche Argumente überhaupt auf Gott anwendbar sind. Wiederum kann man dies nicht einfach voraussetzen. Da praktisch niemand behauptet, dass Gott in dieser Welt zu finden sei, ist die eigentliche Herausforderung doch zu zeigen, dass es einen Gott außerhalb der Welt gibt bzw. nicht geben kann. Das ist gar nicht einfach, denn man kann anführen, dass die Grenze unseres Verstehens die Grenze unserer Welt ist. Wenn es außerhalb dieser Welt etwas gibt, dann können wir es weder definieren noch verstehen – was bedeutet, dass wir keinerlei Aussagen darüber machen können und ebenso keinerlei Ableitungen davon. Insbesondere sind die Aussagen: "das Außerweltliche existiert" und "das Außerweltliche existiert nicht" grundsätzlich unmöglich. – Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Dawkins erkennt, dass jegliche "Gegenaussagen" über das Außerweltliche ebenfalls unmöglich sind, und wir stellen fest, dass die Tragfähigkeit von Dawkins' Argumentations-Methode nicht sichergestellt ist.
Interessanterweise ist die Einschränkung, dass man keine Aussagen über Gott machen kann, die wahre, existenzielle Bedeutung des Zweiten Gebots. "Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen" kann als Vorschrift von einem absoluten Gott nur ein absolutes und unausweichliches Gesetz unserer Existenz sein. Wir können Gott mit einem Namen bezeichnen, aber wir können den Namen nicht in Verbindung mit unseren Begriffen und Vorstellungen benutzen. Wir können Gott nicht strukturieren oder strukturell mit irgendwelchen Dingen in Beziehung setzen.
Um das Zweite Gebot zu verstehen, braucht man nicht an einen Gott zu glauben: Wenn es eine außerweltliche Komponente unserer Existenz gibt, dann liegt sie jenseits unseres begrifflich strukturierten Verstehens von Welt, wir können sie nicht begreifen oder in Denkprozessen erfassen, und sie kann uns nicht als innerweltliches Phänomen begegnen.
Wer ist sich hierüber im Klaren, und wer berücksichtigt das? Wir müssen hier von vornherein feststellen, dass das Zweite Gebot – gemessen an der eben dargelegten Bedeutung – nur oberflächlich respektiert wird: religiöse Lehren sind notorisch reich an voll beabsichtigten und intensiv verteidigten Aussagen über Gott und über Dinge, die angeblich mit Gott zu tun haben. Alle diese Aussagen sind nichtig. Zwar haben über die Jahrtausende hin Menschen, unter ihnen herausragend Jesus, immer wieder und laut den Fehler angeprangert, dass Gott als verstehbarer Begriff dargestellt wird. Aber sie hatten keinen nachhaltigen Einfluss auf diese Praxis. Der Fehler ist in der Tat Absicht, und es muss eine starke, universale Kraft dahinter stecken. Diese Kraft ist die Furcht vor dem Tod, im weitesten Sinne. Es ist die Kraft, die uns vor jeglichem Umgang mit existenziellen Fragen und jeglichem Betrachten unserer nackten Existenz zurückscheuen lässt. Es ist ein fundamentaler menschlicher Zug, den die Bibel mit dem Bild darstellt, dass Adam und Eva erkennen, dass sie nackt sind, und sich deshalb vor Gott verstecken.
Die direkteste Methode Gott zu meiden, ist es, ihn begrifflich zu denken. Die umfassenden Systeme von Aussagen über Gott und seine innerweltlichen Angelegenheiten, und der extensive Umgang mit und in diesen Systemen, wie sie bei den großen religiösen Organisationen etabliert sind, fördern und erhalten systematisch eine Kultur des geborgenen Verweilens in diesen Angelegenheiten und dadurch der Gottvermeidung. –
Zurück zu Dawkins' Buch: Das Ziel seiner Argumentation, "Gott", bleibt undefiniert; seine Methode der wissenschaftlich fundierten Argumentation verfehlt das wahre Ziel; und beides ist von Dawkins beabsichtigt: Kapitel 1 zitiert Einstein mit einer exzellenten Definition Gottes, und Dawkins erklärt, dass sie seinen Respekt verdient. Trotzdem sagt er, er "habe die Einsteinsche Religion auf die Seite räumen müssen", weil sie zu Verwechslungen mit den "übernatürlichen Göttern" verleiten könnte, mit denen er sich für den Rest des Buches befassen wolle.
Damit wird die Definitionshoheit für "Gott" den religiösen Organisationen überlassen – die sie ja offensichtlich zur Gottvermeidung missbrauchen –, und so trägt Dawkins selbst zu ihrem falschen Spiel bei. Man kann sich nicht gleichzeitig auf ihre offiziellen Lehren einlassen und den Anspruch erheben, man rede über Gott schlechthin.
Nicht nur dass Dawkins' mit seinen Argumenten, die immer nur irgendeinen "Aussagen-Gott" attackieren, den eigentlichen Gott verfehlt. Indem er dabei die repräsentativen religiösen Lehren beim Wort nimmt, verstärkt er eine Täuschung, die weiter geht als diejenige, die er entlarven will: dass Aussagen über Gott überhaupt möglich sein könnten. –
Dies kann nicht das Ende der übergreifenden Kritik des Buchs sein. Wir müssen noch klären und nachtragen, was Dawkins mit seiner Methode verpasst hat, d.h. was nötig wäre, um über Gott schlechthin zu reden, und welche Einsichten gewonnen werden könnten, wenn man die Wissenschaft und das Außerweltliche vernünftig in Beziehung zueinander setzte.
3. Wie man über Gott reden kann
Zu allen Zeiten hat es Menschen gegeben, die über eine "Begegnung" mit dem Außerweltlichen berichtet oder auf andere Weise eine Einsicht in die Grundverfassung ihrer Existenz gewonnen haben. Entsprechende Äußerungen von diesen Menschen, oder diesen Menschen zugeschriebene Äußerungen, sind seit langem in den Referenzbüchern religiöser Organisationen zugänglich, z.B. in der Bibel. Wie wir oben festgestellt haben, können diese Äußerungen nicht als Aussagen aufgefasst werden. Diese Menschen haben die einzig mögliche Alternative gewählt: etwas annähernd zu beschreiben oder annähernd darauf zu zeigen und damit den Blick der Adressaten auf dieses "etwas" zu lenken – und wir sollen nun sehen, was sie uns kommunizieren wollen. Wenn man solche Texte wie Aussagen auffasst, dann können sie nur als religiöser Unsinn erscheinen. Ohne eine gewisse existenzielle Kompetenz kann man sie nicht als gültige Äußerungen über das Außerweltliche oder über die Grundverfassung der menschlichen Existenz erkennen oder gar verstehen.
Religiöse Organisationen besitzen diese Texte, aber sie werden aus den obigen Gründen nicht offiziell dazu beitragen, die besagten Äußerungen ausfindig zu machen und korrekt zu interpretieren. Deshalb sind unsere persönliche religiöse Autonomie und unsere persönliche existenzielle Kompetenz gefordert. Privat sind wir frei, sie zu erwerben oder auf sie zu verzichten. Aber wenn jemand öffentlich über Gott schreiben und dabei wissenschaftliche Argumente ins Spiel bringen will, dann kann er nicht hoffen etwas Finales hervorzubringen, ohne die Fähigkeit zu sehen, was solche Äußerungen bedeuten, und ohne beurteilen zu können, ob sie authentisch und wahrhaftig sind.
4. Was in Dawkins' Buch fehlt
Was die Einsichten betrifft, die man gewinnen kann, wenn man die Wissenschaft und das Außerweltliche vernünftig in Beziehung zueinander setzt, so kommen wir nicht umhin, Dawkins Buch Kapitel für Kapitel mit hinreichender existenzieller Kompetenz durchzugehen.
Die ersten Schritte, sich mit "annähernd zeigendem Text" vertraut zu machen, können einige Schwierigkeiten machen, und diese könnten das Verstehen dieser Buchkritik blockieren. Daher sehen wir uns besser ein paar Beispiele an, und dabei sollten wir nebenher überlegen, wie man hoffen kann, mit der Frage nach Gott umgehen zu können, ohne diese Beispiele voll verstanden zu haben.
Was meint der Autor der Genesis mit dem Ausdruck " Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn"? – Er liest sich wie eine ruhige und wissend kalkulierte Äußerung über die menschliche Existenz, überhaupt nicht wie etwas Wahnhaftes. Er preist Gott weder übermäßig an, noch macht er Konzessionen an das Verständnis der Leser. Die erste Regel zum Umgang mit annähernd zeigendem Text ist folgende: Wenn der Text nicht ohnehin damit beginnt, dann stelle man ihm die Klausel "es ist, wie wenn" voran. In unserem Beispiel bekommen wir so den Text: "Es ist, wie wenn Gott den Menschen zu seinem Bilde geschaffen hat", und dann mag man sich als Leser fragen: Was an mir selbst kann ich so sehen, wie wenn es göttlich wäre? Was als das Bild?
Was meint Jesus mit seiner Rede: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht"? – Wahn oder Einsicht? Die gängige christliche Lehre behauptet, dass die Bibel das Wort Gottes sei, mehr oder weniger direkt, zumindest durch Inspiration. Solche Behauptungen sind Aussagen über das Außerweltliche – in diesem Fall setzen sie das Außerweltliche, Gott, in Relation zur Bibel bzw. zu den Texten darin, die ja eindeutig innerweltliche Objekte sind. Wie wir oben dargelegt haben, sind solche Aussagen nichtig. Der Leser sollte sich besser fragen: Was macht eigentlich mein Leben aus, nicht nur körperlich und mental, sondern abstrakter, im weitesten, existenziellen Sinne? Was davon könnte so gesehen werden, wie wenn es eine Äußerung wäre von "einer Quelle" ganz außerhalb meines Leben?
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Sollte jetzt jemand an den "Film in seinem oder ihrem Kopf" denken, dann wäre das hilfreich. Man stelle sich vor, man spielt in einer virtuellen Realität, man versteht die virtuelle Welt, steuert seine Spielfigur, man beobachtet, entscheidet, handelt, usw. Dies ist offensichtlich eine Analogie zur realen Welt, in der wir leben, d.h. verstehen, handeln, etc. Diese Analogie ist von begrenzter Qualität: In der virtuellen Realität gibt es Bildschirme, Lautsprecher, Kopfhörer, usw., die uns etwas wahrnehmen lassen, und Tastaturen, Joysticks, Sensor-Handschuhe, usw., die uns agieren lassen. In der realen Realität ist nichts dergleichen erforderlich, da ist nur der "interaktive" Film, und wir empfangen ihn und handeln in ihm ohne Zwischenmedium.
Wir können also sagen, dass unser Leben wie eine virtuelle Realität ist, nur mit einer viel reicheren realen Welt und so, dass unser Umgang darin absolut direkt ist. – Dies ist moderne annähernd zeigende Rede über unsere Existenz. Wenn wir die Analogie einen Schritt weiter fortsetzen, dann wird die Beziehung zu den obigen beiden annähernd zeigenden Texten aus der Bibel sichtbar.
In der virtuellen Realität spielt der Spieler – anders als seine Spielfigur – von außerhalb der virtuellen Welt. In der realen Realität ist es dementsprechend, wie wenn der Spieler, das eigentliche Selbst der Person, von außerhalb der realen Welt spielt. Auch ist es, wie in der virtuellen Welt, nicht der Spieler, der den interaktiven Film und seine Inhalte produziert. Es ist, wie wenn diese von außerhalb der Welt stammen – produziert von einer anderen Instanz als dem eigentlichen Selbst des Spielers.
Das bedeutet, dass wir drei Dinge als extern zu unserer (realen) Welt und damit als göttlich in den Blick bekommen können: unser eigentliches Selbst, die Schaffung des Reale-Welt-Films und seinen Schöpfer. Da aber, wie wir oben bemerkt haben, das Außerweltliche keine Struktur haben kann, dürfen wir das so Erblickte nicht unterscheiden, sondern müssen sie als drei verschiedene Sichten auf ein und dasselbe Außerweltliche auffassen. Dies rechtfertigt aber nun gewiss, vom eigentlichen Selbst annähernd als "göttlich" und als "Bild Gottes" zu reden, oder wie später Jesus vom eigentlichen Selbst als vom "Sohn Gottes" zu reden.
Die Schöpfung unserer realen Welt, ihrer "Kulissen", Anblicke, Ereignisse, Reaktionen ist stetig und "live". Wenn unser individuelles Leben aus der Dynamik unserer individuellen Welt besteht und auf diese Weise vom Außerweltlichen her "live" geschaffen wird, dann wird verständlich, dass unser Leben wie eine Folge von Artikulationen, Äußerungen des Außerweltlichen ist, also wie "Worte von Gott". Dieselbe Annäherung bietet bereits die Genesis, die sagt, dass die Welt und ihre Inhalte geschaffen werden, indem Gott spricht.
Man beachte hier wieder, dass man diese Ableitungen gänzlich vollziehen kann, ohne das Wort "Gott" zu benutzen. Wir haben nichts weiter getan als von den Interna der Welt zu abstrahieren und unsere – wenn man so will – nackte Existenz in den Blick zu bekommen, d.h. alles außer diesen Interna der Welt. Und wir haben gesehen, wie unsere annähernde Sicht zwei rätselhafte Bibelzitate klärt, was auch zeigt, dass schon die antiken Autoren über diese selbe Sicht verfügten.
Dies sollte hoffentlich für einen ersten Eindruck davon genügen, wie man mit Annäherungen an das Außerweltliche zurechtkommen kann. Alles, was über Gott und unsere Existenz gesagt werden kann, ist in dieser Art verbaler Allegorie gesagt oder geschrieben worden, allerdings vorwiegend mit altertümlichen Worten und in altertümlichen Zusammenhängen. Es ist vielleicht auch manifest geworden, dass man die Autoren alter, annähernd zeigender Texte nicht so einfach als irrational abqualifizieren kann. Es hat keinen Sinn für oder gegen ihre Texte zu argumentieren: die Frage ist schlicht, ob man das sehen kann oder nicht sehen kann, worauf sie zeigen wollen.
Was normalerweise so eine Sicht blockiert, sind die reichen Innen- und Außenwelten, in denen wir alle leben, mit all ihren Objekten, Mustern und Abläufen von Ereignissen und Gedanken. Wir müssen sie aus dem Weg schaffen und uns von unserer gewohnten Umgangsweise mit ihnen frei machen, wenn wir einen auch nur relativ freien Blick auf uns selbst und unser Sein erreichen wollen. Das ist tatsächlich möglich, wie wir gerade vorgeführt haben, und es ist unabhängig von jeglichem "Glauben". –
Damit stehen uns nun die Spezialwerkzeuge zur Verfügung, die wir für diese Buchkritik benötigen: das Zweite Gebot, und die Fähigkeit unseren Blick auf unsere Existenz zu richten und das Gesehene in annähernd zeigender Rede auszudrücken.
In seinem Vorwort zeigt Dawkins – leicht voreingenommen – auf die Fülle des Übels, das mit Religion in Verbindung gebracht worden ist und weiter wird. Statt in irritierenden religiösen Konventionen zu versacken, sollte man nach seinem Vorschlag besser ein glücklicher, ausgeglichener, moralischer und intellektuell erfüllter Atheist werden. Und er ermuntert Agnostiker und Atheisten, mit ihrer Position nicht hinter dem Berge zu halten, sondern sie offen zu vertreten.
Das ist alles legitim, und man kann wenig dagegen sagen, solange die Übernahme von agnostischen und atheistischen Positionen nicht als das Universalheilmittel zur Besserung der Welt verkauft wird.
Unglücklicherweise gebraucht Dawkins das Wort Religion in der üblichen, unreflektierten Weise, ohne Unterscheidung seiner drei Bedeutungen:
- echte, eigentliche Religion – die Bindung von Menschen an etwas –,
- ein religiöses Lehrsystem, und
- eine religiöse Organisation.
Dieses Niveau von Präzision dürfte wohl nicht ausreichen, um darauf wissenschaftliche oder auch nur rational glaubwürdige Argumente aufzubauen.
Wenn Dawkins die Bedeutungen des Wortes Religion besser auseinander halten würde, dann könnte er sehen, dass sein Vorschlag nicht ohne gleichwertige Alternative ist. Die Irritationen und Verhaltensweisen religiöser Organisationen mögen Menschen dazu bringen Agnostiker und Atheisten zu werden. Sie können aber ebenso viele Menschen dazu bringen, selbst und mit gleicher Autonomie nach dem Göttlichen und der eigentlichen Religion zu suchen. Ihr Erfolg ist genauso offen wie der Erfolg der Agnostiker und Atheisten.
Dawkins definiert hier seine Position als Atheist und stellt sie zwei anderen Positionen gegenüber: der Position des Theisten, nach der ein übernatürlicher Schöpfer das Universum geschaffen hat und es weiterhin betreut und beeinflusst, und der Position des Pantheisten, nach der Gott in der Natur und in den Naturgesetzen ist.
Während er den "interventionistischen", Wunder fabrizierenden, Gedanken lesenden, Sünden bestrafenden, Gebete beantwortenden Gott der Theisten entschieden ablehnt, erkennt er in gewissem Umfang einen Gott an, der hinter der Natur steht.
Er bringt einen höchst bemerkenswerten Satz von Einstein:
Zu
sehen, dass hinter allem, was erfahrbar ist,
noch etwas ist, das unser Verstand nicht erfassen kann
… das ist Religiosität.
[Wir weichen hier von der deutschen Fassung von Dawkins' Buch ab. In der englischen Fassung lautet die Stelle: "To sense that behind anything that can be experienced there is a something that our mind cannot grasp … this is religiousness".]
Dawkins teilt diese Position mit dem Vorbehalt, dass "nicht erfassen kann" nicht bedeutet "für alle Zeiten nicht erfassen kann": er akzeptiert den Gedanken der Übernatürlichkeit nicht.
Hier ist der Punkt, an dem Dawkins in seiner Entschlossenheit die Theisten zu attackieren, die Chance vergibt, eine bestmögliche Definition Gottes zu diskutieren und auszuwählen. Stattdessen nimmt er, was die Theisten ihm anbieten. Die Folge ist, dass er zeigen kann, dass die Theisten in der Tat ein Wahnbild von Gott präsentieren, aber er kann nicht ausschließen – und bemerkt dieses Defizit nicht einmal –, dass ein besser definierter Gott, zum Beispiel das "etwas" von Einstein, möglich wäre.
Positiv ausgedrückt, glaubt ein Atheist nach Dawkins, dass es außerhalb der natürlichen, physikalischen Welt nichts gibt – außer natürliche Phänomene, die wir noch nicht verstehen, aber künftig zu verstehen und in die Ordnung der Natur einzufügen hoffen. Er zitiert Julian Baggini mit der Aussage: "obwohl es im Universum nur eine Art von Material gibt, und zwar das physikalische, bringt es doch Geist, Schönheit, Emotionen, moralische Werte hervor …"; und er zitiert Darwin, dass alles "von den Gesetzen erzeugt wurde, die in dem Raum um uns herum wirken".
Zu vieles geht hier unhinterfragt durch: Wer in aller Welt kann garantieren, dass auch nur eines der "Gesetze" morgen noch gültig ist? Gibt es einen entsprechenden Beweis von einem Wissenschaftler? Welches Phänomen in der Welt ist oder wurde von welchem "Gesetz" erzeugt, angesichts des Umstands, dass wir nichts Anderes erfahren können als Phänomene, und dass wir unsere "Gesetze" von diesen Phänomenen und den von uns bemerkten Regelmäßigkeiten ableiten? Wer in aller Welt bewirkt die Instanziierung der "Gesetze", d.h. wer setzt die Werte in die Variablen ein, die Gegenstand der "Gesetze" sind? Wir haben zum Beispiel "Gesetze", die die Entstehung und die Bewegung der Planeten beschreiben, aber warum haben wir gerade diese Planeten auf diesen Umlaufbahnen? (Dawkins erwähnt diese Frage weiter unter selbst, in dem Abschnitt über NOMA). Warum verstehen wir plötzlich etwas, das wir bis dahin nicht verstanden haben, ja von dem wir eventuell nicht einmal gesehen haben, dass es da etwas zu verstehen gibt? Warum sollte es dann nicht auch ein "Gesetz" geben, nach dem bestimmte Entitäten einerseits eine Wirkung auf uns haben können, während wir sie andererseits prinzipiell nicht verstehen können?
Mit allem Respekt vor der Großartigkeit des physikalischen Universums, kann man sich doch vor Augen führen, dass es nur eine Welt ist, noch dazu eine nicht gerade besonders große unter den vielen Welten, die sich die Menschheit ansonsten erschlossen hat, immer weiter und neu erschließt und so hinzufügt zu dem "strukturierten Gebilde aus allen Dingen und Zusammenhängen, die Menschen prinzipiell überhaupt verstehen können". Dies sei unsere Arbeitsdefinition des Begriffes "die Welt".
Nehmen wir ein beliebiges Beispiel, etwas eines aus der folgenden Liste: die Welt der Mode, die Welt der Finanzen, die Welt der Fotografie, die Welt des Bergbaus, die Welt des Rechts, u.a.m. Man kann dann die gewählte Beispielwelt als Gebilde aus lauter Atomen auffassen und ihre Gegenwart mit genetischer Evolution erklären, aber es ist ein langer Weg, bis diese Beschreibungen einem erfahrenen Insider etwas geben könnten, mit dem er seine Meisterschaft in dieser seiner Welt steigern könnte. Und man sollte nicht vergessen, dass das physikalische Universum überwiegend aus mentalen Objekten besteht: uns begegnen Leute, Stühle, Tische, Häuser, Straßen, Wasser, die Sonne, Sterne, ad inf., aber niemandem ist außerhalb der mentalen Welt je ein Elektron begegnet, oder ein Quasar oder ein Gen. Nicht dass die mentalen Welten weniger real wären – wir nehmen unsere Gedanken als absolut real – aber es gibt einen offenbaren Unterschied zwischen dem Fliegen und der Vorstellung zu fliegen – wie intensiv auch immer sie sei. Die Vorstellung kann eine Illusion sein.
Wenn man die überwältigende Fülle und Reichhaltigkeit der Welt in Betracht zieht, die weit über die Welt der Wissenschaft hinausreicht, dann genügt Dawkins' Begriff des Übernatürlichen nicht, um Gott von der Realität abzuheben. Kein Begriff, der schwächer ist als "außerhalb der Welt", würde dies leisten.
Zwei Anmerkungen sind noch angebracht, da Dawkins die betreffenden Themen in diesem Abschnitt anschneidet. Die eine betrifft die Verletzung der religiösen Gefühle von Menschen. Es ist zwar nicht klug, die Gefühle anderer Menschen zu verletzen, aber man muss von den Menschen erwarten können, dass sie ohne negative Gefühle Meinungsäußerungen gelten lassen, die von ihren eigenen Ansichten abweichen oder ihnen entgegenstehen. Und wir müssen hinzufügen, dass eigentliche Religion mit dem Absoluten zu tun hat, und dass innerweltliche Phänomene, zum Beispiel Gefühle, damit nichts zu tun haben können. "Religiöse Gefühle" sind ein Widerspruch in sich, und auf "religiösen Gefühlen" zu bestehen, ist schlicht falsche Religion. Menschen, die nichtigen religiösen Lehren anhängen – insbesondere Lehren, die Aussagen über Gott machen – haben keine weitergehenden Rechte auf Respektierung ihrer Gefühle als alle anderen Menschen.
Weiterhin stellt Dawkins die Frage nach der theologischen Ausbildung und dem religiösen Fachwissen in den Raum. Er zitiert einen römisch-katholischen Bischof, der Einstein als theologisch ungebildet abqualifiziert. Das ist eine typische Reaktion religiöser Lehrer und Führer, die niemals auch nur die geringste eigene Erfahrung mit Gott hatten, gegenüber Menschen, die religiös autonom sind und Gott selbst suchen und finden. Es gibt zwei Arten von religiöser Kompetenz. Die eine umfasst die riesigen Komplexe von Aussagen über Gott und das Göttliche, errichtet und verfeinert von den religiösen Eliten über die Jahrtausende. Dies stellt eine große Menge Wissen dar, hat aber eine Eigengesetzlichkeit entwickelt, sich von Gott abgelöst und nichts mit Gott zu tun. Die andere Art von religiöser Kompetenz betrifft das direkte Verhältnis zu Gott, sie steht im Prinzip jedermann zur Verfügung. Man kann sie auf die harte Tour erlangen, wenn einen das Schicksal ernsthaft schlägt; oder auf schmerzlose Weise von Menschen mit einer direkten Gotteserfahrung, die in der Lage sind annähernd zu zeigen, wo und wie man Gott in den Blick bekommen kann. Ohne diese zweite Art von Kompetenz kann man zwar religiösen Unsinn bloßstellen, aber unmöglich gute religiöse Texte erkennen und verstehen, wie zum Beispiel Einsteins obigen Text.
Man beachte auch, dass es für die religiöse Qualität eines Textes völlig irrelevant ist, ob der Autor die Existenz Gottes behauptet oder negiert, denn diese Aussagen sind ohnehin nichtig. Der vorige Absatz erklärt, warum es in der Tat eine vernünftige und keineswegs paradoxe Position ist, "Ein tief religiöser Ungläubiger" zu sein, d.h. eine religiöse Person, die entschieden nicht an offizielle religiöse Aussagen glaubt.
–
In diesem Abschnitt haben wir Anzeichen dafür gefunden, dass Dawkins' unhinterfragte Vorstellungen von der Welt und ihren Gesetzen möglicherweise fehlerhaft sind. Wir werden das weiter unten noch genau untersuchen.
Hier nun greift Dawkins die nachhaltigen öffentlichen Privilegien der Religionsgemeinschaften an: dass man ihnen gestattet Tabus durchzusetzen, dass ihnen höhere moralische Autorität zugestanden wird, dass ihnen gesetzliche Privilegien bis hin zum gesetzlichem Ausnahmestatus gewährt werden, und dass die Gesellschaft generell religiöse Privilegien ohne weiteres respektiert. Eine gewichtige Auslassung in dieser Liste ist das Privileg der unangefochtenen Autorität, Gott zu definieren.
In der Folge behandelt Dawkins auch die dänische Cartoon-Affäre vom Februar 2006.
Was hat all dies mit dem Anspruch zu tun, dass es keinen übernatürlichen Gott geben soll? Die religiösen Organisationen mögen zwar das Gegenteil suggerieren und vorgeben, aber keines dieser Privilegien kann in irgendeiner Weise von Gott abgeleitet werden. Unabhängig davon, ob es das Außerweltliche nun irgendwie gibt oder nicht, sind Aussagen, die das Außerweltliche mit Autorität, Privilegien oder Respekt in der Welt in Verbindung bringen, nichtig und verletzen das Zweite Gebot.
Dawkins hat recht: religiöse Organisationen müssen ihre öffentlichen Positionen genau so erarbeiten und immer wieder neu verdienen wie alle anderen Organisationen auch.
Aber es gilt auch, dass ihnen die Autorität, Gott zu definieren, überhaupt nicht zusteht.
Dawkins beginnt dieses Kapitel mit einigen Auslassungen über den unangenehmen Charakter des alttestamentarischen Gottes und über den anderweitig unangenehmen Charakter des "sanften und milden Jesus".
Alles, was zu Aussagen und Gegenaussagen mit Bezug auf Gott zu sagen ist, haben wir schon gesagt.
Was Jesus betrifft, so sollte man sehen, dass er ein Mann mit hoher existenzieller Kompetenz war – wie wir ja schon an einem Beispiel feststellen konnten – und dass er sehr produktiv und geschickt darin war, die Grundlagen unserer Existenz aufzuzeigen. Dass er das in Form von Gleichnissen getan hat, beweist, dass er die ursprüngliche Bedeutung des Zweiten Gebots noch gekannt hat und wusste, wie man korrekt vom Absoluten redet. Er hat in seinen Reden das religiöse Establishment seiner Zeit wütend angegriffen, und zwar gerade deshalb, weil es eine "Aussagen-Gott"-Infrastruktur errichtet hatte und verteidigte, anstatt die Menschen wirklich zu Gott zu führen. Christliche Gemeinschaften und Kirchen haben bald nach seinem Tod begonnen, ihn als den "ersten und einzigen Sohn Gottes" in ihre "Aussagen-Gott"-Infrastruktur zu integrieren. –
Dawkins formuliert dann seine (erste) Gott-Hypothese sowie die alternative Sicht, die er vertritt.
Gott-Hypothese: Es gibt ein übermenschliches, übernatürliches intelligentes Seiendes, das das Universum und alles, was darin ist, einschließlich unserer selbst, planvoll entworfen und erschaffen hat.
Dawkins' Position: Ein jegliches schöpferisches, intelligentes Seiendes, das komplex genug ist überhaupt etwas zu entwerfen, entsteht ausschließlich als Endprodukt eines ausgedehnten Prozesses allmählicher Weiterentwicklungen.
Diese letztere Position ist daraufhin angelegt, im Rahmen der Fakten in der Welt zu bleiben, und dies entscheidet über ihre Wahrheit: Sie unterliegt den normalen Wahrheitskriterien in der Welt einschließlich der Wahrheitskriterien der Wissenschaft. Wir sollten dazu hier festhalten, dass sich heute über Intelligenz bestenfalls sagen lässt, dass eine allgemeine Definition wahrscheinlich unmöglich ist. Außerdem dürfte es hier wohl Probleme mit der Genauigkeit der Begriffe schaffen und entwerfen geben. Ein Mensch mag in der Lage sein, sagen wir, eine Hausfliege bis zu einem gewissen Detaillierungsgrad zu entwerfen, aber es ist schwierig zu sehen, wie ein Mensch oder ein evolutionärer Nachfolger, fähig sein könnte eine Hausfliege zu schaffen, d.h. aus dem Nichts, nicht einmal aus dem Material, das im Universum zur Verfügung steht.
Die Gott-Hypothese mag eine korrekte Zusammenfassung der besten Beiträge sein, die man dazu von den Theisten bekommen kann, aber sie ist keineswegs klar: Warum die Wiederholung des Präfixes "über"? Ist sie nur erklärend gemeint, oder steht dahinter ein Begriff von einem Wesen, das entweder übermenschlich aber nicht übernatürlich ist oder umgekehrt? Welche Definition von Intelligenz ist zu Grunde gelegt? Warum die Vergangenheitsform " entworfen und erschaffen hat"? Soll das heißen, das Schöpferwesen sei übermenschlich und übernatürlich, aber nicht überzeitlich?
Dawkins' Position reicht nicht über die Welt hinaus. Sie kann möglicherweise der Gott-Hypothese in seiner Formulierung widersprechen. Allerdings hat es wenig Wert, den Nachweis zu erbringen, dass es keinen innerweltlichen Gott gibt.
In diesen zwei Abschnitten macht Dawkins die Absurditäten und Scheußlichkeiten der polytheistischen und monotheistischen Lehren und Organisationen lächerlich.
Wir können hier einfach wieder auf das Zweite Gebot zurückkommen, nach dem Aussagen über das Außerweltliche, insbesondere über Strukturen mit dem oder innerhalb des Außerweltlichen nicht möglich sind. Daher sind alle Kollektive und Hierarchien von Göttern, Engeln, Heiligen usw. sowie alle innerweltlichen Gesetze und Vorschriften, die auf ihnen basieren, grundsätzlich nichtig.
Dawkins steht dieses Argument nicht zur Verfügung, und so ist seine einzige Waffe gegen die "charakteristische, aufklärungsfeindliche Anmutung der Theologie, die sich … in achtzehn Jahrhunderten nicht bewegt hat" mit allen ihren "unverständlichen Positionen", diese Theologie lächerlich zu machen. Und das kann natürlich bei Weitem nicht zu einem endgültigen Urteil führen.
Die "achtzehn Jahrhunderte" sollten uns doppelt zu denken geben. Über die Jahrhunderte sind nicht alle Menschen dumm gewesen, auch nicht die religiösen Denker und Führer. Wir müssen deshalb annehmen, dass es zu allen Zeiten Menschen gegeben hat, die verstanden haben, was mit den religiösen Lehren nicht stimmt. Diese Lehren haben trotzdem überlebt. Offensichtlich bekämpft man in der mangelnden Logik und Konsistenz dieser Lehren nur die Symptome einer tiefer liegenden Ursache. Es kann also sein, dass Wissenschaft hier letztlich nicht helfen kann, und das ist sehr ernst.
Wir haben zuvor schon darauf hingewiesen, dass die universale Furcht vor der Konfrontation mit der nackten Existenz eine mögliche Wurzel verdrehter Theologie ist, und wir haben den Umstand erwähnt, dass wahre existenzielle Äußerungen auch wie Unsinn aussehen. Man kann daher die Konfrontation mit den existenziellen Äußerungen einfach dadurch vermeiden, dass man sie tief unter einem großen Haufen echten Unsinns versteckt. Wenn diese Diagnose richtig ist, dann ist der einzige, möglicherweise hilfreiche Ansatz, die guten religiösen Texte unter dem Haufen wieder hervor zu ziehen und ihre Botschaft zu entschlüsseln: dass an der Existenz nichts zu fürchten ist.
Nichts in der Welt – und keine von Dawkins' Attacken – wird je unsinnige Religion besiegen, bevor diese Furcht aufgehoben ist. Aber, wir haben in dieser Kritik ja weiter oben bereits festgestellt, dass am Außerweltlichen nichts zu fürchten ist, weil dies eine nichtige Aussage wäre. Furcht ist ein innerweltliches Phänomen und kann mit dem Außerweltlichen nicht in Verbindung gebracht werden.
Dieser Abschnitt behandelt die Geschichte des Atheismus in den Vereinigten Staaten und enthält nichts, was für die Diskussion der Korrektheit gewisser Wissenschaftspositionen von Belang wäre.
Nachdem er zwei Typen des Agnostizismus unterschieden hat, bringt Dawkins die Relevanz der Wahrscheinlichkeit ins Spiel, wenn es darum geht zu entscheiden, ob es Gott gibt oder nicht. Sehen wir uns Dawkins' eigene Worte an:
"Entweder es gibt ihn [Gott] oder es gibt ihn nicht. Das ist eine wissenschaftliche Frage; eines Tages werden wir vielleicht die Antwort wissen, und in der Zwischenzeit können wir ziemlich starke Aussagen über die Wahrscheinlichkeit machen."
"Gottes Sein oder Nichtsein ist eine wissenschaftliche Erkenntnis über das Universum, die sich jedenfalls im Prinzip gewinnen lässt, wenn nicht gar in der Praxis. Wenn es ihn gäbe und er sich entschlösse, das zu erkennen zu geben, dann könnte Gott die Debatte unüberhörbar und eindeutig zu seinen Gunsten entscheiden. Und selbst wenn Gottes Sein niemals mit Sicherheit bewiesen oder widerlegt wird, so könnten doch die verfügbaren Anhaltspunkte eine Abschätzung der Wahrscheinlichkeit ergeben, die weit von 50 Prozent entfernt ist."
"Dass man Gottes Nichtsein nicht beweisen kann ist akzeptiert und trivial, zumindest in dem Sinne, dass man das Nichtsein von etwas nie absolut sicher beweisen kann. Was zählt, ist nicht, ob Gott widerlegbar ist (er ist es nicht), sondern ob sein Sein wahrscheinlich ist. … Es gibt keinen Grund Gott als immun gegen Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen anzusehen …" –
Überblicken wir an dieser Stelle die Situation: Dawkins bietet keine wissenschaftliche Definition Gottes, behauptet aber dass es eine wissenschaftliche Frage sei, ob es ihn gibt oder nicht. Er hat weiter oben eine Gott-Hypothese vorgelegt, die von einer übermenschlichen, übernatürlichen Intelligenz spricht, und nun sagt er, dass ihr Sein oder Nichtsein eine wissenschaftliche Erkenntnis über das Universum sei. Übernatürlich, aber nicht über dem Sein des Universums?
Wir müssen also auf das Zweite Gebot zurückkommen: Entweder soll Gott ein Objekt in der Welt sein; dann kann man alle obigen Betrachtungen anstellen, einschließlich derer, was Gott zu erkennen geben kann und wogegen er nicht immun ist. Dann wäre die erste Aufgabe, die Beziehung zwischen "übernatürlich" und "außerweltlich" zu klären. Oder Gott soll etwas außerhalb der Welt sein; dann sind Dawkins' obige Betrachtungen alle nichtig.
Was können wir aus diesem Abschnitt von Dawkins' Buch ableiten? Dass ihm das Zweite Gebot als Filter für seine Behauptungen ernstlich fehlt.
Interessanterweise zählt er sieben Stufen des Glaubens an das Sein Gottes auf, vom Wissen, dass es Gott gibt, bis zum Wissen, dass es Gott nicht gibt. Dawkins meint, dass die erstere Stufe – zu wissen, dass es Gott gibt – gut besetzt ist mit Menschen, die zu übermäßiger Hingabe tendieren und deren Verstand von ihrem Glauben dominiert ist, aber er schließt nicht ausdrücklich aus, dass es einige wenige vernünftige Leute auf dieser Stufe gibt. Erörtern wir daher, wie Menschen möglicherweise dazu kommen können, dass sie von Gott wissen. Offenbar durch eine unzweideutige, eigene Erfahrung:
Wenn das Außerweltliche wirklich als etwas Unfassliches und außerhalb der Welt gemeint ist, dann kann eine Erfahrung dieses Außerweltlichen nicht die Wahrnehmung einer Realität sein, sie kann nicht durch innerweltliche Phänomene vermittelt werden, und nicht durch Gefühle oder Visionen. All das wäre fasslich – und mehrdeutig. Die einzige Möglichkeit ist, dass etwas uns auf eine völlig andere Weise berührt als die Realität, auf eine Weise, die wir hinterher als absolut charakterisieren würden, als unzweideutig, mit nichts zu vergleichen und unbeantwortbar, und dass wir so unmittelbar wüssten, was es war. Von diesem Effekt wird zwar nicht besonders häufig berichtet, aber von Menschen auf allen Stufen des Glaubens. Es ist unausweichlich, dass die Betroffenen danach über alle Vorstellungskraft hinaus beeindruckt sind und ihnen die Worte fehlen, um die Erfahrung zu beschreiben. Menschen, die umfassende und genaue Berichte darüber abgeben und dabei auf den Details bestehen, wie es die Vertreter eines "Aussagen-Gottes" ja auch tun, können eine solche Erfahrung definitiv nicht gehabt haben.
Aus dieser Sicht ist das Sein des wahren Gottes eine Angelegenheit seltener Erfahrungen – "selten": möglicherweise eben wegen der allgemein verbreiteten Gottvermeidung. Aber die Wahrscheinlichkeit solcher Erfahrungen spielt keine Rolle.
NOMA steht für "non-overlapping magisteria": überlappungsfreie Zuständigkeitsbereiche. Das Thema dieses Abschnitts ist die Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Religion. Dawkins stellt ein Umfeld dar, in dem alles nur aus Übergriffen und Grenzkämpfen besteht. Die politische und taktische Dynamik mag an sich interessant sein, aber hinsichtlich einer vernünftigen und logischen Abgrenzung ist sie ziemlich uninteressant.
Das Zweite Gebot klärt die Situation sofort: Aussagen über Gott sind nichtig. Entweder man kommuniziert über den wahren Gott oder man macht Aussagen. Sobald religiöse Lehren auf Aussagen aus sind, geraten sie in das Revier der Realität, und dort gelten die Wahrheitskriterien der Realität. Das wohlbekannte Ergebnis der Anwendung dieser Kriterien ist, dass "religiöse" Ansätze zur Erklärung der Realität höchst ineffektiv und daher von minimalem Nutzen sind.
Dawkins führt als Beispiele die Fragen an, ob Jesus einen Menschen als Vater hatte oder ob seine Mutter bei seiner Geburt jungfräulich war, ob Jesus tatsächlich Lazarus vom Tod erweckt hat, und ob Jesus drei Tage nach seiner Kreuzigung wieder zum Leben gekommen ist. Er beschränkt sich darauf festzustellen, dass diese Fragen wissenschaftliche Antworten haben. Wir fügen hinzu, dass es lange vor den wissenschaftlichen Antworten schon Antworten auf der Basis des über Menschheits-Jahrtausende hin bewährten Verständnisses von der Realität gegeben hat: wenige Menschen würden (in einer Situation, in der sie keine Rücksichten nehmen müssen) bestätigen, dass die Antworten positiv und relevant wären.
Kehren wir unmittelbar zum Zweck dieses Buchs zurück, nämlich Dawkins' Material zur Klärung der Beziehungen zwischen Atheismus und eigentlicher Religion zu benutzen, und begutachten wir in diesem Sinne die Hauptpunkte dieses Abschnitts.
1. Können die Frage nach Gott und das Thema der Aufsicht Gottes über die Natur von der Wissenschaft entschieden werden?
Bevor wir eine Antwort erarbeiten, müssen wir festhalten, dass Dawkins in diesem Abschnitt stillschweigend eine Änderung der Gott-Hypothese einführt: "die Realität, in der wir leben, enthält auch einen übernatürlichen Agenten, der das Universum entworfen hat und es – jedenfalls in vielen Versionen der Hypothese – … unterhält, und sogar mit Wundern darin eingreift, die seine ansonsten großartigen, unveränderlichen Gesetze zeitweise verletzen". Zum Vergleich die Version vom Anfang von Kapitel 2: "Es gibt ein übermenschliches, übernatürliches intelligentes Seiendes, das das Universum und alles, was darin ist, einschließlich unserer selbst, planvoll entworfen und erschaffen hat".
Dawkins ersetzt hier "intelligentes Seiendes" [intelligence] durch "Agent" sowie "Universum" durch "Realität", nachdem er schon anfangs die Beziehung zwischen "Universum" und "Natur" undefiniert gelassen hatte. Das kann einem Leser durchaus Schwierigkeiten bereiten. Spielt die Wahl der Begriffe hier keine Rolle? – Allerdings genügt es für die Zwecke dieses Buchs zu sagen – und man ist damit wohl auf der sicheren Seite –, dass Dawkins den Gott der Gott-Hypothese im Bereich der Wissenschaft eingeordnet sehen will.
Wir haben schon bekräftigt, dass auf Gott bezogene Aussagen nichtig sind, und dies gilt unabhängig davon, ob solche Aussagen in religiösen Lehren oder wissenschaftsbasierten Erörterungen vorkommen. Wenn Aussagen sich auf Gott beziehen, dann kann der Gott darin nicht der echte Gott sein sondern muss ein fiktives Objekt in der Welt sein, das wir zuvor schon als "Aussagen-Gott" bezeichnet haben. Was einen solchen Aussagen-Gott betrifft, so können religiöse Lehren ihm Attribute zusprechen und ihn mit irgendwelchen Objekten und Effekten in der Welt in Beziehung setzen, aber wenn die Wissenschaft zeigt, dass sie falsch sind, dann ist dieses Urteil das, was zählt.
Wenn andererseits über den echten Gott kommuniziert wird, dann ist alles, was gesagt werden kann: "Es ist, wie wenn …", z.B.: "Es ist, wie wenn die Welt von etwas Außerweltlichem geschaffen ist", und wenn jemand das nicht so sieht, dann ist seine Sicht das, was zählt.
2. Wie können Kunst und Schönheit erklärt werden?
Dawkins zitiert Stephen Jay Gould mit der Behauptung, Kunst und "der Begriff der Schönheit" gehörten weder zum Bereich der Wissenschaft noch zum Bereich der Religion, geht aber darauf nicht weiter ein.
Klar ist, dass es eine Welt der Kunst gibt, die alle Kunstwerke umfasst, alle Künstler, den Kunstmarkt und den Kunsthandel, alle Institute und Fakultäten für Kunst, alle Kunstausstellungen, alle Kunstsammler, alle Kunstkritiker, und manches mehr. Manche dieser Bereiche der Welt der Kunst haben eine zugehörige Wissenschaft, und in den anderen könnte man im Prinzip auch Wissenschaftszweige aufmachen.
Wenn wir jetzt von Religion reden, meinen wir eigentliche Religion, d.h. die persönliche Bindung an das Außerweltliche, nicht religiöse Lehren und nicht religiöse Organisationen. Was ist der Einzugsbereich der eigentlichen Religion? In erster Linie alle Texte, die auf das Außerweltliche zeigen, oder allgemeiner: alle Kommunikation, die zur Bindung an das Außerweltliche verhelfen. Kunst kann das gelegentlich bewirken. Eine Person kann von einem Gemälde oder einer musikalischen Darbietung jenseits aller Worte betroffen sein, und diese Erfahrung kann über innerweltliche Schönheit hinausgehen und als absolut erscheinen.
Wir haben bei der Analogie mit der virtuellen Realität schon gesehen, dass das Außerweltliche zwar nicht begrifflich fassbar ist und daher keine Struktur haben kann, dass es aber trotzdem einerseits als Instanz gesehen werden kann, die den Film des Lebens produziert, andererseits als Instanz, die diesen Film wahrnimmt. Wie wenn das Außerweltliche verschiedene Ansichten zeigte – verschiedene Ansichten, wie sie sich gewöhnlich entlang der Achsen verschiedener Dimensionen zeigen. Im vorliegenden Fall haben wir die Dimensionen des Schöpfers und des Wahrnehmenden, aber es gibt weitere derartige Dimensionen: die Dimension der Liebe, der Intelligenz, der Qualität, der Schönheit. Solche irgendwie mit dem Außerweltlichen verbundenen Dimensionen sind in der Realität sehr schwer zu definieren, so schwer, dass man sie mit einigem Recht als undefinierbar und deshalb außerhalb des Bereichs der Wissenschaft klassifizieren kann. Andererseits machen sie ein so irritierendes religiöses Konzept wie die Dreieinigkeit ohne weiteres akzeptabel: drei unabhängige Sichten auf dasselbe strukturlose Außerweltliche, in Richtung von Sichtlinien, die verschiedene Dimensionen aufspannen.
3. Was ist eine "letzte Frage", und kann die Wissenschaft eine solche beantworten? Sind "warum überhaupt etwas existiert" und "was die Gleichungen mit Leben erfüllt und sie als realen Kosmos verwirklicht hat" letzte Fragen? Ist Quantentheorie eine letzte Frage, und wie könnte die Religion in der Lage sein sie zu beantworten?
Eine Frage über Fakten in der Welt ist einfach eine gewöhnliche Frage. Es kann keine letzte Frage über Fakten geben, weil die Welt immer weiter wächst und neue Welten erschlossen und erklärt werden. Vor ein paar Jahrzehnten hatten wir nicht: die Welten der Computer, der Mikrobiologie, der Pop-Musik, des Luftverkehrs, der Ökologie, der digitalen Fotografie, des elektronischen Geldes, der Transplantation von Körperteilen. Wir hatten noch keine driftenden Kontinente, keine DNA, keine Schwarzen Löcher, keine Laser, keine Halbleiter, keine Quarks, keine Synapsen, und wir hatten alle die Fragen nicht, die sie mit sich bringen. Wenn es um Fakten geht, dann ist eine Frage, die zu einer Zeit eine letzte Frage ist, in irgendeiner späteren Zeit eine Routinefrage – zumindest im Prinzip, da es ja keine Garantie gibt, dass die Wissenschaft jemals mit der Geschwindigkeit mitkommt, mit der die Menschheit sich neue Welten erschließt.
Eine echte "letzte Frage" wäre eine Frage, die über die Welt hinausgeht, nicht über die aktuelle Welt, sondern über die Welt, d.h. über alles hinaus, was im Prinzip begrifflich fassbar ist. Und wir wissen: die Antwort auf eine solche wirklich letzte Frage kann keine Aussage sein. Aber eine Antwort kann immer noch eine Analogie für ein unfassliches "Etwas" liefern, oder es umschreiben, oder in anderer Weise annähernd darauf zeigen. Und das ist Religion, wie wir sie einige Absätze weiter oben beschrieben haben.
Anhand dieser Unterscheidungen können wir die obigen Fragen mühelos einordnen: "warum überhaupt etwas existiert" und "was die Gleichungen mit Leben erfüllt und sie im realen Kosmos verwirklicht hat" sind letzte Fragen, und darauf gibt es keine Aussagen als Antworten und daher keine wissenschaftlichen Antworten. Quantentheorie ist keine letzte Frage, auch wenn es derzeit vielleicht so aussieht, und eine religiöse Antwort darauf ist unmöglich.
4. Was, wenn es so etwas überhaupt gibt, ist das "Fachgebiet" und was das Fachwissen der Theologen? Welche Fachkenntnisse, die ein Naturwissenschaftler nicht besitzt, können Theologen in Bezug auf tiefe kosmologische Fragen einbringen? Warum sind Naturwissenschaftler so voll kriecherischem Respekt vor den Ansprüchen der Theologen, und das in Fragen, zu deren Beantwortung die Theologen zweifellos nicht besser qualifiziert sind als die Naturwissenschaftler selbst?
Mit unseren vorangegangenen Betrachtungen haben wir die Antworten auf die ersten zwei Fragen schon gegeben bzw. vorbereitet. Es gibt einerseits ein Fachwissen von Theologen über alle Aussagen, die je schon über Gott gemacht worden sind. Andererseits gibt es das authentische religiöse Wissen von Menschen, die selbst eine Begegnung mit dem Außerweltlichen erlebt haben oder die die Kompetenz erworben haben, das Außerweltliche annähernd in den Blick zu bekommen und zu zeigen wie und wohin man dabei blicken muss. Wenn "tiefe Fragen" so gemeint sind, dass sie auf den Bereich der Naturwissenschaft oder speziell der Kosmologie beschränkt bleiben, dann kann man von beiden Arten religiösen Wissens keine Beiträge dazu erwarten.
Es sollte allerdings hier festgehalten werden, dass "tief" möglicherweise nicht der beste Ausdruck für Fragen an der vordersten Front der Wissenschaft ist. In Wirklichkeit baut ja die Wissenschaft mit neuen Theorien auf den Ergebnissen früherer Theorien auf und türmt so wachsende Strukturen von Wissen auf. Die bessere Analogie ist daher die von immer höheren Türmen von Theorien. Zweck dieser scheinbar geringfügigen Änderung der Perspektive ist es, den Turmbau-von-Babel-Charakter, nicht nur der Wissenschaft, sondern allen Wissens und Könnens sichtbar zu machen. Gott hat die Baumeister damit "bestraft", dass er ihre Kommunikation durcheinander gebracht hat: die Menschen sind Experten in ihren jeweiligen aufgetürmten Welten und verstehen nicht die jeweils anderen aufgetürmten Welten, einschließlich der dort von den Kundigen benützten Sprachen. Noch wichtiger: "tief" ist nun an der Basis des Wissensturms. Es ist das, worauf alles Wissen steht. Tiefe Fragen sind existenzielle Fragen – weil nämlich im hypothetischen Fall, dass alles Wissen bis auf den Grund zusammenbräche, wir immer noch da sein würden.
Warum sind Naturwissenschaftler so voll kriecherischem Respekt, wenn Theologen daherkommen und naturwissenschaftliche Fragen beantworten? Das ist eine rhetorische Frage. Die Naturwissenschaftler sollten nicht kriecherisch respektvoll sein. Aber trotzdem: warum sind sie es? Weil sie dem Anspruch einer übergeordneten göttlichen Autorität nichts entgegenzusetzen haben – einem Anspruch, dem Vorrang vor der Naturwissenschaft gebührt, weil Gott und nicht die Wissenschaft das Universum geschaffen hat. Was diesen unbequemen Anspruch brechen könnte, wäre ein Beweis, dass Gott definitiv nicht sein kann – aber das ist eine nichtige Aussage. Wie wir gesehen haben, bricht das Zweite Gebot diesen Anspruch mit Erfolg.
Die Schlussfolgerung ist die, dass die Naturwissenschaftler, anstatt den Theologen einen nicht verdienten Kredit zuzugestehen, besser selbst religiöse Kompetenz erwerben. Schließlich haben sie nicht weniger menschliches Leben und nicht weniger Existenz als Theologen. Theologen, die regelmäßig existenziellen Fragen ausweichen und lieber in Aussagen über Gott und seine Umgebung schwelgen, können nicht die Kompetenz besitzen von Gott zu reden, und jede einzelne ihrer Aussagen über Gott ist inkompetent.
5. Angenommen, die Berechtigung der Naturwissenschaft, uns Ratschläge über moralische Werte zu erteilen, ist problematisch. Können wir deshalb der Religion die Entscheidung überlassen, was gut und was schlecht ist. Nach welchen Kriterien wäre zu entscheiden, welche moralischen Werte wir von den Religionen übernehmen können?
Die Antworten sind leicht: der echten Religion überlassen: ja; der Theologie überlassen: nein; Kriterium: gut ist, was Leben und Lebensmöglichkeiten mehrt. Aber die Begründungen sind ziemlich kompliziert.
Fangen wir mit der Theologie an. Aus dem Zweiten Gebot folgt, dass es keine göttliche moralische Autorität gibt. Von Gott her kann keinerlei Vorschrift abgeleitet werden, wie die Welt zu sehen ist, wie man in der Welt zu handeln, und was man zu unterlassen hat. Theologen mögen ehrenwerte Positionen vertreten, z.B. bezüglich Abtreibung, Klonen oder Stammzellen-Technologie, aber dies sind und bleiben weltliche Positionen und müssen sich an weltlichen Kriterien messen lassen und gegen sie verteidigt werden.
Echte Religion gibt offensichtlich dem einzelnen Menschen eine moralische Orientierung: In Hinblick auf das Absolute ist die Welt relativ ein Nichts, und nichts in der Welt ist wirklich viel wichtiger als irgendetwas Anderes in der Welt, ausgenommen Leben mit einer absoluten Komponente, d. i. menschliches Leben – und möglicherweise auch anderes Leben. Genauer gesagt: Was in Bezug auf das Absolute wertvoll bleibt, sind Wesen vom Typ Dasein, mit einem absoluten Eigentlichen Selbst. Daher ist die moralische Haltung einer Person mit existenzieller Kompetenz natürlicherweise darauf aus, diesen Typ von Leben zu maximieren, das eigene Leben und das Leben der Anderen, und dazu immer die besten verfügbaren Kenntnisse und Überlegungen in heranzuziehen.
Es gibt einen menschlichen Wesenzug, Welten zu bauen, d.h. neue Lebensmöglichkeiten zu erkunden und zu meistern. Wir können etwas zu leben lernen, das wir zuvor nicht leben konnten, und wir können etwas beisteuern, das den Anderen hilft, ihr Leben um neue Möglichkeiten zu erweitern; wir können Kinder so großziehen, so dass sie Menschen werden, die sowohl das Leben in unseren schon bewährten Welten meistern als auch neue Lebensweisen entwickeln und leben, und damit ihre eigenen Welten bauen können.
Wenn wir eine Möglichkeit zu leben oder Leben zu mehren zerstören oder auch nur ungenutzt lassen, dann versagen wir in einem grundlegenden Sinn gegenüber dem Leben, und wir wissen dann dass wir schuldig sind (dies ist der Schuldbegriff des Atheisten Heidegger: Grund sein für ein Nicht-Sein). Natürlich gibt es immer viele Chancen Leben zu mehren, und wenn wir eine ergreifen, verfehlen wir gleichzeitig die anderen. Auf diese Weise sammeln wir Schuld an und positionieren uns in der Folge zwischen Ignorieren, Schwelgen in Schuld, und dem Glauben dass uns vergeben ist, wenn wir unsere Schuld nur erkennen. Aber solange wir leben, entkommen wir nicht unserer Bestimmung Leben weiter zu mehren.
All dies ist in der moralischen Haltung einer authentisch religiösen Person enthalten. Man kann es nicht einfach in genaue moralische Vorschriften transformieren, weil es keine Formeln zur Maximierung des Lebens gibt; aber wir können versuchen, es zu berücksichtigen, wenn wir innerweltliche Moralvorschriften entwickeln. Zum Beispiel:
Wir haben oben versucht, unseren Blick auf die absolute, göttliche Komponente des menschlichen Wesens zu richten, auf das Eigentliche Selbst. Wir wissen nicht, zu welchem Zeitpunkt unseres physischen und geistigen Lebens wir begannen, ein Eigentliches Selbst zu haben, aber wir sind sicher, dass wir es in der frühesten Szene unseres Lebens hatten, an die wir uns erinnern. Wir sind auch sicher, dass wir es in dem Moment verlieren, in dem unser physisches und geistiges Leben endet. Aber wann verlässt es eine Person, die im Koma liegt? Wir wissen nicht, ob und unter welchen Bedingungen Menschen, die aus genetischen Versuchen hervorgehen, ein Eigentliches Selbst haben werden.
Wenn wir das moralische Kriterium übernehmen, dass wir das Leben von Wesen mit einem Eigentlichen Selbst mehren und nicht behindern sollen, und wenn wir dann in Sachen Genforschung, Abschalten von lebenserhaltenden Geräten, oder Tötung behinderter Föten moralisch handeln wollen, dann können wir trotzdem keine Hilfe davon erwarten, dass wir versuchen, nichtige Fragen über das Eigentliche Selbst zu beantworten, sondern wir müssen stattdessen unsere eigenen, innerweltlich begründeten Regeln entwickeln. Wir müssen uns zu Gunsten der Maximierung des Lebens entscheiden und gleichzeitig riskieren, dass wir damit schuldig werden. Dies erfordert, dass wir unser bestes Wissen über alle relevanten Fakten anwenden, und dass wir deshalb keinerlei irrationale Argumente zulassen, insbesondere keine, die von Aussagen über Gott abgeleitet sind.
6. Kann die Naturwissenschaft Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Gottes Existenz machen?
Die Antwort ist ein klares Nein, weil auch Wahrscheinlichkeitsaussagen Aussagen sind, und weil Aussagen über Gott nichtig sind.
7. Sind Gott durch die Naturgesetze Grenzen gesetzt oder kann er sie ändern oder aufheben, wenn er es will, z.B. um Wunder zu bewirken?
Die Antwort kann man schon fast raten, ohne in die Details der Frage zu gehen: alles nichtige Aussagen.
Aber nehmen wir diese Fragen als religiöse Fragen und sehen uns die suggerierte Antwort an: Es ist wie wenn Gott durch die Naturgesetze keine Grenzen gesetzt sind und er sie ändern oder aufheben und Wunder bewirken könnte. Macht das Sinn, indem es möglicherweise einen Blick auf das Außerweltliche eröffnet? Eher nicht. Die "Naturgesetze" sind menschliche, mentale Konstrukte. Wir entwickeln sie aus Regelmäßigkeiten, die wir an den uns begegnenden Phänomenen bemerken. Wir lernen diesen Gesetzen zu vertrauen, haben aber eigentlich nicht die geringste Kontrolle über ihre Perfektion. Wenn "ein geschlossenes System kann nicht Wasser aus Nichts produzieren" ein Naturgesetz ist, dann ist "ein geschlossenes System kann nicht Wasser aus Nichts produzieren, außer am 23.März 2004 in der Kathedrale von Washington" auch ein Naturgesetz, ebenso wie "ein geschlossenes System kann nicht häufiger Wasser aus Nichts produzieren als in 1 von 1020 beobachteten Fällen". Wir mögen den Unterschied feststellen oder auch nicht.
Die Folgen sind dreifach:
(1) Im Umfeld der Naturgesetze nach Gott zu suchen, muss scheitern. In der Antwort auf Frage 4. oben haben wir gesehen, dass wir "tiefer" blicken müssen.
(2) Wenn uns ein Phänomen Y begegnet und wir keine innerweltliche Ursache dafür haben, etwa ein Naturgesetz "aus X folgt Y", dann ist es nicht intelligent, "Gott" für "X" einzusetzen.
(3) Wunder, wenn es solche überhaupt gibt, sind Fakten; die Naturgesetze sind menschliche Konstrukte, abgeleitet aus der Beobachtung von Fakten, und sie sind so lange gültig, wie die Fakten sie bestätigen. Wir können die Welt nicht ablehnen, bloß weil sie nicht zu dem einen oder anderen Befund der Naturwissenschaft passt.
Im Rahmen seiner Erörterungen zitiert Dawkins die folgende Definition aus dem "Lexikon des Teufels" von Ambrose Bierce: "BETEN, v. Darum bitten, dass die Gesetze des Universums aufgehoben werden zu Gunsten eines einzelnen Bittstellers, der sich als unwürdig bekennt". Bierce hat insoweit Recht, als dies das Muster der typischen, nichtigen Gebete an einen Aussagen-Gott ist. Ansonsten braucht das hier nicht weiter diskutiert zu werden.
Wir benutzen aber die Gelegenheit, hier eine andere Definition aus derselben Quelle zu zitieren: "GLAUBE, n. Überzeugt-Sein ohne Beweise zu haben, von etwas, das jemand ohne Sachkenntnis sagt über Dinge, die mit nichts vergleichbar sind". Wieder hat Bierce anscheinend im Sinn, was wir als irrationalen Glauben an einen Aussagen-Gott diagnostiziert haben. Aber es stellt sich heraus, dass seine Definition noch besser auf den echten religiösen Glauben zutrifft. Wir verbiegen den Sinn der "Dinge, die mit nichts vergleichbar sind" nicht, wenn wir sie als – nicht notwendigerweise sachliche – "Wesenheit(en), die mit nichts vergleichbar ist/sind" interpretieren, und das ergibt eine annehmbare Umschreibung des Absoluten. "Ohne Sachkenntnis" ist treffend, da wir keinerlei Faktenwissen über Gott haben können. "Ohne Beweise" ist treffend, da jegliche Beweise für innerweltliche Ereignisse oder Abläufe, einschließlich Wunder, nicht in Relation zu Gott gebracht werden können. Damit sagt die Definition eigentlich, dass religiöser Glaube das Überzeugt-Sein vom Absoluten ist, ohne dass es durch Tatsachen-Beweise oder Wissen begründet wäre. – Atheisten können unversehens religiös sein.
–
Was ist die Lehre aus dem Review des Abschnittes über NOMA? Dawkins kommt nicht viel weiter als Fragen zu stellen, und er kommt sicher nicht bei stabilen Antworten an. Der Grund liegt darin, dass die gestellten Fragen nicht rhetorisch sondern existenziell sind, und dass Dawkins es versäumt, eine existenzielle Sicht auf sie anzuwenden.
Nicht jeder wird gleich beim ersten Mal kurzerhand und leichthin den existenziellen Ableitungen folgen, die wir oben gegeben haben, aber sie zeigen jedenfalls, dass im Hinblick auf das Außerweltliche die sieben bedeutsamen Fragenkomplexe dieses Abschnitts einfach und konsistent zu beantworten sind. –
Wir behandeln noch kurz zwei weitere Absätze aus diesem Abschnitt.
Dawkins schreibt, dass "es Athleten gibt, die glauben, dass Gott ihnen hilft zu siegen". Er legt dem Leser nahe, dass es absurd ist, an solche außergewöhnlichen Interventionen Gottes zu glauben. – Daran muss aber nichts außergewöhnlich sein. Erstens gibt es keine Naturgesetze, die voraussagen lassen, welche Athleten gewinnen. Zweitens wissen wir von dem immer wiederkehrenden Problem, dass der erfolgreichste Torjäger in einer Fußballliga ohne ersichtlichen Grund und ohne Abhilfe 6 oder 8 Wochen lang kein einziges Tor erzielt. Jeder Mensch mit ein bisschen Sportverstand wird das für etwas halten, das man als gegeben hinnehmen muss. Der Fußballer erkennt, dass ihm Torerfolge vorher gegeben waren, und dass es ihm jetzt gegeben ist, keine Tore zu erzielen. Es ist nichts Absurdes an der Sicht, dass es ist, wie wenn Gott der Gebende ist. Ist nicht diese Sicht respektabler als die irrige, gegenteilige Sicht, dass die Führung in der Torjägerliste das alleinige Verdienst des Athleten wäre und voll in seiner Hand liege? –
Und dann gibt es da Dawkins' Behauptung, dass "die Evolution wirklich eine Erklärung für die Existenz von Wesen liefert, deren Unwahrscheinlichkeit andernfalls … ihre Existenz ausschließen würde". – Da wir in diesem Buch mehrmals das Ansinnen zurückgewiesen haben, Gott zur Erklärung beliebiger innerweltlichen Phänomene heranzuziehen, können wir hier vom Streit mit den religiösen Fundamentalisten absehen und Dawkins' Behauptung unabhängig davon kritisieren: Die Evolution kann in Wahrheit nichts von dem leisten, was die Behauptung sagt. Im Gegensatz zu Dawkins' Text, kann Existenz nicht erklärt oder ausgeschlossen werden. Uns begegnen Phänomene, und das ist alles, was existiert. Wir können handeln und als nächstes begegnet uns das, was wir als Ergebnis der Handlung erwarten, oder auch nicht, und das ist alles, was wir in Bezug auf Existenz bewirken können. All das gilt auch und gleichermaßen für mentale Phänomene.
Irgendwo in der Weiterverfolgung dieser Gedanken stellen wir fest, dass wir Theorien haben, d.h. Strukturen von mentalen Objekten, die uns helfen, uns im Einklang mit dem uns Begegnenden zu halten sowie durch bessere Voraussicht erfolgreicher zu handeln. Wenn eine Voraussicht sich als falsch herausstellt, müssen wir überprüfen, ob wir die Theorie richtig angewendet haben, und andernfalls sehen, ob wir sie verbessern können oder nach einer neuen suchen müssen.
Die Evolution ist eine Theorie. Theorien hängen von Tatsachen ab, nicht umgekehrt. Es sind die Fakten, die über die "Existenz" einer Theorie entscheiden.
Vor unserer Lebenszeit begegnen uns keine Phänomene. Damit ist die zurückliegende Vergangenheit für uns durchweg Theorie. Was zum Beispiel bedeutet, dass es für uns keine Rolle spielt, ob die Welt tatsächlich im Jahre 1850 geschaffen worden ist. Stellen wir uns eine hypothetische Theorie vor, die besagt, dass der Anfang der Welt im Jahr 1850 war, und dass sie dann so ausgesehen hat und von da an so weitergegangen ist, wie es unsere Theorien aussagen. Um das ein wenig zu illustrieren: die Fossilien wären 1850 entstanden, würden aber für uns so sein, wie wenn sie schon vor 1850 existiert hätten; die Konstellationen und Bewegungen des Universums wären 1850 in die Welt gesetzt worden, es würde sich aber für uns so darstellen, dass es mit einem Big Bang vor 14 Milliarden Jahren begonnen hat; usw. Die Phänomene, die uns begegnen, ermöglichen uns nicht zu entscheiden zwischen dieser hypothetischen Theorie und unseren aktuellen Theorien über die Entwicklung der Welt und der Lebensformen. Natürlich ist die 1850er-Geschichte eine praktisch nutzlose Erweiterung eines bewährten Systems, und das ist ein hinreichender Grund sie zu verwerfen. Aber der theoretische Vorbehalt bleibt: die Evolution kann vorzeitliche Phänomene nur erklären, wenn die Welt wirklich nicht in jüngerer Zeit und in einem Zustand geschaffen worden ist, der uns die weiter zurückliegende Vergangenheit vorspielt. Es sind die Tatsachen, die über die Existenz einer Theorie entscheiden, aber unsere Tatsachen beschränken sich auf unsere Gegenwart und auf den Teil der Vergangenheit, an den wir uns selbst erinnern.
Wir müssen einmal mehr feststellen, dass Dawkins die Naturwissenschaft, ihren Anspruch und ihren Wert nicht korrekt positioniert. Dem kann man abhelfen, indem man tiefer blickt, auf die existenzielle Begründung der Wissenschaft.
Dawkins berichtet von einem statistisch signifikanten Experiment, mit dem bestimmt werden sollte, ob Beten für andere Menschen wirksam ist. Alles, was dazu in diesem Rahmen kommentierend gesagt werden könnte, ist oben schon gesagt.
Er diskutiert außerdem, ob die Naturwissenschaft auf eine Art Grenzabkommen mit den "verständig" Religiösen hinarbeiten sollte – eine Taktik, die er als Appeasement klassifiziert – oder ob die Naturwissenschaft weiter angreifen sollte, auch um den Preis, damit die öffentliche Wirkung der Fundamentalisten noch zu erhöhen. – Aber es ist doch so, dass die Beteiligung an diesem Dauerkonflikt über erdachte Götter eine sichere Methode ist, den eigentlichen Gott zu vermeiden. Es ist, wie wenn beide Parteien, sowohl die Verfechter als auch die Verleugner der Gottheit des Goldenen Kalbes um dieses herum tanzen.
Dawkins weist darauf hin, dass wir – nach unserem jetzigen Kenntnisstand mit einer kleinen aber zunehmenden Wahrscheinlichkeit – irgendwo im Universum übermenschliche Wesen entdecken könnten. Falls wir von ihnen über eine Entfernung von Millionen von Lichtjahren ein intelligentes Signal erhielten, würde das bedeuten, dass die Aussendenden uns weit überlegen wären. Wir würden dazu neigen, sie für Götter zu halten, aber sie wären eben doch keine Götter. Dawkins' Begründung ist: "[weil] sie nicht als solche entstanden sind", sondern als Ergebnis eines evolutionären Prozesses. "Die Wahrscheinlichkeitsgesetze verbieten alle Gedanken, dass sie spontan, ohne einfachere Vorgängerwesen [im Universum] erschienen sind". Insofern wären sie also übermenschlich, aber nicht übernatürlich, also ausdrücklich nicht die intelligenten Wesen aus der Gott-Hypothese, denn die sollen sowohl übermenschlich als auch übernatürlich sein. –
Dawkins entwirft hier einen komplizierten und schwer zu verteidigenden Beweisansatz für etwas, das sowieso plausibel ist: Uns können beliebige Signale oder Wesen in der objektiven Welt begegnen, und wir können uns in unseren Theorien beliebige sendende Wesen ersinnen, aber sie können nicht außerweltlich sein, nicht absolut. Und wir müssen wiederholen: Die Wahrscheinlichkeitsgesetze können gar nichts verbieten.
Dawkins behauptet dann, dass eine ähnliche Wahrscheinlichkeitsbetrachtung auch für die Existenz Gottes möglich sei, in die man auch die Zunahme der Wahrscheinlichkeit einbeziehen könne, die aus unserem ständigen Wissenszuwachs folgt. –
Wir haben schon klargemacht, dass die Ergebnisse nur nichtig sein können. Niemand wird je in der Lage sein, objektiv irgendwelche Ereignisse zu beobachten, in denen Gott existiert oder nicht existiert, und deshalb wird es auch nicht möglich sein, eine entsprechende, hypothetische Wahrscheinlichkeit zu verifizieren oder zu falsifizieren.
Eine Terminologieangelegenheit zuerst: Wir haben bisher Wesen von drei Seinsarten angetroffen. Objekte in der Welt "existieren", d.h. gemäß der ursprünglichen Wortbedeutung "stehen" sie aus dem Nichts / dem Chaos / dem Tohuwabohu "heraus". Dann gibt es uns Menschen, mit einem Sein in der Welt, das analog ist zu der Position eines Spielers in einer virtuellen Realität, und das wir "Dasein" nennen. Und dann ist da das Außerweltliche, von dem wir die Seinsweise nicht wissen können. Wir können von unserer "menschlichen Existenz" in dem Sinn reden, dass alle Inhalte unserer Welt für uns existieren. Aber von "Gottes Existenz" können wir korrekterweise nicht reden. – Sein ganzes Buch hindurch unterlässt Dawkins diese Differenzierung der Terminologie. Wir werden dieses Problem ebenfalls übergehen, da die Seinsart immer eindeutig aus dem Subjekt geschlossen werden kann.
Auch werden wir im Review dieses Kapitels nicht weiter dauernd wiederholen, dass ein absoluter Gott nicht mit innerweltlichen Begriffen erfassbar ist, und dass deshalb alle möglichen Argumente für oder gegen das Sein Gottes nur nichtig sein können. Das Ziel dieser Kritik ist es, fragwürdige oder lückenhafte Überlegungen aufzudecken, und hierfür werden die zahlreichen atheistischen und wissenschaftlichen Positionen, wie sie in diesem Kapitel dargestellt sind, reiches Material liefern.
Allerdings tritt Dawkins den Pro-Gott-Argumenten eher damit entgegen, dass er sie diskreditiert und auch lächerlich macht, anstatt sie endgültig auszuräumen. Daher werden wir doch gelegentlich der Versuchung nachgeben und die "Overkill"-Wirkung des Zweiten Gebots in Erinnerung rufen.
Drei dieser "Beweise" benutzen Gott zur Beendigung einer logischen Endlosschleife: er wird angesetzt als
(1) der erste, der etwas in Bewegung gesetzt hat, ohne selbst in Bewegung gesetzt worden zu sein; oder als
(2) die erste Ursache von allem, die selber nicht verursacht ist; oder als
(3) das erste Seiende, das physikalische Objekte hervorgebracht hat, ohne selbst ein physikalisches Objekt zu sein.
Dawkins setzt dem entgegen, dass (a) solch eine hypothetische Endinstanz ihrerseits gegen ähnliche Endlosschleifen nicht immun sein muss, (b) wahrscheinlich nicht Gott wäre, und (c) bekannte "Endlosschleifen" typischerweise doch automatisch enden.
Das bedeutet, dass Dawkins sich darauf beschränkt, die Schlussfolgerungen – zu Recht – anzugreifen, dass er aber – bemerkenswerterweise – die Voraussetzungen in allen drei Fällen unhinterfragt durchgehen lässt:
(1) "Nichts bewegt sich, ohne dass es zuvor einen Beweger gibt",
(2) "Nichts wird von sich selbst verursacht", –
(3) "Es muss eine Zeit gegeben haben, in der keine physikalischen Objekte existierten".
Alle drei sind falsche Metatheorie:
(1) Uns begegnet Bewegung, und erst später konstruieren wir eine Theorie der Dynamik.
(2) Uns begegnet etwas Neues, und erst später konstruieren wir eine Theorie seiner Verursachung.
(3) Uns begegnet etwas wiederholt, und erst später konstruieren wir eine Theorie der Zeit.
Alles geschieht, bevor wir eine Theorie haben, d.h. es kann ohne Theorie geschehen. Unsere Theorien sind unsere Konstrukte und können gar nichts erschaffen, keine ersten Beweger, keine Ursachen, keine Wesen, die physikalische Objekte aus dem Nichts schaffen. Theorien haben keinen Einfluss auf die Fakten, die uns begegnen. Thomas von Aquin versucht die Kraft der Wissenschaft seiner Zeit herauszustellen, indem er mit ihren Mitteln das Sein Gottes beweist, während doch gleichzeitig klar sein muss, dass dieselbe Kraft grundsätzlich nicht einmal ausreicht, ein einziges Faktum zu beweisen (aber natürlich ausreicht, Fakten glaubhaft vorherzusagen – sogar räumlich und zeitlich entfernte Fakten, die uns nicht selbst begegnen können).
Thomas von Aquins vierter "Beweis" besagt, dass Menschen in jeder Dimension gut und böse sein können, und dass der Bezugspunkt das äußerste Gute ist, also Gott. Natürlich ist das kein Beweis, aber es ist eine sehr wertvolle existenzielle Rede: Es ist, wie wenn die innerweltlichen Dimensionen des Daseins – nicht jegliche Eigenschaften (Dawkins wählt für seine Antwort den Geruch) sondern existenziell vorgegebene und somit auch nicht definierbare Züge des Daseins – sich zwischen einem guten und einem bösen Ende erstrecken, wobei das gute Ende mit dem Absoluten in der Weise verbunden ist, dass in der Annäherung an dieses Ende das Absolute in den Blick kommt als das Absolute dieser Dimension. Wir gehen darauf in diesem Kapitel noch einmal näher ein, im dritten Anschnitt über "Das Argument der Schönheit".
Der fünfte Beweis sagt: "Die Dinge in der Welt, speziell die Lebewesen" sehen wie planvoll entworfen ("designed") aus; deshalb muss es dafür einen Entwerfer ("Designer") geben, und das ist Gott. Als Antwort behauptet Dawkins, dass "Evolution durch natürliche Auslese eine ausgezeichnete Simulation der Ergebnisse planvollen Entwurfs liefert, bis in gewaltige Höhen der Komplexität und Eleganz", weshalb "die Aussage nicht mehr stimmt, dass etwas uns Bekanntes nur wie entworfen aussehen kann, wenn es entworfen ist".
Wirklich, wer entwirft was? Gott kann nicht mit den Inhalten persönlicher Welten in Beziehung gesetzt werden. Er hat nicht entworfen und er entwirft nicht. Der aussichtsreichste Ansatz zu einer Antwort ist der, zu untersuchen, was wir selbst, die Menschen entwerfen. Gewöhnlich stimmen wir dem zu, dass wir Strukturen erforschen und verstehen können, dagegen ist uns eine Sicht ungewohnt, dass Verstehen Entwerfen sein soll.
Wir hören den Nachbarshund. Was wir dabei nicht tun: akustische Wellen hören, Frequenzmuster analysieren, sie mit einem Repertoire akustischer Muster in unserer mentalen Datenbasis vergleichen, den Ort der akustischen Quelle aus der Lautstärke und den Unterschieden der Eingangssignale in unseren beiden Ohren berechen, usw., und dann aus alledem schließen, dass es ein Hund sein muss, und zwar genau der Hund des Nachbarn. All dies sind Begriffsstrukturen, die wir in unserer mentalen Welt abrufen und uns begegnen lassen können, aber wir rufen sie eben normalerweise nicht ab: uns begegnet direkt der Nachbarshund. Und so ist unser praktisches Leben. Die besagten Begriffsstrukturen sind nur Theorien über Hintergrundstrukturen der Welt.
Wir können sie denken und ausdrücken: im Sprechen, Schreiben, in Grafiken, in Animationen; aber davor müssen wir sie erst einmal erwerben, entweder indem wir sie selbst erfinden, oder indem wir sie von anderen Menschen kopieren, durch Lesen, Lernen, Schulung, oft unter Anleitung von Fachleuten, die mit einem bestimmten Bereich von Begriffsstrukturen vertraut sind. Alle solchen Begriffsstrukturen sind von Menschen gemacht, und deshalb reden wir hier besser von Entwürfen oder Konstrukten als von Begriffstrukturen.
Solche Entwürfe können uns nicht außerhalb unserer mentalen Welt begegnen. Außerhalb unserer mentalen Welt können uns begegnen: der Hund, der Nachbar, unsere Ohren, eine akustische Welle – jedenfalls von einem Basslautsprecher –; außerhalb unserer mentalen Welt können uns dagegen nicht begegnen: eine Tonfrequenz, der akustische Prozessor in unserem Kopf, und weiterhin zum Beispiel ein Atom, dunkle Materie, ein lebender Dinosaurier, Julius Caesar, Gravitation, eine Beziehung zwischen Menschen, die Hölle. Diese Entwürfe sind aber als Objekte in unserer mentalen Welt nicht weniger real und objektiv, als es ein Hund in unserer nicht-mentalen Welt ist.
Unsere Realität besteht aus mentalen und nicht-mentalen Welten, beide gleich real. Die menschlichen Entwürfe bilden die artikulierten Phänomene der mentalen Welt(en). Voraussagen aus Entwürfen können mit Phänomenen in den nicht-mentalen Welten übereinstimmen oder nicht. Entwürfe, die etwas außerhalb aller Welten voraussagen sollen, sind reine Fiktion.
Naturwissenschaftler sind üblicherweise der Meinung, dass die Inhalte ihrer Theorien Realität sind und nicht "nur mental". In Wirklichkeit sind alle Theorien durchgängig mental und stimmen mit nichts Anderem überein. Nur die materiellen Tatsachen, die die Entwicklung einer Theorie leiten, und die Einrichtungen zur Verifikation oder Falsifikation ihrer Voraussagen sind nicht mental.
Dawkins bezieht sich bei diesem Argument auf die Version von Anselm von Canterbury: Gegeben sei Gott als das umfassendste denkbare Wesen; wenn es nicht existieren würde, wäre es nicht das umfassendste; daher muss es existieren.
Was setzt uns Dawkins als seine Antwort vor?
- Eine Übersetzung des Arguments in kindische Sprache;
- seine ästhetische Aversion gegen die Idee, dass aus spitzfindigen Logiktricksereien wirklich bedeutende Schlussfolgerungen gezogen werden könnten;
- eine Kritik an Bertrand Russell, dass er gegenüber Anselm nicht dieselbe gedankliche Vorsicht walten lassen hat wie gegenüber Zenons Paradox;
- seinen eigenen, "automatischen", tiefen Argwohn gegenüber jeder gedanklichen Ableitung, die ohne jegliche Daten aus der realen Welt zu einer derart signifikanten Schlussfolgerung kommt;
- die Information, dass die endgültige Widerlegung des ontologischen Arguments gewöhnlich Hume und Kant zugeschrieben wird;
- die Frage von Norman Malcolm, in welchem Sinne man sagen könne, dass ein Haus besser sei, wenn es existiert, als wenn es nicht existiert;
- einen ironischer "Beweis" von Douglas Gasking, der Anselms Logik folgt und ergibt, dass Gott nicht existiert;
- einen falschen mathematischen Beweis der Existenz Gottes, der mit einer Division durch Null herumpfuscht;
- eine Behauptung von Leonhard Euler, dass Gott existiere, weil (a+bn)/n=x; worauf Diderot auch keine Antwort hatte;
- ein weiteres Beispiel für ein Argument, das "mit Wissenschaftlichkeit blendet";
- sechs weitere, absurde A-priori-"Beweise" von einer Website.
Und damit, so scheint Dawkins zu glauben, seien Anselms Beweis und Eulers Behauptung tot.
Nicht bevor irgendjemand ausführt, was unwiderleglich falsch an ihnen ist. Das Zweite Gebot würde das leisten.
Dawkins formuliert dieses Argument nicht aus. Es scheint folgendermaßen gemeint zu sein: Weil es Schönheit gibt (jeder nehme sein absolut bestes Beispiel), muss es Gott geben.
Dawkins' Einwand ist, dass große Kunst groß ist, unabhängig von der Existenz Gottes. "Wenn es ein logisches Argument gibt, das große Kunst mit Gott in Beziehung setzt, dann wird es von den Proponenten jedenfalls nicht ausgesprochen". Er erwähnt auch, dass die Kirche in der Vergangenheit große Kunst gesponsert hat und dass andererseits einige große Kunst nicht geschaffen worden wäre, wenn der Künstler dazu nicht von der Kirche beauftragt worden wäre. Schließlich argwöhnt Dawkins, dass manche Leute auf Genialität eifersüchtig sein könnten und deshalb die Verdienste großer Künstler gänzlich Gott zuschieben. –
Erstens kann es kein logisches Argument geben, das etwas mit Gott in Beziehung setzt. Zweitens ist Kunst nicht dasselbe wie Schönheit. Kunst ist nicht einmal die primäre Schöpferin von Schönheit, sondern die Natur.
Schönheit ist im Auge des Betrachters, und daher argumentiert niemand über Schönheit. Dawkins sucht hier nach Argumenten, die er angehen könnte. Am Ende gibt es aber hier nichts zu widerlegen und daher auch keinen Sieg.
Es gibt Phänomene in der Welt, die nicht formalisiert werden können, ja nicht einmal informell definiert. Schönheit ist von dieser Art. Wir erfahren Schönheit und, während wir unfähig sind, sie zu erklären, zweifeln wir nie daran. Manchmal erfahren wir so etwas wie alles übersteigende Schönheit, so dass uns der Mund offen bleibt, die Zeit stillsteht, und wir empfinden es als jenseits aller innerweltlichen Erfahrungen von Schönheit, als Berührung mit dem Absoluten. Es gibt ein Kontinuum zwischen extremer Schönheit und extremer Hässlichkeit, aber wenn wir äußerste Schönheit wahrnehmen, dass kann es uns geschehen, dass wir uns in oder nahe einer "Sichtlinie" auf das Absolute befinden. In Verbindung mit der Wahrnehmung extremer Hässlichkeit gibt es nichts Vergleichbares.
Wie wir oben schon gesagt haben: Schönheit ist eine Dimension unseres Seins in der Welt. Und es ist, wie wenn das eine Ende der Dimension der Schönheit mit dem Absoluten verbunden wäre, und wie wenn wir entlang der Achse dieser Dimension blickend einen flüchtigen Blick auf das Absolute erhaschen könnten. –
Dies ist kein logisches Argument. Es ist ein Versuch, annähernd zu zeigen. "Mozart hören" zeigt vielleicht ebenso gut oder besser auf dieselbe Erfahrung. Solche Versuche mögen unzulänglich sein; Menschen, von denen man erwartet, dass sie sie verstehen, erkennen eventuell nicht, welche eigene Erfahrung gemeint ist, oder sie verfügen nicht über eine solche Erfahrung. Aber mit den Mitteln der Logik und strenger Sachlichkeit, durch Denken wird niemand herausfinden können, was gemeint ist.
Um auf Dawkins' Gegenargument zurück zu kommen: Es stellt sich heraus, dass große Kunst solche Kunst ist, die einem manchmal einen Blick auf das Absolute verschafft.
Dawkins stuft alle Visionen von Gott oder Gottbezüglichem als Illusionen ein und illustriert, warum er so denkt. Das Folgende ist eine Zusammenfassung seiner Überlegungen:
Normale Menschen finden oft heraus, dass Visionen natürliche Erklärungen haben, und sie achten deshalb darauf, Visionen nicht einfach als bare Münze zu nehmen. Wenn jemand Visionen ohne natürliche Erklärung behauptet, dann beruht das meistens auf einer begrenzten geistigen Störung, manchmal auch auf einer kriminellen Absicht.
Illusionen sind etwas Vertrautes. Jeder kennt gewisse optische Täuschungen. Das Gehirn ist geschickt darin, Illusionen zu erzeugen, und es ist insbesondere fähig, innere Bilder von Gesichtern und Stimmen zu erzeugen.
Dawkins spricht die kollektive Vision von 1917 in Fatima an, wo 70000 Menschen sahen, wie "die Sonne sich vom Himmel losriss und auf die Menge herunterstürzte" – was allerdings von der übrigen Menschheit niemand registrierte.
Der
letzte Absatz in diesem Anschnitt lautet:
"Das ist wirklich alles, was über persönliche 'Erlebnisse' mit Göttern
oder anderen religiösen Phänomenen zu sagen ist. Wenn Sie ein solches Erlebnis
hatten, dann glauben Sie gegebenenfalls fest daran, dass es ein reales Erlebnis
war. Aber erwarten Sie nicht, dass wir Übrigen Ihnen das abkaufen, insbesondere
wenn wir auch nur ein wenig mit dem Gehirn und seinen mächtigen
Verarbeitungsprozessen vertraut sind". –
Dawkins scheint sich nicht darum zu kümmern, dass das Argument auf ihn zurückfällt: Erwarten Sie nicht, dass wir Übrigen einem Atheisten Weisheiten über Gott abkaufen. Wir haben ja schon in der Einleitung angefangen, das Haupt-Missverständnis der Atheisten zu erörtern und werden am Ende dieses Reviews wieder darauf zurückkommen.
Alles in allem sichtet Dawkins verschiedene Arten von behaupteten Visionen des Göttlichen und findet, dass sie immer einer Selbsttäuschung unterliegen. Hieraus leitet er anscheinend für sich selbst ab, dass Menschen, die von einem persönlichen Gotteserlebnis berichten, nicht ernst genommen werden müssen. Dies ist aber nicht schlüssig; denn Dawkins' Erörterungen erfassen außer den subjektiven Visionen keine anderen persönlichen Gotteserlebnisse, aber sein Verdikt bezieht sich auf alle solche Erlebnisse.
Wir können nicht anders, als das, was uns in der Welt begegnet, als bare Münze zu nehmen. Nur durch einen nachträglichen mentalen Qualitätssicherungsprozess, einen Re-view, können wir etwas, das uns als "Vision" begegnet ist, als nicht objektiv erkennen. Jemand verfügt vielleicht nicht über das erforderliche mentale Material für den angemessenen Review, und lässt die Vision "durchgehen". Das am meisten verbreitete Beispiel ist die selektive Wahrnehmung, die einen dazu bringt, alles innerhalb des Rahmens der eigenen Welt zu verstehen. Was sonst sollte man mit einem Erlebnis tun, für das es keinen Vergleich und keine Worte gibt! Selbst der anscheinend "einfältige" Bericht von einer Vision kann noch das Symptom einer echten Erfahrung des Absoluten sein.
Wir wissen, dass wir alle irrigen Ansichten unterliegen können. Ein Ermittler bei der Polizei glaubt vielleicht, dass jede Wahrheit durch geeignete Ermittlungsmethoden ans Licht gebracht werden muss; ein Feuerwehrmann mag vielleicht die Sicht haben, dass für Gebäude nichts entscheidender ist als die Einrichtungen und Mängel der Feuersicherheit; ein Spieler sieht jeden Tag als den potenziellen Tag seines zwingenden, großen Gewinns; für einen Naturwissenschaftler wartet alles nur darauf, durch eine Theorie erklärt zu werden. Letztlich haben wir keine Alternative dazu, dass wir unseren eigenen Sichten vertrauen, sie routinemäßig immer wieder überprüfen und anpassen, und auf dieser Basis weitermachen. Das gilt auch für Atheisten. Auch Atheisten müssen auf dem Wasser gehen wie alle anderen Menschen.
Alle von Dawkins erwähnten Visionen haben einen innerweltlichen Inhalt, und solch ein Inhalt kann nichts mit Gott zu tun haben. Lässt dies nun tatsächlich keinen Raum für echte Gotteserfahrungen?
Rufen wir uns in Erinnerung, von welcher Qualität eine Erfahrung des Absoluten sein könnte, sofern sie überhaupt möglich wäre. Angesichts des Absoluten kann alles Relative keine Relevanz haben, z.B. Inhalte, Fragen, Auswege, Alternativen. Wir können erwarten, dass ein Blick auf das Absolute unsere Welt vergleichsweise zu einem Nichts reduzieren würde. Das Erlebnis muss schlagend jenseits aller Beschreibung sein.
Dass "die Sonne auf mich herunterstürzte" ist ein relativ guter Ausdruck für so ein Erlebnis, das die Welt aus-blendet. J.D.Salinger benutzt ihn in seiner Kurzgeschichte "Die blaue Periode des Herrn de Daumier-Smith". Man vergleiche das auch mit der Meditation – eine Übung die jedermann zur Verfügung steht –, in der man "die Welt (einschließlich aller Gedanken) zum Verschwinden bringen" kann, und zwar so weit, dass einem nichts Artikuliertes mehr begegnet. Trotzdem bleibt etwas: das Absolute oder Selbst. In der Meditation wird dieses Stadium manchmal als das "große Licht" bezeichnet.
Was könnte die bleibende Wirkung eines solchen Erlebnisses auf den Menschen sein? Vor allem würde der Betroffene absolut wissen, dass dies das Absolute war. Während der Erfahrung war die Welt nicht, war einfach weg. Der Mensch könnte nun erkennen, wie schrecklich viel weg ist, wenn die Welt weg ist, mit anderen Worten: wie über alle Maßen reicher die Welt ist als wir uns üblicherweise vergegenwärtigen. Der Mensch würde geradezu platzen von dem inneren Druck, die außergewöhnliche Erfahrung mitzuteilen, aber es würden ihm – weil es keine gibt – die Gedanken und Worte dazu fehlen, er würde stottern und Unsinn reden, und niemand würde etwas verstehen oder überhaupt zuhören wollen.
Auf der Basis dieser Überlegung kann man Leute, die irrtümlich religiöse Visionen behaupten, unterscheiden von Leuten mit echten religiösen Erlebnissen, und zwar anhand ihrer Haltung gegenüber der Welt. Die letzteren wissen von dem Erlebnis her, wie absolut reich und gut die Welt ist. Dagegen trägt das Maß der Einfältigkeit der Visionen zur Unterscheidung so gut wie nichts bei.
Dawkins' Argument lautet: Die Bibel kann generell nicht als zuverlässige Aufzeichnung der historischen Ereignisse gelten, und deshalb kommt die Bibel auch nicht als Beweismaterial für irgendeine Art von Gottheit in Betracht.
Welch ein erstaunliches Argument! Würde Dawkins die Bibel als Beweismaterial für irgendeine Art von Gottheit akzeptieren, wenn sie historisch wahr wäre? Wie könnte das Sein Gottes von der Geschichte abhängen? Warum nicht von Geophysik? Oder von Kinderpsychologie? Oder von irgendeiner anderen Wissenschaft, in der man sich nicht auf die Bibel verlassen kann? Was für eine Art von Gott sollte das denn sein?
Könnte die Kenntnis der Lateinischen Sprache etwa ausreichen, um einen mittelalterlichen Artikel über Astronomie oder Medizin zu verstehen? Wie jeder weiß, kann man von einer Sprache in eine andere nicht Wort für Wort übersetzen. Man muss das Sachgebiet kennen und die zugehörigen Redewendungen in der Zielsprache. Was den mittelalterlichen Artikel betrifft: wären astronomische oder medizinische Kenntnisse nicht hilfreich oder sogar erforderlich, und würden sie den Forscher nicht in die Lage versetzen, Fehler in den mittelalterlichen Vorstellungen zu erkennen und zu korrigieren?
Wenn man nicht weiß, was über Gott gesagt werden kann und was nicht, wenn man keine Vorstellung von der eigenen, existenziellen Situation hat, wie kann man erwarten, dass man die Bibel verstünde? Das muss sich doch anfühlen, wie wenn man sich einen fremdsprachlichen Text durch Zählen von Buchstaben und Wörtern erschließen wollte.
Dawkins zitiert Jefferson "… wenn es um das Neue Testament geht, … sollte man alle historischen Texte über Christus lesen, sowohl von denjenigen, die ein Rat von Geistlichen als Pseudo-Evangelisten eingestuft hat, als auch von denjenigen, die sie Evangelisten genannt haben. Weil die Pseudo-Evangelisten sich ebenso auf göttliche Inspiration berufen wie die anderen, und weil man beider Ansprüche jeweils mit dem eigenen Verstand beurteilen muss und nicht nach dem Verständnis jener Geistlichen".
Das ist in einem viel allgemeineren Sinne wahr. Zu allen Zeiten haben die Eliten der monotheistischen Religionen Monopole der religiösen Lehre durchgesetzt und verfochten, und alle haben Systeme in den Bereichen des Denkens, der Architektur, der Kunst, des Handels und der Macht errichtet, die nichts mit einem absoluten Gott zu tun haben (können) und die darüber hinaus verhindern, dass die Frage nach Gott angemessen behandelt wird. Alle, die nicht an diese innerweltlichen Strukturen glauben, sind herausgefordert, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Jesus hat sich mit dem starr formalisierten religiösen System der Juden seiner Zeit auseinandergesetzt und die Menschen mit der Einsicht konfrontiert, dass jeder wie ein Sohn oder eine Tochter Gottes ist, und dass jeder direkt, ohne Einmischung eines religiösen Systems, Verbindung mit Gott haben und ihm wie einem Vater vertrauen kann. Luther hat das Monopol der Geistlichkeit über den Zugang zu den Bibeltexten zerbrochen, indem er sie in das Deutsch der durchschnittlich gebildeten Menschen übersetzt hat.
Heutzutage sind die Systeme nichtiger religiöser Lehren uneinnehmbar wie je. Wir müssen mit unserem eigenen Verstand urteilen, natürlich mit Hilfe der Wissenschaft, und – das ist am wichtigsten – von unserem Eigentlichen Selbst her. Wir alle sind Menschen und haben eine Existenz und wissen alles darüber. Wir schauen nur nicht hin.
Um die vorigen Überlegungen fortzusetzen: Es sind gerade die Eliten der organisierten Religion und der Naturwissenschaft, die nicht hinschauen, weil sie glauben, sie verfügten über alle zum Urteilen erforderliche Kompetenz. Da sie existenziell nicht gefordert sind, sehen sie keinen Grund genauer hinzuschauen.
Dass es so wenige religiöse Spitzenwissenschaftler gibt, ist einfach ein Symptom dieser Situation.
Blaise Pascal hat argumentiert: Da wir nicht wissen, ob Gott ist oder nicht, ist es angesichts der möglichen Folgen – ewiger Seligkeit bzw. ewiger Verdammnis – taktisch besser an Gott zu glauben als nicht an Gott zu glauben. Dawkins weist darauf hin, dass der resultierende Glaube geheuchelt wäre, und fragt warum Glaube überhaupt gottgefälliger sein sollte als "Güte, oder Großzügigkeit, oder Demut? Oder Aufrichtigkeit? Was, wenn Gott ein Naturwissenschaftler ist, der ehrliche Suche nach der Wahrheit als die höchste Tugend ansieht?"
All diese Versuche bewegen sich auf der Ebene der Aussage über Gott, und sind daher nichtig. Immerhin könnte man sich einen Naturwissenschaftler vorstellen, der sich der Frage stellt, ob die Naturwissenschaft tatsächlich die vollständige Wahrheit liefern kann, und der aufgrund der so gewonnenen wissenschaftlichen Skepsis auf die ehrliche Suche nach einer möglichen, darüber hinaus gehenden Wahrheit macht.
Dieser Abschnitt befasst sich mit der Berechnung der Wahrscheinlichkeit des Seins Gottes. Der Ansatz ist, dass man Korrelationen des Seins Gottes mit gewissen innerweltlichen Phänomenen abschätzt, z.B. damit, dass "wir einen Sinn für das Gute haben". – Wir haben aber schon oben in unserem Review des Abschnitts über NOMA gesagt, dass Wahrscheinlichkeitsberechnungen für nichtige Aussagen ihre Nichtigkeit nicht aufheben können.
Dawkins verspricht bessere Ergebnisse im nächsten Kapitel, durch die Anwendung von Unwahrscheinlichkeits-Berechnungen.
Er erwähnt hier auch das Theodizee-Argument: Gott würde in der Welt kein Übel zulassen; da es Übel in der Welt gibt, kann es folglich Gott nicht geben. Dawkins legt dar, dass dies lediglich ein Argument gegen einen guten Gott ist, und dass Güte nicht Bestandteil der Definition der Gott-Hypothese ist. –
Der Theodizee liegt aber eine grundsätzlichere Frage zu Grunde: ob die Welt gut oder übel ist, und nach welchen Kriterien. Das ist eine letzte Frage. Wenn "gut" die Antwort ist, warum sollte man sich um das Übel sorgen? Wenn "übel" die Antwort ist, warum wollen die Theologen weiter darin leben? Wenn die Antwort "weder gut noch übel" ist, dann ist wie in den anderen Fällen die nächste Frage: Woher wollen Sie das wissen? Haben sie schon mal eine geschaffen?
Jetzt kommt Dawkins zum entscheidenden Punkt in seinem Buch.
Er stellt die Frage: Woher kommt die äußerst unwahrscheinliche Komplexität, die wir in den heutigen Lebensformen vorfinden? Gott als ihren Konstrukteur anzunehmen, ist keine Antwort, weil es in eine logische Endlosschleife führt: Es erhebt sich dann nämlich die Frage, nach dem Ursprung eines solchen, noch viel komplexeren und unwahrscheinlicheren Konstrukteurs, und dann dem Ursprung seines Konstrukteurs, usw. Demgegenüber erklärt die Evolution durch natürliche Auslese mit großer Leichtigkeit, dass extreme Komplexität das Ergebnis einer extrem hohen Zahl von Einzelschritten ist, deren jeder einen kleinen, nicht sonderlich unwahrscheinlichen Zuwachs an Komplexität erzeugt hat, ausgehend von ganz simplen Anfängen. Dawkins legt die Evolution durch natürliche Auslese sogar anderen Naturwissenschaften nahe, als nützliches Modell für neue Theorien und als Lösung für Entstehungsfragen. –
Dawkins treibt einen beachtlichen Aufwand, um diesen Punkt klar zu machen. Er führt eine Reihe von Beispielen an und gibt dazu ausführliche Erläuterungen, auf die wir in dieser Kritik jedoch nicht einzugehen brauchen. Für unsere Zwecke ist es am besten, zuerst Dawkins' obigen entscheidenden Punkt zu behandeln, und danach in den einzelnen Anschnitten des Kapitels nach verbleibenden Rewiewpunkten zu suchen. Im Ergebnis werden wir dabei außer den beiden Abschnitten über das anthropische Prinzip alle anderen Abschnitte übergehen, da sie sich breit über Gegenstände auslassen, die wir in den vorigen Absätzen schon abgedeckt haben, und ansonsten von Auseinandersetzungen berichten, die sich auf der Ebene von Aussagen über das Sein Gottes bewegen.
–
Wer hat die Strukturen des Lebens konstruiert? Die konkurrierenden Antworten sind einerseits: Gott; andererseits: niemand, sie entwickelten sich natürlicherweise in kleinen Schritten.
Beide Antworten sind im faktischen Sinn falsch, aber zusammen sind sie in einem existenziellen Sinn wahr. Wenn wir auf die Grundlagen unseres Verstehens und die philosophischen Grundlagen der Wissenschaft schauen, dann müssen wir sagen, dass es unser Eigentliches Selbst ist, das die Welt und damit die Lebensformen konstruiert hat und konstruiert.
Wir sind es gewohnt, uns selbst so zu sehen, dass wir in unseren Körpern angesiedelt sind und von dort her die objektive Außenwelt wahrnehmen und in ihr handeln, während wir unsere Gedanken und Vorstellungen als innerlich ansehen. Diese Außen-Innen-Struktur ist bereits eine von uns selbst produzierte Konstruktion.
Im Grunde begegnen uns Phänomene, und wir verstehen sie von Anfang an. Tatsächlich gäbe es, wenn wir sie nicht verstehen würden, gar keine Phänomene, sondern nur unartikuliertes Rauschen. Diese Art von Verstehen geschieht nicht durch den Vergleich dessen, was uns begegnet, mit mentalen Konzepten. Die Phänomene sind vielmehr selbst schon die Konzepte. Wir schütteln jemand die Hand, und das trägt in sich alle die ineinander greifenden Konzepte davon mit sich, was das Händeschütteln mit wem und in welcher Art bedeuten und in unserem Umfeld ausdrücken kann.
Wir können spontan etwas Neues verstehen, das wir einen Moment zuvor nicht verstanden haben. Verstehen ist konstruktiv und resultiert in erweiterten oder neuen Konzepten. Niemand Anderes ist in diesen Prozess involviert außer uns selbst; wir sind die Konstrukteure dieser Konzepte. Die zugrunde liegende fundamentale Fähigkeit ist die Intelligenz. Wie die Schönheit ist sie nicht definierbar, eine Dimension unseres Seins in der Welt, und im Absoluten verwurzelt.
Während unserer Lebenszeit wächst die Menge der Phänomene, die wir verstehen, und erreicht enorme Mächtigkeit und Komplexität. Wir haben wohl ein gewisses Anfangsrepertoire von verstandenen Phänomenen geerbt, und wir haben eindeutig die Fähigkeit und den Antrieb, selbst neue Phänomene zu verstehen und das von anderen Menschen gezeigte Verstehen zu erkennen und zu kopieren. Wenn wir nach wenigen Jahrzehnten zurückschauen, sind wir beeindruckt, zu welcher Größe unser in Erfahrungen gesammelter Vorrat an Wissen und Fähigkeiten, d.h. unsere persönliche Welt gewachsen ist, alles aus kleinen Anfängen.
Wichtig ist das erworbene Verstehen der Kommunikation, da sie uns befähigt, viel von dem Verstehen unserer Eltern und anderer Menschen um uns herum zu übernehmen. Dies verschafft uns auch Zugang zu den Verstehensrepertoires, die sie ihrerseits von ihren Vorfahren übernommen haben, und die insgesamt das Verstehensrepertoire unserer Kultur ausmachen. Und schließlich verschafft uns die Kommunikation die Gemeinschaft des Verstehens mit den Anderen, die Objektivität entstehen lässt.
All das ist nicht auf unsere Außenwelt beschränkt. Als Phänomene genommen sind unsere Gedanken und Vorstellungen nicht weniger real als unsere Wahrnehmungen aus der Außenwelt, und wir lernen, sie zu verstehen und geschickt mit ihnen umzugehen. Wir lernen es, Außenweltphänomene mit mentalen Objekten der Innenwelt zu assoziieren, wir verstehen Abstraktion, und wir lernen, abstrakte mentale Objekte miteinander in Beziehung zu setzen. Und da sind wir nun und verstehen und konstruieren Theorien und setzen sie in Beziehung zu Phänomenen der Außenwelt. Wenn wir analysieren, dann konstruieren wir zu einem vorhandenen Konzept eine neue Unterstruktur und versuchen sie oder gewisse ihrer Implikationen mit Phänomenen der Außenwelt in Übereinstimmung zu bringen, d.h. aber: wir erhöhen die Komplexität.
In der Außenwelt begegnen uns ein Baum oder ein Kind, aber nicht ihre Subsysteme, nicht ihre hochkomplexen Lebensstrukturen. Diese sind Konstrukte, d.h. mentale Objekte, die in Theorien ihren Nutzen entfalten. Die Frage nach dem Ursprung der Komplexität des Lebens ist danach einfach eine Routinefrage danach, wie unsere Theorien fortgeschritten sind und aktuell fortschreiten. Was den vorliegenden Fall betrifft, so ist die Theorie von der Evolution durch natürliche Auslese ein guter Ansatz für den Fortschritt, da sie tatsächlich mit den zugeordneten Außenweltphänomenen übereinstimmt.
Um das von einer anderen Seite zu beleuchten: Beide, die Kreationisten und die Naturwissenschaftler, haben äußerst komplexe Theorien von den Strukturen des Lebens, und diese Theorien sind ihre Konstrukte und von ihnen zu verantworten. Wenn sie als Folge der Komplexität auf ungelöste Fragen stoßen, dann ist das ihre "Schuld". Jemand könnte sich beklagen: "Gott hilf, wir haben hier ein riesiges Komplexitätsproblem!" Aber wenn es Gott gibt, würde er wohl antworten: "Ihr habt die grundlegende Fähigkeit komplexe Welten zu konstruieren. Nur weiter."
Kommen wir zurück auf die verschiedenen Aspekte in Dawkins' entscheidendem Argument. Es ist darin treffend, dass logische Endlosschleifen für die Konstruktion von Theorien über die Außenwelt ungeeignet sind, und dass die Evolution in kleinen Schritten gut geeignet ist, um die hohe Komplexität der Lebensformen zu erklären.
Dagegen ist die Annahme falsch, dass diese Komplexität überhaupt nicht konstruiert sei. Sie ist von Generationen von Menschen in kleinen Schritten konstruiert worden. Die Behauptung, dass Gott sie konstruiert hätte, ist eine nichtige Aussage.
Diese zwei Abschnitte stellen einen argumentativen Trick gegen das Argument, dass eine zu hohe Unwahrscheinlichkeit der (Erst-)Entstehung des Lebens aus anorganischer Chemie erneut dafür spricht, Gott als Schöpfer des Lebens ins Spiel zu bringen.
Der Schritt von der anorganischen Chemie zu den ersten Lebensformen ist äußerst unwahrscheinlich, viel unwahrscheinlicher als in der Folge das Auftreten hoch-komplexen Lebens. (Die Struktur der folgenden Argumentation ist dieselbe, wenn man den Planeten durch das Universum ersetzt.) Damit Leben auf einem Planeten möglich ist, muss dieser Planet vorweg viele "lebensfreundliche" Eigenschaften an den Tag legen. Er muss flüssiges Wasser und andere chemische Substanzen bieten, die Temperaturen müssen dauernd in einem bestimmten, schmalen Band bleiben, was nur auf nahezu kreisförmigen Bahnen in einem gewissen Bereich von Abständen von einem Zentralgestirn möglich ist, usw. Die Wahrscheinlichkeit von Planeten mit diesen Eigenschaften ist sehr klein, und Leben ist dann wiederum vielleicht nur auf einem kleinen Teil von ihnen möglich. Andererseits ist die Zahl von Planeten in unserem Universum sehr groß. Insgesamt muss die Wahrscheinlichkeit, dass es überhaupt auf einer kleinen Zahl von Planeten Leben gibt, nicht unbedingt klein sein. Unser Planet ist einer von dieser kleinen Zahl, da wir ja Leben darauf haben. Das zeigt: Leben ist in der Tat möglich, und man braucht in dieser Argumentation keinen Gott, um den Ursprung des Lebens zu erklären.
Dawkins schreibt, dies sei "eine rationale, Schöpfer-unabhängige Erklärung dafür, dass wir uns in einer für unsere Existenz günstigen Situation vorfinden". Allerdings löst sie nicht das ursprüngliche Problem: zu erklären, wie das Leben auf der Erde beginnen und bleiben konnte. Das fehlende Glied in der Argumentation ist der letzte Schritt zum ersten Auftreten des Lebens. Die "für unsere Existenz günstige Situation" ist eventuell keine hinreichende Bedingung dazu, Leben hervorzubringen; irgendetwas noch Unbekanntes könnte zusätzlich erforderlich sein. Diese Lücke kann man nicht füllen, indem man erklärt: Da wir ja tatsächlich Leben haben, können wir sicher sein, dass irgendetwas die Lücke füllt. Mit gleichem Recht könnten wir dann auch sagen: Wir haben Leben; also muss es eine Theorie seines Ursprungs geben; also gibt es keinen Grund, uns weiter wegen der Theorie zu beunruhigen; es ist jedenfalls kein Gott erforderlich.
Für eine Erklärung des Ursprungs des Lebens gibt es keine Alternative dazu, dass man eine vollständige Theorie vorlegt.
Mit seiner Fassung des Tricks zelebriert Dawkins die fein abgestimmten astrophysikalischen Parameter und die Wahrscheinlichkeit ihres Vorkommens so, als ob das Leben auf der Erde davon abhinge. Der Trick legt den Fehlschluss offen. Wir haben das Leben auf der Erde sowieso. Es hängt nicht an der Qualität oder auch nur der Existenz einer Theorie. Es ist genau anders herum: astrophysikalische Theorien hängen vom Leben ab, denn wenn es nach ihnen kein Leben auf der Erde geben könnte, dann wären sie – die Theorien – offensichtlich falsch.
Dawkins meint, die Religion sei ein "großes Phänomen", das nur mit einer "großen Theorie" erklärbar sei. Und so unternimmt er es, die natürliche Auslese anzuwenden und Religion über ihre Vorteile in der natürlichen Auslese zu erklären. Er landet – wie er stillschweigend zu unterstellen scheint – bei einer guten Sammlung plausibler Erklärungen, die für eine vollständige und gesicherte Theorie nur noch weiter zu erhärten wären.
Er tut dies alles immer noch mit seiner impliziten Misch-Definition von Religion, die alles umfasst: jegliche religiösen Lehren, Formen und Gruppierungen – nur nicht eigentliche Religion. Fast das erste in diesem Abschnitt ist, dass er die ungeschriebene Definition weiter durcheinander bringt, indem er die Stammesreligionen hinzufügt. Diese, wie auch Kulte, sind eigentlich nicht als Religion einzuordnen sondern eher als primitive psychologische und soziologische Verfahrenstechniken, also weit entfernt von Dawkins' Gott-Hypothese. Wenn Dawkins die Wurzeln der Religion in Stammesreligionen ortet und damit suggerieren will, dass Religion in signifikantem Umfang Psychologie sei, dann haben wir hier die Situation, dass erwünschte Resultate in die Definition gepackt werden.
Dawkins geht verschiedene Aspekte durch, die zu einer Darwinistischen Erklärung von Religion beitragen könnten. In den letzteren beiden Abschnitten wird er fündig: Das Vorhandensein von Religion könnte ein Seiteneffekt irgendeines anderen menschlichen Phänomens sein, das einen Vorteil in der natürlichen Auslese darstellt, z.B. des kindlichen Gehorsams. Oder es könnte ein Nebenprodukt anderer, normaler, psychologischer Dispositionen sein, u.a.; des Körper-Geist-Dualismus, der Teleologie, der Fähigkeit sich zu verlieben. Er schlussfolgert, dass die Attribute der Religion in Hinblick auf diese menschlichen Dispositionen "bestens angepasst sind, um der Religion zum Überdauern im Schmelztiegel menschlicher Kulturen" zu verhelfen".
Es erhebt sich folgende Frage: Wenn Religion wahrscheinlich durch natürliche Auslese dahingehend erklärt werden könnte, dass ihr evolutionärer Nutzen deutlich würde, warum sollte man sie dann so wie in Dawkins' Buch bekämpfen?
Dawkins fügt hinzu, dass die religiösen Führer geschickt darin sind, die Attribute ihrer jeweiligen Religion entsprechend zu trimmen, und er zitiert in diesem Zusammenhang Luther, der gesagt hat, dass die Vernunft der größte Feind des Glaubens sei. Natürlich schlägt sich Dawkins auf die Seite der Vernunft. – Wann immer man einen Text liest, der mit Religion zu tun hat, wird man Sätze oder Ausdrücke darin finden, die unversehens einen gewissen Blick auf das Absolute eröffnen – wie wir ja schon an Definition des Glaubens bei Bierce gesehen haben. Sei es pro-religiöser Unsinn oder eine anti-religiöser Äußerung, es gibt immer zwei gegensätzliche Optionen: man kann die rationale Charakteristik herausarbeiten oder in der Gegenrichtung versuchen, eine versteckte existenzielle Bedeutung offen zu legen.
Dawkins tut regelmäßig das erstere. Am Ende des "Nebenprodukt"-Abschnitts stellt er acht Äußerungen eines hypothetischen christlichen Theologen der generellen Hauptrichtung in den Raum, sozusagen für eine anthropologische Studie, die zu erklären hätte, wie Menschen so einen Unsinn glauben können. Um ihre Irrationalität bloßzustellen, gestaltet Dawkins die ursprünglichen Inhalte weiter um, nachdem sie ja schon Ergebnisse von früheren Verzerrungen durch die Entwicklung der formalisierten Religion sind. – Luther hat recht: Das Pressen in Richtung Ratio schließt alle Türen zum Verständnis solcher Inhalte. Für den Fall, dass die Anthropologen doch nicht die richtigen Leute für die nötigen Erklärungen sein sollten, versuchen wir mit der folgenden Tabelle wenigstens einen Eindruck von der semantischen Verwerfung zu geben, die hier produziert wird. Sie stellt die acht Äußerungen den existenziellen Themen gegenüber, die darin (nur ungenügend) versteckt sind – keine Predigt, nur für das eigene Urteil der Leser.
Dawkins' Version |
Existenzielle Version |
Zur Zeit der Altvorderen wurde ein Mann von einer Jungfrau geboren, ohne dass ein biologischer Vater involviert gewesen wäre. |
Dem Mann wird zugeschrieben, dass er seine Lebenszeit aufgewandt hat um uns zu sagen, dass unser Dasein – wie seines – inhärent so ist, dass wir alle uns in der Lage von Söhnen und Töchtern eines göttlichen Vaters sehen können, der uns coacht, damit wir dieses Sein in der Welt meistern und unsere Talente mehren. |
Derselbe
vaterlose Mann wurde zu einem Freund namens Lazarus gerufen, der schon lange
genug tot war, um bereits zu stinken, und Lazarus erwachte prompt wieder zum
Leben. |
Falls wir in diesem Streben versagen und alles zusammengebrochen ist und wir das Gefühl haben, dass alles Leben aus uns gewichen ist, so ist unser Dasein doch so, dass wir aufstehen und an dem Punkt weiter machen können, an dem wir gerade sind. |
Vierzig Tage danach stieg der vaterlose Mann auf einen Hügel und verschwand körperlich in den Himmel.
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"Himmel" ist die antike Bezeichnung für "außerhalb der Welt". Unsere absolute Komponente, unser Authentisches Selbst kann vom Ende unserer persönlichen Welt nicht tangiert sein. |
Wenn man privat etwas vor sich hin murmelt, kann der vaterlose Mann und damit auch sein "Vater" (der er selbst ist) die betreffenden Gedanken hören und darauf hin in Aktion treten. Er kann simultan auch die Gedanken aller anderen Menschen auf der Welt hören. |
Die Welt ist attraktiv, wir ergehen uns in ihr und können uns in ihr verlieren, d.h. unsere existenzielle Situation völlig vergessen. Es ist eine besondere Anstrengung erforderlich, um das Absolute wieder in den Blick zu bekommen und die Lenkung wieder an unser Authentisches Selbst zurück zu geben. Das ist bei allen Menschen so. |
Ob man etwas Schlechtes tut, oder etwas Gutes, der besagte vaterlose Mann sieht alles, sogar wenn niemand sonst es sieht. Man kann dann entsprechend dafür belohnt oder bestraft werden, ggf. auch nach dem Tod. |
Wir wissen, dass es das "Gesetz" unseres Daseins ist, Leben und Lebensmöglichkeiten zu mehren, unsere eigenen und die der anderen Menschen. Indem wir Gelegenheiten dazu verpassen oder Lebensmöglichkeiten mindern oder sogar Leben verhindern, machen wir uns schuldig. Wir müssen diese Schuld sehen und verarbeiten (damit sie uns nicht unbewusst beherrschen kann), aber wir müssen trotzdem damit weitermachen Leben zu mehren. |
Die jungfräuliche Mutter des vaterlosen Mannes ist nicht gestorben, sondern sie "stieg" körperlich in den Himmel "auf". |
Jede Mutter hat ein absolutes Authentisches Selbst wie jeder andere Mensch, und sie kann sich darüber hinaus als Mutter von Kindern eines göttlichen Vaters sehen, im Sinne der Interpretation der ersten Äußerung oben. |
Brot und Wein, sofern von einem Priester gesegnet (der Hoden haben muss), "werden zu" Fleisch und Blut des vaterlosen Mannes. |
Der besagte Mann hat jeden aufgefordert, es ihm gleichzutun, d.h. seine Daseinshaltung identisch zu übernehmen. Wenn ich das tue, denke ich, dass das Fleisch und Blut meines wäre, meine Kreuzigung steht bevor, da sind die Soldaten, die mich foltern, meine Freunde sind verschwunden, die wenigen gebliebenen können mir nicht helfen und leiden mit, ich bin verloren. – Das nächste, was ich denke, ist, dass mich selbst in dieser Situation immer noch etwas trägt. |
Worüber wäre hier ein "eigenes Urteil" zu bilden? Zum Beispiel, ob der Mann vernünftig war, oder was die religiösen Eliten über zwei Jahrtausende aus seinen Einsichten gemacht haben. Oder ob es sinnvoll ist, Religion generell zu bekämpfen, was ja bedeutet dass man existenzielle Religion aus Gründen bekämpft, die bei der formellen Religion liegen. Oder ob das naturwissenschaftliche Fragen sind.
Bevor wir in die Details dieses Abschnitts gehen, sehen wir uns nur gerade noch seinen ersten Satz an: "Dieses Kapitel begann mit der folgenden Beobachtung: Weil die natürliche Auslese nach Darwin jegliche Verschwendung verabscheut, muss jedes allgegenwärtige Merkmal einer biologischen Art – auch die Religion – irgendeinen Vorteil in sich tragen, sonst hätte es nicht überlebt." –
Zu Beginn des Kapitels haben wir Ausdrücke wie "die Darwinistische Zwangsläufigkeit" als routinemäßige Abkürzungen für etwas ansonsten Vernünftiges genommen: dass es etwa lohnend sein könnte zu untersuchen, ob und in welcher Hinsicht Religion ein geeignetes Objekt für Darwinistische Erklärungen sein könnte. Aber derartige Ausdrucksweisen haben die Tendenz sich einfach durch Wiederholung und Nachahmung, zu verselbständigen und selbst-normalisierend zu werden, und damit den ursprünglichen Bezug zu verlieren. Weil Dawkins sich manchmal einen Spaß daraus macht, Unsinn Wort für Wort zugespitzt zu interpretieren, würde ihm vielleicht die folgende Interpretation seines Satzes gefallen: Darwins Theorie hat eine starke Emotion gegen Verschwendung und zwingt aus dieser Emotion heraus die Religion dazu, einen evolutionären Vorteil zu haben.
Die Theorie ist so mächtig, dass die Realität ihr zwangsweise gehorchen muss!
Zurück zu den nicht-wissenschaftlichen Memen: Dawkins behauptet, dass Meme [Gedankeneinheiten] und nicht Gene die im Ausleseprozess für die Religion entscheidenden Replikatoren sind. Er beschreibt deshalb das Konzept der Meme, und erörtert das Kopieren als ihren Reproduktionsmechanismus; die Selbst-Normalisierung als ihren Stabilisierungsmechanismus; die Fähigkeit, menschliche Kommunikation und Gedächtnisspeicher zu belegen, als ihr Überlebenskriterium; und Memplexe als Kartelle untereinander kompatibler Meme, die das Kopieren ihrer Mitglieder fördern.
Dawkins schlägt vor, dass in den frühen, noch nicht organisierten Stadien der memetischen Evolution der Religion einfache Meme aufgrund ihrer allgemeinen Wirkung auf die menschliche Psyche überleben, was auf eine Überlappung der Mem-Theorie mit der Theorie von der Religion als psychologischem Nebenprodukt hinweist. Die spätere Evolution der organisierten Religion könnte als Evolution von Memplexen erklärt werden, mehr oder weniger intelligent beeinflusst durch die Mitglieder der Organisation. –
Dies ist eine Metatheorie. Aber, dass Religion existiert und sich durch die Evolution von Memen und Memplexen ausbreitet und hält, ist nicht der Grund, warum wir ein Problem mit ihr haben. Das Problem liegt in den Inhalten der Meme und in der Tatsache, dass sie kopiert werden, ohne verstanden zu werden.
Derartige Kulte entstanden auf einigen Pazifischen Inseln noch im neunzehnten Jahrhundert, manche sogar erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihr Ursprung und ihre Entwicklung sind daher gut beobachtet und dokumentiert worden. Die Inseleinwohner sahen, dass die Besatzer nie irgendwelche Güter produzierten sondern alle Güter als Fracht empfingen. Daraus leiteten sie das Fundamental-Mem ihrer Kulte ab, dass Frachtgüter übernatürlichen Ursprungs seien, usw.
Dawkins behauptet, dass diese Kulte an den Wurzeln der Religion stehen und schlägt vor, aus den beobachteten Phänomenen vier allgemeine Schlussfolgerungen über der Ursprung der Religion zu ziehen: die erstaunliche Geschwindigkeit mit der Kulte aus dem Boden schießen; die Geschwindigkeit, mit der der Entstehungsprozess seine Spuren verschüttet; die Unabhängigkeit der Entstehung ähnlicher Kulte auf verschiedenen Inseln, die einen gemeinsamen psychologischen Hintergrund vermuten lässt; und die Ähnlichkeiten der Kulte mit älteren Religionen. Viele ältere Religionen dürften demnach von charismatischen Führern nach dem gleichen Schema ins Leben gerufen worden sein, und einige wenige davon hätten überlebt. Auch heute noch können wir nach dem Tod mancher charismatischen Personen den schnellen Aufstieg und die memetische Evolution von Kulten beobachten.
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Wo stehen wir am Ende dieses Abschnitts, und was haben wir erreicht? Dawkins hat zu seinem Religions-Begriff Psychologie und Kulte hinzugefügt, und er behauptet, dass sich Religion aus ihnen auf eine Weise entwickelt habe, die man als natürliche Auslese von Memen beschreiben könne.
Er macht nicht klar, ob er meint, dass heutige Religion ganz oder überwiegend aus Psychologie und Kult besteht, oder ob sich Religion irgendwann in der Vergangenheit davon gelöst hat und jetzt unabhängig ist. Im ersteren Fall hätte es nicht viel Sinn, die zeitgenössische Religion auf der Basis der Irrationalität ihrer Texte in Frage zu stellen. Im zweiten Fall würde die Erforschung der Wurzeln nichts zur Infragestellung der heutigen Religion beitragen.
Nehmen wir an, zeitgenössische Religion bestehe tatsächlich weitgehend aus Psychologie und Kult. Dawkins scheint überzeugt, dass Psychologie und Anthropologie dies im Prinzip beweisen könnten, wenn sie nur die Spuren der Meme und Memplexe verfolgten. Erst dann aber könnte er sagen, dass zumindest in diesem Teil der Religion kein Gott ist, weil alles darin nur menschliche, mentale Mechanismen sind.
Dawkins stellt aber nicht die Frage, ob es in der zeitgenössischen Religion noch andere Komponenten gibt als die auf Psychologie und Kult beruhenden. Höchstwahrscheinlich gibt es sie.
Die monotheistische Religion hat sich in ihrer Entstehung ausdrücklich von Kulten und damit von Psychologie distanziert, und diese Komponenten durch eine Fundamentalphilosophie des Daseins ersetzt. Das geschah zweimal, mit der Verfassung des Alten Testaments und mit der Begründung des Neuen Testaments. Man könnte möglicherweise in einem Mem-theoretischen Ansatz zeigen, dass in beiden Fällen die "Daseins-Meme" von älteren religiösen Memen ausgestochen bzw. bis zur Unsichtbarkeit überwuchert wurden, wobei die älteren Meme in diesem Prozess immer breiter angelegt und immer ausgefeilter wurden. Nur wenige Daseins-Meme überlebten unverändert, aber reproduktionsschwach, zum Beispiel im Buch Genesis, im Buch Hiob, und in einigen anscheinend authentischen Gedanken Jesu. Die übrigen haben in den Änderungen überlebt, die sie in konkurrierenden Memen bewirkt haben, zum Beispiel: "jeder Mensch ist ein Sohn oder eine Tochter Gottes" > "Jesus war der einzige Sohn Gottes" > "mit seiner göttlichen Macht besiegte Jesus den Tod und brachte der Menschheit die Erlösung". Man kann sogar sagen, dass die Daseins-Meme unter der Tarnung überlebten, die ihnen die konkurrierenden Meme boten.
Die Daseinsphilosophie-Komponente ist Dawkins eindeutig entgangen, aus den ziemlich offensichtlichen Gründen, dass es nämlich keine Wissenschaft vom Dasein gibt (und geben kann), und dass die organisierte monotheistische Religion als Letztes zugeben würde, dass sie die Lehren von Moses und Jesus verunstaltet hätten. Dawkins mag die Verfechter der Aussagen-Religion besiegen, aber um die Existenz Gottes auszuschließen, müsste er diese alles durchziehende Komponente der Religion besiegen.
Dawkins liefert in diesem Kapitel eine Reihe von Gründen, warum Gut-Sein in der Evolution von Vorteil sein könnte, und dafür, dass in der Tat viele Tierarten in ihrem Verhalten ein Gut-Sein zeigen. Er befasst sich mit moralischen Zwangslagen und zeigt, dass die Menschen weltweit gleiche Vorstellungen davon haben, was in bestimmten Beispielsituationen moralisch ist. Schließlich zeigt er das Scheitern verschiedener Ansätze, Moral zu begründen oder auch nur zu definieren. Das betrifft die philosophische Ethik sowie den religiösen und den patriotischen Absolutismus.
Dieses Kapitel erreicht letztlich kein Ziel. Im Grunde zerpflückt es ein Stück weit den Anspruch, dass die Moral irgendeine signifikante Korrelation mit Gott hätte. "Auch wenn es wahr wäre, dass wir Gott brauchen um moralisch zu sein, so würde das … die Existenz Gottes nicht wahrscheinlicher machen, sondern nur wünschenswerter …". –
Wir haben zuvor schon gesagt, dass kein innerweltliches Verhalten mit dem Absoluten in Beziehung gesetzt werden kann. Absolute Moral ist unmöglich. Moral muss immer innerweltlich entwickelt werden. Da unsere Welten stets wachsen, wird es stets auch neue ethische Fragen geben. Das erfordert, dass wir unsere beste Kompetenz und Einsicht aufwenden, um sie zu beantworten. Das ist schwierig genug, weil die Fragen gewöhnlich aus unvollständigem Wissen heraus entstehen und die Form von Dilemmas annehmen. Es gibt normalerweise keine Möglichkeit, die Antworten einfach aus den Sachverhalten abzuleiten.
Beiträge vorgeblich "absoluter" Moral von Seiten der Religion müssen aus diesem heiklen Prozess herausgehalten werden, weil sie nicht helfen, sondern den Prozess unausweichlich mit sachfremden Zusatz-Problemen belasten.
Die enorme Variabilität von Situationen verhindert ohnehin die Kodifizierung der Moral. Wir wissen das von den kodifizierten Gesetzen. Keine endliche Menge von Regeln wird je allen Situationen gerecht werden, die sie abdecken soll. Greifen wir das Beispiel vom Händeschütteln noch einmal auf: Wie viel Text wäre nötig, um zu beschreiben, unter welchen Umständen es moralisch ist, jemand die Hand zu geben und in welcher Weise? Man bedenke, dass solch eine Beschreibung eine Unmenge von Situationen erfassen müsste, einschließlich derer, dass man seiner Mutter nicht die Hand gibt, dass man bei einem Treffen von Staatsmännern einem Mörder kühl die Hand schüttelt, dass man einem Freund, der die Hand voller frischer Farbe hat, die Hand schüttelt oder nicht, und dass man die kleine, deformierte Hand einer Person anfasst, deren Mutter während der Schwangerschaft Thalidomid genommen hat.
Alle Versuche, die Welt durch Kodifizierung von Diagnosen und Regeln zu verbessern und so Gutes zu bewirken, scheitern notorisch, egal ob Kommunismus, freier Markt, oder religiöse Ethik. Glücklicherweise folgt aus demselben Grund auch, dass die Realisierung böser Absichten nicht immer das Böse zum Ergebnis hat.
Was hat Moral mit Gott zu tun? Dass die Moral der Kodifizierung widersteht, weist darauf hin, dass sie eine außerweltliche Wurzel hat. Wir haben das schon einmal erwähnt: Zu unserer Existenz gehört inhärent das Wissen darüber, was gut und was böse ist. Das Gute ist die Mehrung von Leben, unseres und das der anderen Menschen – das Böse ist das Versäumnis Leben zu mehren, die Verhinderung der Mehrung, die Minderung und die Zerstörung von Leben. Gut-Sein in der Welt ist nicht weniger schwierig als die Welt zu verstehen.
Dawkins führt zwei Weisen an, in denen die Bibel eine Quelle von Morallehren sein könnte: einerseits durch direkte Weisungen, z.B. die Zehn Gebote, andererseits indem Gott oder andere biblische Figuren als Vorbilder wirken. Er präsentiert dann eine Reihe Legenden aus dem Alten Testament, so grausam, dass sie – wahr oder erfunden – für ihn den Beweis liefern, dass sowohl Gott als auch die berühmten Urväter höchst unmoralisch und als Vorbilder total ungeeignet sind, und dass das Alte Testament ethisch gesehen eine Katastrophe ist.
Dieser Rewiew hat sich deshalb hier mit drei Themen zu befassen: mit der Positionierung der Zehn Gebote, mit der Anwendung moralischer Kriterien auf Gott, und mit der moralischen Beurteilung des Alten Testaments und seiner zentralen Figuren.
Dawkins ordnet die Zehn Gebote als moralische Regeln ein. Aber als solche wären sie mehrdeutig und unvollständig, und würden Gott als Autoren eines minderwertigen Regelwerkes zeigen, der dazu noch eine Drohung mit unkalkulierbaren Strafen aufgestellt hat, weil er anscheinend nicht sicherstellen kann, dass seine Regeln befolgt werden. Das kann nicht die Absicht des realen, menschlichen Autors der Zehn Gebote gewesen sein. Selbst die "wörtliche" Bedeutung eines Textes wie die Zehn Gebote, lässt sich nun einmal nicht gewinnen, indem man die Bedeutungen der Wörter zusammenkratzt und dann zu denken aufhört. Vernünftigerweise zu erwarten ist, dass ein Gesetzeswerk von einem absoluten Gott dann auch absolut ist, mit vorinstallierten, absoluten Wirkungen, und für uns Menschen unausweichlich. Wir würden ihm gegenüber keine Wahl haben, insbesondere keinen Spielraum für moralische Entscheidungen. Das Kriterium der Absolutheit erweist die moralische Interpretation der Zehn Gebote als schlichtweg falsch.
Aber wie können wir die absolute, existenzielle Bedeutung der Zehn Gebote in den Blick bekommen? Nicht überraschend mit Hilfe von Jesu Rezept für das "ewige" Leben: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt und deinen Nächsten wie dich selbst". Dies wird gewöhnlich so aufgefasst, dass es die Zehn Gebote durch eine bessere Regel ersetzt.
Es ist leicht zu erkennen, dass Jesu Satz dieselbe Struktur hat wie die Zehn Gebote: Im ersten Teil geht es um die Beziehung der Menschen zu Gott, im zweiten Teil um die Beziehung der Menschen zu anderen Menschen. "Ewig" verweist klar auf das Absolute. Ewigkeit ist kein menschliches Konstrukt wie die Zeit, nicht einmal wie "unendliche Zeit". Im Gegenteil: Ewigkeit ist "außerhalb der Zeit", abgelöst von der Zeit, absolut. "Gott lieben" kann nichts anderes bedeuten als eine positive Verbindung zum Außerweltlichen. Dies ist eine existenzielle Verbindung, und eine solche ist auch im zweiten Teil "liebe deinen Nächsten" gemeint: wisse dich mit den Mitmenschen positiv existenziell verbunden.
Die ersten drei der Zehn Gebote betreffen die Verbindung zu Gott: (1) Es gibt nur einen absoluten Gott, (2) die Verbindung zum Absoluten kann nicht funktionieren, wenn man nur versucht, sie innerweltlich zu begreifen, (3) während man in der Welt involviert ist, sollte man trotzdem nicht vergessen, die Verbindung regelmäßig aufzufrischen, weil sie die Tendenz hat zu schwinden.
Der zweite Teil der Zehn Gebote verbietet eine Anzahl von Taten, die übel für einen selbst und für die Mitmenschen sind. Kurz gefasst sagt er: zerstöre oder beeinträchtige kein menschliches Leben. Jesu Wort ist hier allgemeiner und umfassender: wir haben unsere Mitmenschen zu lieben, d.h. uns mit ihnen existenziell verbunden zu sehen. An anderer Stelle in der Bergpredigt geht Jesus näher auf die Folgen ein und sagt, dass es nicht genügt, Leben nicht zu zerstören oder zu beeinträchtigen – z.B. die Mitmenschen nur zu akzeptieren und ansonsten sich selbst zu überlassen. Wir sind in der Welt, um Leben zu mehren.
Damit endet unser kleiner Ausflug in die existenziellen Inhalte der Zehn Gebote und ihre Revision durch Jesus. Es zeigt sich, dass sowohl Jesus als auch der Autor der Zehn Gebote viel mehr über unsere Existenz wussten als wir heutzutage. Wir erkennen ja nicht einmal biblische Beschreibungen der Grundzüge unserer Existenz. Und selbst mit dem zeitgenössischen Humanismus und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte liegen wir immer noch hinter dem zurück, was die Menschheit schon vor Jahrtausenden über die Disposition unseres Daseins erkannt hat.
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In Verfolgung der zweiten Option, Gott als Vorbild, versucht Dawkins zu zeigen, dass Gott so, wie er im Alten Testament vorgestellt wird, nachweislich unmoralisch ist, weil er
- in der Sintflut viele Menschen und Tiere ertränkt,
- Lots Frau in eine Salzsäule verwandelt, allein wegen der geringfügigen Übertretung, dass sie zurückschaut,
- Abraham befiehlt, seinen Sohn zu töten und dadurch dem Kind zumindest eine traumatische Erfahrung zufügt,
- bei anderen Gelegenheiten eine Reihe von ethnischen Säuberungen befiehlt, oder befiehlt alle Leute zu erhängen, die dem Baal geopfert hatten, oder befiehlt, dass ein Mann gesteinigt wird, weil er am verbotenen Tag Reisig gesammelt hat.
Nach derselben Logik könnte jeglicher Schaden, der in der Welt begegnet, als Beweis dafür dienen, dass Gott unmoralisch sei. Was, wenn das an der Sache vorbeiginge, weil die Leute zur Zeit des Alten Testaments die Sicht gehabt hätten, dass Gott immer Recht hat, und sie anders als wir niemals auf die Idee gekommen wären, eine Immoralität Gottes ins Auge zu fassen – so, wie wir das Schicksal nicht als unmoralisch sehen, und von ihm auch keine Vorbildfunktion erwarten? Es ist eindeutig: ein absoluter, außerweltlicher Gott kann nicht in menschlichen, innerweltlichen Dimensionen gemessen werden.
Ansonsten ist nicht klar, auf welcher Basis Dawkins die Diskussion oder Probediskussion von Gott als Vorbild und moralischen Kriterien Unterworfenem führt. Weder aus der Behauptung, dass die Bibel faktisch wahr sei, noch aus der hypothetischen Definition, dass Gott übermenschlich und übernatürlich sei, folgt, dass Gott auf diese Weise diskutiert werden könnte oder müsste.
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Als dritte Möglichkeit, moralische Lehren aus dem Alten Testament zu extrahieren, untersucht Dawkins einige berühmte Figuren daraus: Lot bot seine Töchter zur Vergewaltigung an; später vergewaltigten ihn seine Töchter, nachdem sie ihn betrunken gemacht hatten; Abraham übergab seine Frau zweimal in königliche Harems; entschlossen, seinen Sohn zwecks Opferung zu töten, wurde er erst in letzter Minute gestoppt, aber da hatte er das Kind schon traumatisiert; der Militärführer Jephthah verbrannte seine Tochter; nach der Legende vom Goldenen Kalb ließ Moses 3000 Menschen töten; Joshua machte ganz Jericho nieder, Gebäude, Menschen, Tiere.
Diese Liste ist beeindruckend, und einige Sachverhalte, die auf den ersten Blick unmoralisch aussehen, mögen auch noch als unmoralisch stehen bleiben, nachdem man alle Details untersucht hat. Dawkins hält es – wie seine Opponenten, die die Bibeltexte als faktisch verstehen wollen – nicht für nötig, den politischen, sozialen und Wissens-Kontext des Alten Testaments und die jeweilige persönliche Situation der betroffenen Menschen als Fakten zu berücksichtigen. Das ist so, wie wenn ein Europäer einen Amerikaner als dumm – oder als überlegen – einschätzen würde, weil dieser am Nachmittag einen guten Morgen wünscht.
Die Schlüsselpersonen haben sich unmoralisch verhalten? – Ja, nach den Standards, die wir heute in einer Minderheit von Gesellschaften haben, wobei wir über die Ergebnisse von zweieinhalb Tausend Jahren moralischer Entwicklung verfügen, uns in einer Wohlstandssituation befinden, die uns davor bewahrt, existenziell gefordert zu sein, und wenn wir bei uns nicht näher hinsehen.
Wie groß war der Druck des Mobs auf Lot? Was kann man im späteren Leben von Mädchen erwarten, die in ihrer Jugend durch Vergewaltigungen traumatisiert und von ihrem Vater dazu geopfert wurden? Was kann man von ihrer Mutter erwarten, als dass sie im Rückblick auf die traumatischen Erlebnisse fixiert bleibt und ihr Leben erstarrt? Was ist die relativ beste, individuelle moralische Haltung, wenn alle wählbaren Alternativen in der Hand eines skrupellosen Diktators oder durch den Krieg bestimmt sind?
Ein noch schwerwiegenderer Fehler ist es, den moralischen Wert eines Textes nach dem Ethos ausgewählter Personen darin zu beurteilen. Ist ein Bericht über blutige Zeiten unmoralisch, weil er über blutige Handlungen berichtet? Kann er nicht eventuell hoch moralisch sein, wenn er die Folgen sowohl für die Täter als auch für die Opfer darstellt? Ist es keine wichtige moralische Lehre, dass auch erwiesene Vorbilder fehlbar sind, weil die Welt immer korrumpierende Kräfte auf Lager hat, die stärker sind als die Moral jeder als perfekt eingeschätzten Person? Ist es nicht moralisch erhellend zu beobachten, wie es einem Volk ergeht, das sich für ausgewählt hält, oder das es unternimmt, sich in einem neuen Heimatgebiet niederzulassen?
Unabhängig davon, ob man die Texte als faktisch oder erfunden ansieht, sind solche Fragen relevant. Moralische Urteile sind nie einfacher als das Verstehen der einschlägigen Fakten. Das ist eine Herausforderung angesichts des skizzenhaften und summarischen Stils des Alten Testaments. Aber wenn man dies in Rechnung stellt, kann man sogar aus dem begrenzten Belegmaterial, das Dawkins vorlegt, immer noch schließen, dass das Alte Testament eine viel versprechende, reiche Quelle wertvoller moralischer Lehren sein muss.
Nach ein paar Bemerkungen über den relativen moralischen Fortschritt, der sich in den Lehren Jesu zeigt, konzentriert sich Dawkins auf zwei wesentliche Züge der Christologie, wie sie nach Jesu Tod entwickelt wurden um an den Glauben der Juden anzuknüpfen: die Erbsünde und die stellvertretende Sühne [für die Sünden der Menschheit] durch das Kreuzesopfer Christi.
Demnach ist die ursprüngliche Sünde von Adam und Eva begangen worden, indem sie die verbotene Frucht gegessen haben, und von da an ist sie – die Sünde – auf die ganze Menschheit vererbt worden. Dann aber kam Gott in der Person seines eigenen Sohns Jesus auf die Erde herunter, und sein Opfer bewirkte die Sühnung der Erbsünde und aller anderen Sünden aller Menschen aller Zeiten, wenn sie nur an ihn glauben oder glaubten.
Dawkins bezeichnet die Lehre von der Erbsünde als "bösartig, sadomasochistisch und widerlich", und er bringt die Absurdität des Gedankens der Sühne folgendermaßen auf den Punkt: "um [Gott, d.h.] sich selbst zu beeindrucken, ließ Jesus sich foltern und hinrichten, und sich damit stellvertretend bestrafen für eine symbolische Sünde eines nicht existierenden Individuums?"
Dawkins hat Recht, aber keine der beiden Ideen – Erbsünde und stellvertretende Sühne – sagen aus, welche Handlungen und Unterlassungen in der Welt moralisch bzw. unmoralisch sind. Natürlich ist es unmoralisch, Kindern und mental schwachen Menschen die Vorstellung einzupflanzen, dass sie von Anfang an unwürdig, weil erblich sündhaft, seien.
Aber, wie schon im vorigen Abschnitt, gibt sich Dawkins wieder damit zufrieden, den Text mit der am wenigsten umsichtigen Interpretation abzuqualifizieren. Besser als eine Interpretation als dumm zu erweisen, ist es, zu zeigen, wie eine vernünftige Interpretation aussehen könnte.
Erbsünde: Nachdem sie die verbotene Frucht gegessen haben, können Adam und Eva gut und böse unterscheiden. Leben mehren ist gut, Leben nicht zu mehren, zu mindern oder zu zerstören ist böse. Und Adam und Eva werden aus dem Paradies hinaus geworfen. Das ist genau unsere existenzielle Situation. Wir sind in eine Welt "geworfen", die fern ist vom Paradies und von Gott. Die theologische Definition von "Sünde" ist "Entfernt-Sein von Gott". "Erbsünde" ist einfach das Getrennt-Sein vom Außerweltlichen, und das ist eine grundlegende Eigenschaft unseres Seins in der Welt. Natürlich kann es dafür keine Strafe geben. Es ist nur so, dass einem, wenn man es nie schafft, in eine Sichtlinie des Außerweltlichen zu kommen, der Zugang zur Seligkeit blockiert bleibt; denn Seligkeit erfordert, dass man sieht, dass das Dasein absolut gut ist.
Erlösung: Es gibt böse Taten und Unterlassungen in der Welt, aber ihre Konsequenzen materialisieren sich ebenfalls in der Welt. Aufgrund des Zweiten Gebots kann es weder eine außerweltliche Buchhaltung für innerweltliches, menschliches Verhalten geben, noch einen Mechanismus, wie gnadenvoll auch immer, der ein innerweltliches Opfer in die Löschung von Posten in so einer Buchhaltung umsetzen könnte. Somit gibt es keine Sühne. Schuld (dieser Begriff ist hier passender als "Sünde") ist schlicht und einfach vergeben. Die existenzielle Bestimmung ist die Mehrung von Leben, und nicht das Schwelgen in Schuld. Wenn wir die Folgen unserer bösen Taten in der Welt nicht überkompensieren, dann versagen wir gleich wieder gegenüber dieser Bestimmung. Wenn wir unsere Schuld nicht in einer Nachlese verarbeiten, um Leben besser mehren zu lernen, dann werden wir weitere Male auf dieselbe Art versagen. Wenn wir Betroffene der Schuld anderer sind und nicht vergeben können, dann wird uns das eine längere Zeit beherrschen und uns so Zeit und Energie von unserer Bestimmung abziehen.
Jesus brachte Erlösung, indem er u.a. den Menschen diese Sicht brachte.
Man mag diesen Betrachtungen eventuell nicht folgen. Man mag nicht sehen, worauf sie zeigen sollen. Sie sind nicht intellektuell herausfordernd, die Herausforderung liegt eher darin, von allem los zu kommen, was wir in unserer Welt antreffen, wissen und denken, und dann zu schauen, was bleibt; unsere fundamentale existenzielle Situation in den Blick zu bekommen. Aber es sollte klar geworden sein, dass dies pure Philosophie ist und gewisse, irritierend verzerrte Erzählungen aus der Bibel treffend erfasst und erklärt.
Wir halten fest: Dawkins demonstriert, dass es inadäquate Interpretationen der Bibel gibt. Aber seine Gründe, die Bibel abzuqualifizieren und zu verwerfen, sind unzureichend.
Um die Behandlung dieses Abschnitts abzuschließen: Bald nach Jesu Tod wurden die beiden an sich richtigen Ideen der Erbsünde und der Erlösung durch gedankliche Konstruktionen ersetzt, die den Vorstellungen der damaligen jüdischen Religion entgegenkommen und den Juden den Übertritt ermöglichen sollten. "Sünde" wurde durch den zeitgenössischen Begriff von Unmoral ersetzt, und "Erlösung" wurde zu einer komplizierten Sühne-Struktur aus außerweltlichen und innerweltlichen Elementen – und damit nichtig. Die religiös wertvollen, ursprünglichen Ideen wurden allesamt auf den Müll geworfen. Die moralische Lektion hieraus ist, zu erkennen, was mit eigentlicher Religion geschieht, wenn Menschen versuchen, sie mit innerweltlichem Machtgebaren zu verbreiten.
Die Welt ist voller Feindseligkeiten gegen Menschen außerhalb der eigenen Gruppe, und ihr Spektrum reicht von lokalen Rivalitäten bis hin zu Krieg und Völkermord. Das Schlüsselkonzept, das dies trägt, ist die Ethik innerhalb der Gruppe und wird vorwiegend von der Religion definiert. Offensichtlich ist die Bibel voll von alledem, inklusive angeblich von Gott angeordneter, extremer Grausamkeiten. Wenn es seither Fortschritte gegeben hat, sei es durch größere Eigengruppen oder durch geringere Aggressivität, dann sind sie gegen die Religion erreicht worden.
Dawkins schließt daraus, dass der ausgrenzende Charakter der Religion "allein schon ausreichen würde, sie zu einer bedeutenden Quelle des Übels in der Welt zu machen". Er zitiert sogar Rushdie: "Der Name des Problems ist Gott".
Nein, der Name des Problems ist Aussagen-Götter.
Religiös motivierte oder etikettierte Fremdgruppen-Feindschaft ist ein hoher Preis, den die Menschheit dafür bezahlt, dass sie den direkten, persönlichen Blick auf Gott vermeidet. Andernfalls würden die Menschen sehen, dass Gott absolut ist und deshalb mit nichts in Verbindung gebracht werden kann, insbesondere nicht mit Moral oder Feindschaft. Und sie würden sehen, dass die Eigengruppe alle im Absoluten verwurzelten Wesen, jedenfalls die ganze Menschheit umfasst.
Ethik kann nicht "religiös" oder "gottgegeben" sein. Sie ist Menschenwerk und an ihren Wirkungen zu messen und keineswegs an ihren Intentionen. Gutgemeinte Ethikoffensiven führen wie jeder andere Versuch, die Welt zu verbessern, zu einer Überproduktion von Übel.
Dawkins illustriert, wie sich der Zeitgeist fortentwickelt, einschließlich des allgemeinen Einverständnisses darüber, was moralisch akzeptabel ist. Als Beispiele berührt er das Frauenwahlrecht und behandelt ausführlicher die Rassendiskriminierung. Sein Punkt ist der, dass der Fortschritt des Zeitgeists – zugestandenermaßen mit örtlichen und zeitlichen Rückschlägen – eine beobachtbare Tatsache ist, und dass dieser Fortschritt nicht von der Religion angetrieben wird – und gewiss nicht von der Bibel.
Er reizt diesen Punkt weiter aus und schreibt, dass "der Fortschritt mehr als genügt, um den Anspruch zu untergraben, wir brauchten Gott, um gut zu sein oder zu entscheiden, was gut ist". Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Dawkins in seinem Buch effektiv die Aussagen-Götter bekämpft, sollten wir dies einmal in Hinblick auf den eigentlichen Gott überprüfen.
Dawkins konkretisiert seine weitgehende Behauptung, indem er einen Satz von "Neuen Zehn Geboten" zitiert und dazu noch ein paar eigene Erweiterungen beisteuert. Das sei eine angemessene und zustimmungsfähige "Art von Liste, wie sie jeder normale, anständige Mensch heutzutage aufstellen könnte".
Aber wir haben ja schon zu Beginn des Kapitels 6 angeführt, wie schwierig es ist, mit endlichen Texten der enormen Vielfalt von Lebenssituationen gerecht zu werden. Das gilt für jeden Satz ethischer Regeln, einschließlich der alten und jeglicher neuer Zehn Gebote. Sie helfen niemals in Zwangslagen, und Zwangslagen kommen nun einmal vor.
Das einzige, was wirklich hilft, ist Haltung. Eine Haltung kann einen durch unkalkulierbare und unvorhersehbare Situationen leiten. Wenn man eine Konferenz beeindrucken will, dann nimmt man am besten vorher die richtige Haltung ein; die Teilnehmer werden sie erkennen, und man wird die ganze Zeit wissen, was man zu sagen hat. Woher können wir die richtige Haltung für unser Leben bekommen? Zum Teil durch die Lektionen, die uns das Leben erteilt – das gilt für jedermann und kann, über viele Menschen betrachtet, auch den Zeitgeist voranbringen. Man kann aber nicht Jahrzehnte und Jahrhunderte warten? Die einzige andere Chance ist, das Absolute in den Blick zu bekommen. Im Verhältnis zur Intensität dieses Blicks wird die persönliche Haltung gegenüber der Welt optimal aus-gerichtet.
Dawkins weist darauf hin, dass es nicht die geringsten Anzeichen gibt, dass Atheismus systematisch Menschen dahingehend beeinflusst, Böses zu tun. Hitler und Stalin sind mehr oder weniger Atheisten gewesen, aber sie haben unabhängig davon ihre Übeltaten nicht im Namen des Atheismus angerichtet. Kein einziger Krieg in der Geschichte ist im Namen des Atheismus gekämpft worden.
Man beachte, dass in Dawkins' Verständnis "Gott" der ist, den die offiziellen Lehren der monotheistischen Religionsgemeinschaften als solchen präsentieren, d.h. ein Aussagen-Gott. Alle Übel und alle Kriege, die im Namen dieser Lehren über die Welt gebracht wurden, gehen zu Lasten von Aussagen-Göttern und sind daher in Wahrheit gottlos und gegen Gott.
Dawkins stellt an den Anfang dieses Kapitels einen Text von George Carlin, der es wert ist, hier ungekürzt wiedergegeben zu werden:
Die Religion hat die Menschen überzeugt, dass im Himmel ein unsichtbarer Mann wohnt, der alles sieht, was man tut – jeden Tag jede Minute. Dieser unsichtbare Mann hat eine Liste von zehn Dingen, die man nicht tun soll. Wenn man aber doch eines dieser zehn Dinge tut, dann schickt er einen an einen besonderen Ort erfüllt mit Feuer und Rauch und Flammen und Folter und Angst, damit man dort für immer lebt und leidet und brennt und erstickt und schreit und weint bis ans Ende der Zeiten … Aber er liebt dich!
Dies ist eine ziemlich richtige Zusammenfassung einer religiösen Lehre, und Dawkins will unter anderem herausstellen, dass sie total vernunftwidrig ist. Es bleibt allerdings erstaunlich, dass er den kleinen Schritt vorwärts nicht schafft zu erwähnen – und anscheinend nicht erkennt –, dass das, was so vernunftwidrig gelehrt wird, eigentlich nicht Gott sein kann; dass jemand, der auf diese Art lehrt, wohl inkompetent in Bezug auf Gott sein dürfte; und dass deshalb mit der Widerlegung solch einer Lehre eventuell gar nichts Bedeutendes erreicht ist.
In den einzelnen Abschnitten dieses Kapitels berichtet Dawkins über einige der – mit seinen Worten – schlimmsten Gräuel, die die Religion in jüngster Zeit hervorgebracht hat. Er stellt fest, dass in allen diesen Fällen – entgegen der verbreiteten Erwartung – diejenigen Menschen, die Verbrechen im Namen der Religion verüben, das, was sie zu glauben angeben, auch tatsächlich glauben. Er behauptet, dass Extremismus allein als Erklärung nicht ausreicht, denn die Hauptströmungen der Religion und ihre religiösen Führer lieferten ja die Inhalte und die erzieherische Vorbereitung. Um diesen Strom von unhinterfragter, Fragen entmutigender, schädlicher Religiosität abzustellen, müsse die Gesellschaft dem automatischen Respekt für den religiösen Glauben ein Ende machen und die Kinder lehren, ihren Glauben in Frage zu stellen und zu durchdenken, d.h. ihnen eine rationale Haltung gegenüber der Religion beibringen.
Fürs Erste ein paar modellhafte Fragen: Was ist Religion? Was ist religiös? Was ist Glaube? In welcher Beziehung stehen sie zu dem breiten Spektrum religiöser Lehren, Theologien, und organisierten Glaubensgemeinschaften? Ist das alles dasselbe, wie es Dawkins nahe legt, indem er es ohne differenzierte Definitionen diskutiert?
Welche mentale Ausstattung ist nötig, um Glauben nicht unhinterfragt durchgehen zu lassen, sondern Glaubensinhalte zu "durchdenken"? Was sind die empfohlenen Antworten auf welche religiösen Behauptungen und sonstigen Ansprüche? Es gibt keinen Gott? Es gibt keinen Glauben? Alles Religiöse ist faktisch und also falsch? Alles Religiöse ist symbolisch und daher nicht wirklich von Bedeutung? Vernunft, gesunder Menschenverstand, Objektivität und Naturwissenschaft bilden den gemeinsamen Standard?
Wie soll man sicherstellen, dass sich die Leute davon überzeugen lassen? Wie überzeugt man die vielen, die "aus sich heraus" an einen außerweltlichen Gott glauben, wie z.B. den Gott Einsteins? Was genau soll man Kindern beibringen angesichts des Umstands, dass Religion nun einmal in der Welt ist und Begegnungen mit ihr unvermeidlich sind?
Und wie will man alle diese Fragen beantworten, mit nicht mehr ausgestattet als kritischem Wissen über die Symptome von Religion, und ohne jegliches positives Wissen, das es ermöglichte, religiöse und pseudo-religiöse Phänomene zu unterscheiden? Dawkins doziert, dass "… der Glaube in Ermangelung jeglicher objektiven Rechtfertigung auch keine Maßstäbe vorweisen kann, die man pervertieren könnte". Wie will man das wissen, ohne ihn komplett ausgegraben zu haben?
An dieser Stelle stößt Dawkins' Ansatz, Religion letztlich nur dadurch zu definieren, indem er sie kritisiert, an seine Grenzen. Er hat keine positive Alternative, um den Platz zu füllen, den die Religion derzeit einnimmt. Die Wissenschaft kann diese Alternative auch nicht sein, da sie ja nicht einmal beweisen kann, dass es außerhalb ihrer Reichweite nichts gibt. Die Dinosaurier irrationaler Religion mögen dem Untergang geweiht sein, aber der große Meteor ist nicht zu erwarten.
Dawkins zitiert das Beispiel eines gealterten Wissenschaftlers, dessen lange Zeit aufrecht erhaltene Theorie schließlich von einem Kollegen widerlegt wurde und der diesem Kollegen öffentlich dankte: "Mein lieber Kollege, ich möchte Ihnen danken. Ich habe mich 15 Jahre lang geirrt". Dawkins bemerkt dazu: "Kein Fundamentalist würde je so etwas sagen".
Wie bildet sich das auf Religion ab? Eigentliche Religion hat nicht nur das Zweite Gebot zur Entlarvung von religiösem Unsinn, sondern sie hat die positiven Inhalte zum Ersatz von Aussagen-Gott-Religion. Die annähernd zeigenden Reden der eigentlichen Religion würden kontinuierlich und automatisch abgelöst durch sich entwickelnde, besser zeigende Reden. Wahrhaft religiöse Menschen wäre mehr als dankbar, wenn die Fehler von zweitausend Jahren endlich korrigiert würden.
Dieses Kapitel setzt die Berichte über religiös begründete Unmoral fort, nun mit dem Schwerpunkt Kindesmisshandlung. Vor allem mentaler Missbrauch in Form von zu früher, starrer, religiöser Prägung kann ein beträchtliches Potenzial für die weitere Entwicklung des Kindes blockieren. Dawkins weist auf die Gemeinsamkeit der mentalen und der physischen Kindesmisshandlung hin, dass sie nämlich das wahre Selbst des Kindes verleugnen.
Er hat recht und wir können das nur unterstreichen: Sich an dem Eigentlichen Selbst eines Kindes zu vergehen ist ein Verstoß gegen die grundlegende Disposition der Existenz.
Dawkins hat nicht im Sinn, Kindern jeden Umgang mit religiösen Texten vorzuenthalten. Er schlägt vor, die Bibel und andere "heilige Bücher" als Lehrmaterial zu benutzen, weil viele wertvolle Literatur darauf aufbaut. Das würde die Lernenden belesen in religiösen Texten machen, sie würden nicht indoktriniert sondern einen gesunden Abstand gelehrt, sodass sie von dieser Basis aus anfangen könnten, ihre eigene Position zur Religion zu entwickeln. –
Freilich bleibt die Lücke, die wir im Review des vorigen Kapitels schon aufgezeigt hatten, weiterhin offen und vergrößert sich sogar noch: Man könnte die Kinder doch nicht mit den biblischen und anderen Texten sich selbst überlassen, ohne ein Konzept dafür, wie sie sie verstehen sollten. Welche Kompetenz sollte den Kindern mitgegeben werden, damit die grundlegenden religiösen Texte für sie Sinn machen – und nun auch noch darüber hinaus die Darstellung von religiösem Glauben in der höheren Literatur? Die Kompetenz, alles Irrationale abzulehnen, würde jedenfalls nicht ausreichen.
Was aber würde ausreichen?
Kinder verstehen die Exstenz besser als Erwachsene, und sie fürchten sie nicht. Sie wissen, dass es ihre Aufgabe ist, mit den anderen zusammen zu wachsen, und sie vertrauen absolut darauf, dass sie das können. Die Erzieher müssen die Aufgabe der Kinder ernst nehmen, zu wachsen und Leben zu mehren, und sie müssen deshalb diese Haltung der Kinder durch alle jugendlichen Anfechtungen und Fehlschläge hindurch aufrechterhalten und die Jugendlichen auf eine ebenso vertrauenssichere, expansive und kooperative Erwachsenenhaltung hin trainieren, unabhängig von dem künftigen gesellschaftlichen Status des oder der jeweiligen Erwachsenen.
Ein zu fürchtender Gott ist ein großes Hindernis auf diesem Weg. Urvertrauen trotz nachhaltigem Versagen und über Schicksalsschläge hinweg zu behalten, ist unmöglich ohne eine unerschöpfliche, d.h. absolute Motivationsquelle.
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Die letzten drei Kapitel hindurch – über die Immoralität der Religion und ihrer Verfechter – formuliert Dawkins keine wirksamen Gegenmaßnahmen sondern beschränkt sich auf eine unausgesprochene Konsequenz: Menschen, die glauben, dass man sich nicht so übel verhalten sollte, sollten einfach der Religion nicht folgen, oder besser gegen sie die Stimme erheben.
Das beantwortet allerdings nicht seine Frage, was mit der Religion nicht stimmt. Dawkins zeigt eine Auswahl äußerst schlimmer Symptome und folgert, dass der Patient am besten tot wäre. Das wird aber aus den weiter oben genannten Gründen nicht passieren.
Es bringt auch Dawkins' Anspruch nicht weiter, dass es keinen Gott gebe. Wenn alle religiösen Organisationen weg wären, würde das die Existenz eines absoluten, außerweltlichen Gottes nicht tangieren.
Wenn es um Religion und Kinder geht, nimmt Dawkins eine härtere und schärfere Position ein und schlägt vor, Kinder zu einer autonomen Haltung gegenüber der Religion zu erziehen. Unglücklicherweise ist die Ausführung nur skizziert und sieht nicht viel versprechend aus.
Dem Kapitel geht auch hier wieder ein Zitat voran, diesmal von Michael Shermer:
Was kann eine Seele mehr erschüttern als durch ein 2,5-Meter-Teleskop auf eine weit entfernte Galaxie zu blicken, ein 100 Millionen Jahre altes Fossil oder ein 500000 Jahre altes Steinwerkzeug in der Hand zu halten, vor der unermesslichen Kluft in Raum und Zeit zu stehen, die der Grand Canyon ist, oder einem Wissenschaftler zuzuhören, der der Erschaffung des Universums ins Gesicht gesehen hat und nicht erschrocken ist? Das ist tiefe und heilige Wissenschaft.
Die Antwort lautet: alles Beliebige. – Wir werden darauf zurückkommen.
Dawkins erläutert die Kapitelüberschrift, wie folgt: "… könnte es sein, dass Gott eine Lücke verstopft, die wir besser mit etwas Anderem füllen würden? Vielleicht mit Naturwissenschaft? Kunst? Menschlicher Freundschaft? Humanismus? …". Er nimmt für sich in Anspruch, in vorangegangenen Kapiteln zwei Hoffnungen der Religion zerschlagen zu haben, nämlich "unsere Existenz sowie die Natur des Universums, in dem wir uns befinden, zu erklären" und "die Menschen Moral zu lehren". Und er kündigt an, sich in diesem Kapitel mit den verbleibenden zwei Ansprüchen zu befassen: die Menschen zu trösten und sie zu inspirieren.
Manches Kind hat einen imaginären Freund als Subjekt, der ihm über das Alleinsein hinweg helfen soll und dem es vertrauen kann. Dawkins vertritt die Idee, dass für Erwachsene – aufgrund derselben psychologischen Veranlagung – Gott die Rolle dieses imaginären Freundes spielt. Wenn dann Gott wegfiele, würde das eine entsprechende Lücke reißen.
Nach über 90% seines Buchs weicht Dawkins von seiner impliziten Definition ab, Gott sei das, das was die religiösen Organisationen als Gott präsentieren. Plötzlich zieht er eine eigene Definition heraus, die auf einen psychologischen Pappkameraden hinausläuft. Nichts deutet darauf hin, dass dies eine repräsentative Definition sein könnte. Wenn dieser Gott verschwände, würde es wohl niemand merken. Es würde weder den Gott der religiösen Organisationen noch den echten Gott tangieren.
Religion kann Menschen trösten. Dawkins breitet zunächst die Argumente aus, dass ein psychologischer Effekt wie der Trost Religion nicht wahrer macht und dass ein psychologischer Bedarf an Gott nicht beweist, dass Gott existiert.
Auf der Basis der Lexikon-Definition von "Trost", d.h. der "Linderung von Kummer oder anderem mentalem Leid", steigt Dawkins in die Details ein. Er erwähnt kurz "direkten physischen [!] Trost", konzentriert sich dann aber auf "Trost durch Entdeckung eines zuvor nicht wahrgenommenen Sachverhalts oder einer zuvor nicht entdeckten Sichtweise auf die Gegebenheiten. Eine Frau, deren Mann im Krieg umgekommen ist, fühlt sich unter Umständen getröstet, wenn sie feststellt, dass sie von ihm schwanger ist oder dass er als Held gestorben ist." Dawkins wendet sich schnell einem anderen Thema zu und behandelt ausführlich die Todesfurcht sowie Sichtweisen, die sie eventuell mildern. Das gipfelt darin, dass er mit Bertrand Russel vorschlägt, "die behagliche Wärme der traditionellen humanisierenden Mythen" zu verlassen und sich von der frischen Luft der Wissenschaft Kraft zu holen.
Anschließend vergleicht er Religion und Wissenschaft hinsichtlich ihres Vermögens zu trösten. Für den direkten physischen Trost geht der Vergleich, wie folgt: "… es ist ganz und gar plausibel, dass die starken Arme Gottes selbst dann, wenn man sie sich nur einbildet, genauso trösten können wie die realen Arme eines Freundes, oder wie ein Bernhardiner mit einem Schnapsfässchen am Hals [einen Mann trösten kann, der auf einem kahlen Berg festsitzt und übernachten muss]. Aber natürlich kann auch wissenschaftliche Arznei trösten – in der Regel sogar wirksamer als Schnaps".
Beim Vergleich für den Trost durch neue Sichtweisen gesteht Dawkins zu, dass Menschen in schrecklichen Unglücksituationen oder in Todesangst Trost aus der Religion schöpfen können, aber er stellt auch fest, dass falscher Glaube denselben Effekt haben kann. Wiederum wendet sich der Text schnell den Fragen um die Furcht vor dem Tode zu und
- merkt an, dass sie sich nicht mit religiösen Erwartungen eines Lebens nach dem Tode verträgt,
- diskutiert das Sterben mit Schmerzen und bedauert, dass es – anders als bei einem Tier – in dieser Situation verboten wäre, ihm unter einer Vollnarkose das Leben zu nehmen,
- zitiert eine vormalige Leiterin eines Seniorenheims dahingehend, dass es gerade die religiösen Menschen sind, die den Tod am meisten fürchten,
- und spendiert schließlich zwei Seiten für das Fegefeuer und die Verfahren, um die Aufenthaltsdauer vorab durch Geld und Gebete zu verkürzen.
Die nicht ausgeführte Schlussfolgerung ist die, dass Gott und Religion zumindest nicht helfen, die Furcht vor dem Tod zu überwinden. Also kann es hier auch keine Lücke geben, die mit etwas Anderem gefüllt werden müsste.
Das ist alles, was Dawkins über den Trost zu sagen hat: ein paar oberflächlich behandelte Beispiele und eine Diskussion über die Furcht vor dem Tod, umfunktioniert in eine Diskussion der Furcht vor dem Sterben. Natürlich ist er in seiner Gestaltung frei, und es mag so das Beste für seine Zwecke sein. Aber es wird der Bedeutung des Stoffes nicht gerecht.
Als Beispiele für Angelegenheiten, die Gegenstand von Trost sein können, bietet Dawkins: die Beschwerlichkeiten eines Mannes nachts auf einem kahlen Berg; ein Ereignis, das ein Kind zum Weinen bringt; die Gefühlslage einer Frau, deren Mann gerade gestorben ist; die Konfrontation mit Verlusten in einem Erdbeben; und die Furcht vor dem Tod. Seine Beispiele von Abhilfen außerhalb der Religion sind: "wissenschaftliche Arznei" und Rationalisierungen vom Typ: nach dem Tod ist wie vor der Geburt.
Machen wir uns ganz klar, was das alles bedeutet: Wenn jemand in einer Situation ist, die Trost erfordert, dann ist es ein psychologisches Problem, das zur Lösung ansteht. Ihr Ehepartner ist gestorben? Sie haben bei einem Erdbeben ihr Haus verloren. Holen Sie sich psychologische Hilfe oder ertragen Sie es irgendwie. – Dein Lieblingsteddy ist in den Fluss gefallen? Eine starke Umarmung und beschwichtigende Worte genügen. – Sie fürchten sich vor dem Tod? Sehen Sie es doch einfach rational.
Mit dieser Position endet Dawkins' Analyse.
In Wirklichkeit brauchen Menschen viel wirksameren Trost in dem Fall, dass sie nicht wissen, wie sie weiterleben sollen. Wenn einem eine "Welt" zusammengebrochen ist, wenn ein signifikanter Teil des Lebens plötzlich unmöglich – "tot" – ist, dann ist die Existenz in Frage gestellt und das Problem ist kein geringeres als Auferstehung.
Die Frage "leben oder nicht leben" hat keine wissenschaftliche Antwort, nicht einmal eine innerweltliche Antwort, weil die Welt, und die Wissenschaft eingeschlossen, Teile des Lebens sind, das gerade in Frage steht.
Es gibt allerdings eine religiöse Antwort (im Folgenden lese man immer das implizite Präfix mit: "es ist, wie wenn"):
Sein heißt zum Sein fähig sein. Solange wir leben, sind wir fähig, einen nächsten Schritt zu tun. Es bleibt einem immer ein Stück "bekannte Welt", in der wir leben können und beginnen können, uns neue Welt zu erschließen. Das Leben mag stark eingeschränkt sein, aber wir können immer da anfangen, wo wir gerade stehen, und dann wachsen bis zum Ende unseres Lebens, in manchen Richtungen sogar "exponentiell" wachsen.
Indem Dawkins die Lexikon-Definition von "Trost" übernimmt, akzeptiert er interessanterweise auch, dass nicht-mentale, faktische Probleme nichts weiter erfordern als faktische Reaktionen, auch wenn die Reaktion nur Ertragen ist, falls es sonst keine Lösung gibt. Wie wichtig ist es, von wo aus wir starten? Warum zusammenbrechen, wenn die Herausforderung einfach ein neuer Anfang ist? Wir haben ohnehin keine Wahl. Stecken wir also unsere Köpfe in die frische Luft der Veränderung und atmen ihre neue Kraft!
Können wir in dem vorigen Satz "Veränderung" durch "Wissenschaft" ersetzen, wie Dawkins es tut? Ja, aber die Wissenschaft ist nicht der Ursprung sondern abhängig von derselben positiv motivierten, offenen, vertrauensvoll neugierigen Haltung, die existenziell den äußersten Trost und die Auferstehung ausmacht.
Gibt es eine wissenschaftliche Basis für diese Haltung? Nein, nichts in der Welt kann unsere Haltung gegenüber der Welt definieren.
Wenn wir unsere Steuerungsmittel aufgeben, dann übernehmen die Spielregeln der Welt die Steuerung, und wir werden bestimmt von Kausalität und Zufall, die uns in Richtung zunehmender Entropie treiben. Wenn wir andererseits überzeugt sind, dass uns die Frische-Luft-Haltung zu Gebote steht und wir sicher sein können, dass sie nicht nur eine Täuschung ist, die unser Gehirn uns routinemäßig vorspielt, dann muss es eine Instanz in uns geben, die das Sagen hat und von innerweltlichen Zwängen unabhängig ist. Dann muss es den freien Willen eines außerweltlichen Selbst geben.
Wenn überhaupt etwas eine Instanz unsere Haltung gegenüber der Welt einnehmen kann, dann ist es unser Authentisches Selbst. Es kann eine Haltung einnehmen, in der Trost weitgehend unnötig ist, und es kann sogar eine Haltung einnehmen, dass die Welt gut ist, was auch immer uns in ihr begegnet. In der Welt mag medizinisch unterstützter Selbstmord in gewissen Situationen rational aussehen. Das Authentische Selbst würde es nie tun, sondern sich den nächsten Schritt in der Welt vornehmen.
Dawkins' Vorschlag, Kraft aus der frischen Luft der Wissenschaft zu schöpfen, mag korrekt sein, aber er sieht nicht den ursprünglichen Grund für diese Möglichkeit. Die Wissenschaft ist nicht die Quelle dieser frischen Luft. Vielmehr hängt die Wissenschaft wie alles Andere, das wir unternehmen, von der fundamentalen Disposition unseres Daseins ab, seine Welt zu expandieren, indem es Verfeinerungen und Erweiterungen konstruiert.
Dawkins sagt nicht, was er mit Inspiration meint, insbesondere nicht, was er mit dem Geist meint, der wohl empfangen werden soll, und woher er kommen soll. Nachdem sein Buch gegen Religion positioniert ist und er möglichen Selbsttäuschungen einige Aufmerksamkeit schenkt, sieht das nach einer ernsthaften Auslassung aus. Wie wir nun schon bei einigen Gelegenheiten gesehen haben, sucht Dawkins einfach nur Gleichgesinnte zu gewinnen und strebt keine hieb- und stichfeste Fundamentalkritik der Religion an. Er zeigt, dass er Punkte gegen die Religion machen kann und versucht damit zu suggerieren, dass er das Match gewinnen kann.
Für inspirierend hält er anscheinend die Gedanken, die er in diesem Abschnitt anbietet.
Ein solcher Gedanke ist der, dass wir Menschen, die wir nach kosmischen Maßstäben nur eine extrem kurze Zeit leben, das Glück haben, die wenigen Gewinnlose aus der unermesslichen Zahl von Nieten der "kombinatorischen Lotterie der DNA" gezogen zu haben. Dies ist der Grund, warum unser Leben so besonders wertvoll ist und warum die Verschwendung einer Sekunde davon als "kaltschnäuzige Beleidigung" angesehen werden kann für "jene ungeborenen Trillionen, denen das Leben niemals auch nur angeboten werden wird".
Dawkins Schlussfolgerung ist: "Die atheistische Sicht ist entsprechend lebensbejahend und lebenserweiternd, aber nie verfälscht durch Selbsttäuschungen, Wunschdenken oder das nörgelige Selbstmitleid derjenigen, die meinen, das Leben schulde ihnen etwas".
Zwei vorbereitende Überlegungen sind nötig, um dies zu behandeln.
(1) Wir haben Glück, weil wir aller Wahrscheinlichkeit nach nicht geboren sein sollten? Die Naturwissenschaftler haben doch selbst die Nieten in diese Lotterie eingebracht – es ist doch ihre Theorie. Eine befruchtete menschliche Eizelle kann zu einer Entwicklung über die Geburt hinaus führen oder der Embryo kann vorher absterben, die Wahrscheinlichkeiten der beiden Alternativen können berechnet oder abgeschätzt werden, und so kann man für Eizellen überhaupt die Chance voraussagen, mit der sie zu einer erfolgreichen Geburt führen. Das sieht nun vielleicht aus wie ein inspirierendes theoretisches Ergebnis, das eine nähere Betrachtung lohnt. Aber es trifft nicht so recht die existenzielle Situation, in der sich jeder Mensch befindet. Für mich gibt es keine Alternative zu meiner Existenz, ich lebe und bin nicht tot. Ich kann Selbstmord planen, aber im Moment bin ich, und zwar unausweichlich. Die Wahrscheinlichkeit ist 1 in 1, absolute Sicherheit. Und wir wissen, dass wir dieselbe Sicherheit in jedem folgenden Moment haben werden, bis unser Leben endet. Diese Sicherheit ist absolut und emotionsfrei.
(2) Die Sicherheit, dass es für uns einen nächsten Moment gibt, ist die Basis unserer Fähigkeit, diesen nächsten Moment zu entwerfen, d.h. zu handeln. Wir wissen, wir können den nächsten Moment beeinflussen und ihn mehr oder weniger voraussehen, weil wir den Ausgang früherer Handlungen kennen. (In einer Situation zu sein, einen nächsten Moment zu haben und entwerfen zu können, und dazu Handlungserfahrungen aufrufen zu können: das ist die grundlegende existenzielle Struktur der Zeit.) Wir wissen, dass wir durch Handeln unsere Erfahrung erweitern und durch Üben Situationen soweit ausprobieren können, dass wir sie sicher leben und uns der Erschließung neuer Situationen zuwenden können. Auch dies ist unausweichlich. Wir können weder dem nächsten Moment noch der Erfahrung aus den unmittelbar vorausgegangenen Handlungen oder Unterlassungen entkommen. Mit anderen Worten: Wir können nicht vermeiden, dass wir unsere Erfahrung erweitern und damit das Leben mehren. –
In den letzten beiden Abschnitten haben wir nichts getan als intensiv unser Sein in der Welt in den Blick zu nehmen und dabei von allen innerweltlichen Details zu abstrahieren – und auf diesem Wege sind wir bei Dawkins' atheistischer Haltung angekommen: lebensbejahend, lebenserweiternd, keine Zweideutigkeit, keine Psychologie, wir schulden dem Leben Wachstum.
Dawkins' Begründung hinterlässt zwar einige logische und faktische Irritationen: Glück ist das Antreffen von etwas, das unwahrscheinlich und positiv ist – dass Leben unwahrscheinlich ist, impliziert nicht, dass Leben positiv ist. Was bedeutet "Verschwendung" von Leben, da doch jeder sowieso seine Lektion dafür erhält, wenn er ehrgeizig, faul, gut oder böse ist? Wo ist das Problem, wenn man jemand beleidigt, der nicht existiert, nie existiert hat und nie existieren wird? Wie haben Menschen glücklich, lebensbejahend und lebensmehrend sein können, bevor die Wissenschaften kosmische Maßstäbe und DNS-Lotterien erfunden haben?
Dies muss man jedoch nicht unbedingt kritisieren. Es trägt einfach zu dem allgemeinen Charakter bei, wie Dawkins Inspirationen präsentiert: als annähernd zeigenden Text unter Benutzung von Metaphern, gebildet aus wissenschaftlichen Begriffen. Wie wir gerade gezeigt haben, ist sein Ergebnis im Grunde religiös. Das ist nicht überraschend für jemand, der (gegen Ende eines Buchs) auf dem Gipfel der Qualität schreiben will. –
Dawkins fährt fort und bekennt, dass er selbst die Lücke, die durch das Abtreten Gottes entstanden ist, mit "einer guten Dosis Wissenschaft" füllt. Er beschreibt Wissenschaft als "das redliche und systematische Unterfangen, die Wahrheit über die reale Welt herauszufinden. … Jeder von uns baut in seinem Kopf ein Modell der Welt, in der wir uns vorfinden. Das minimale Modell der Welt ist dasjenige, das unsere Vorfahren brauchten, um darin zu überleben. … Als unerwarteter Bonus [der Evolution] stellt sich heraus, dass unser Gehirn mächtig genug ist, ein viel reicheres Weltmodell zu bewältigen … Kunst und Wissenschaft sind galoppierende Erscheinungsformen dieses Bonus".
Anscheinend glaubt Dawkins, dass seine Aussagen allgemein verständlich sind. Wenn wir sie so verstehen, wie wir Naturwissenschaftler in dieser Materie normalerweise verstehen, dann ist die "reale Welt" dasselbe wie die "Welt in der wir uns vorfinden". Sie kann von der Naturwissenschaft im Prinzip voll abgedeckt werden, und man könnte stattdessen ohne weiteres den Begriff "Universum" verwenden. In diesem Sinn sind unser Kopf und unser Gehirn darin Teile der realen Welt, und in ihnen bauen wir ein Modell der realen Welt. Die Psyche ist einfach ein Name für die Vorgänge im Gehirn.
Wer baut ein Modell und wo? Dawkins sagt "jeder von uns" tue es, z.B. tue ich es. Aber wo ist dieses "Ich" in Dawkins' Metawissenschaft zu finden? Innerhalb der realen Welt? Innerhalb der Kopfes? Im Gehirn? In der Psyche? Oder getrennt von ihnen allen? Kann es überhaupt modelliert werden?
Die Modelle sind in meinem Kopf und dort in meinem Gehirn? Sie bilden die reale Welt ab und damit möglicherweise auch mein Gehirn – einschließlich der Modelle darin? Und dann kann ich also in meinem Gehirn Modelle haben und Modelle von Modellen und Modelle von Modellen von Modellen, ad infinitum? Und mein Gehirn kann ein getreues und vollständiges Modell seiner selbst enthalten? –
Dass unser Verstehen und intelligentes Handeln in der Welt von mentalen Modellen der Welt geleistet würden, war die Grundannahme von Projekten der künstlichen Intelligenz. Sie haben es versucht und die Erwartungen nicht erfüllt. Die Hypothese ist seit einigen Jahrzehnten tot.
Tatsächlich bauen wir keine Modelle einer Welt, in der wir uns vorfinden.
Wenn wir z.B. ein Flugzeug fliegen sehen, dann sehen wir ein Flugzeug fliegen, und das ist alles. Wir können diese Wahrnehmung eventuell mit einer Menge von Vorstellungen erklären, z.B. mit Theorien des Fliegens, Aerodynamik, Flugkorridoren, Augenoptik, Schaltplänen für das Sehen im Gehirn, u.v.a.m. Aber wir brauchen keine und verwenden deshalb auch keine Erklärungen, um das Flugzeug fliegen zu sehen.
Wenn wir Auto fahren, lenken wir das Fahrzeug so durch eine Folge von Verkehrssituationen, dass wir unser Ziel erreichen. Wir erfassen Verkehrssituationen in Null Zeit und steuern das Fahrzeug ohne Verzögerung, wir kennen den Weg und auch unsere Optionen für den Fall, dass wir den Weg nicht kennen. Natürlich haben wir das gelernt und geübt, aber jetzt ist unser Verstehen vom Fahren, von Verkehrssituationen, vom Verfolgen der Route ohne Aufwand und direkt. Uns begegnen innerweltliche Phänomene, und wir verstehen sie und handeln auf sie hin direkt. Wir können gegebenenfalls erklären, jedenfalls das Meiste, was wir dabei im Einzelnen tun und warum – etwa unseren Kindern oder den Fahrschülern, wenn wir der Fahrlehrer sind. Aber auch dann kommunizieren wir keine tief strukturierten Modelle. Nachdem wir ein Bild von einem Verkehrszeichen einige Male gesehen haben, können wir es unser Leben lang wieder erkennen, gleichgültig, ob es uns auf einer Blechplatte, einem Bildschirm, in einem Buch, in Miniatur, in Falschfarben, verzerrt oder in bisher nicht gesehenen Variationen begegnet.
Wenn wir mit jemand reden, dann haben wir kein Modell des Denkens und Fühlens der betreffenden Person, noch haben wir ein Modell von ihrer Grammatik, Aussprache, Körpersprache. Was wir stattdessen haben, ist die Fähigkeit, ohne Verzögerung "wieder zu holen", was wir gelernt haben, in vorangegangenen Gesprächssituationen, aus elterlichen Ratschlägen, von Lehrern, Freunden, aus der Beobachtung Anderer, eventuell in einem Kommunikationstraining, und all das befähigt uns in Resonanz mit der Situation zu kommen und zu bleiben, und so direkt Gesprächspartner zu verstehen und uns ihnen verständlich zu machen.
Alltagsbeispiele wie diese warten nach wie vor auf die Ausarbeitung und Demonstration vollständiger und stabiler Modelle. Zu erwarten ist aber, dass sich jeder Versuch einer formalen Beschreibung als unmäßig komplex herausstellt, als für das Gehirn in Realzeit nicht zu bewältigen, und damit als ungeeignet für die Erklärung unserer Alltagswahrnehmung in der Welt.
Nach Dawkins haben wir ein "viel reicheres Weltmodell", gemessen an den Anforderungen an die Weltmodelle unserer Vorfahren. Anscheinend soll das in der Spitze die wissenschaftliche Weltmodellierung einschließen.
Sehen wir uns das näher an. Was sind die Objekte wissenschaftlicher Modellierung? Zum Beispiel die Entwicklung des Universums oder die Evolution der Arten? Wir haben dies ja schon beim Review des Abschnittes über Thomas von Aquins "Gottesbeweise" analysiert. Das Ergebnis war, dass alle wissenschaftlichen Theorien und "Modelle" rein mentale Entwürfe sind und nichts Anderes abbilden.
Bedeutet das nun, dass es so etwas wie eine objektive Welt nicht gibt? Nein, es bedeutet, dass die objektiven Welten im Grunde genommen bleiben, dass aber die Objekte ihre ungerechtfertigte Autonomie verlieren. Es gibt zwei Arten von objektiver Welt. Die erste ist die Welt der Objekte: Uns begegnen Phänomene und wir verstehen sie, indem wir sie unmittelbar begrifflich erfassen, unter anderem als Objekte. Die ganze Welt ist in diesem Sinne "objektiv". Aber diese Objekte existieren nicht unabhängig von uns. Sie sind sozusagen das, was wir den Phänomenen "entgegenwerfen". – Die zweite Art ist eine Teilwelt, über die alle miteinander einig sein können: die Menschen haben weithin identische Vorstellungen von dieser Teilwelt, und sie erreichen das, indem sie Symbole mit den Vorstellungen assoziieren, zum Beispiel Wörter oder Grafiken, und diese Symbole kommunizieren. Die Teilnahme an dieser Teilwelt nennt man "Objektivität". Man beachte, dass dies nicht "Modellieren" ist. Symbole bilden ihre assoziierten Vorstellungen in keiner Weise verlässlich ab. Das Wort "Auto" hat keine Attribute eines Autos. – Beide Arten von objektiver Welt sind nicht davon tangiert, dass das alltägliche menschliche Verstehen keine mentalen Modelle benutzt, oder dass die wissenschaftliche "Modellierung" der Welt gar nichts modelliert.
Zusammenfassend stellen wir fest, dass die Idee, die Menschen und speziell die Wissenschaft bildeten eine unabhängig bestehende, objektive Welt ab, eine Täuschung über einen Wesenszug des menschlichen Seins ist. Es gibt keine in diesem Sinne "äußere" Realität. Ungeachtet dessen ist die Methode, mit der wir unser Verstehen erweitern, konstruktiv: wir konstruieren Begriffsysteme für die Phänomene, die uns gewöhnlich begegnen, und wir konstruieren "Hintergrundstrukturen", die helfen künftige Phänomene vorauszusehen und Instrumente zu bauen, mit denen sich gewünschte Phänomene herbeiführen lassen. Die ganze Zeit konstruieren wir.
Und das geschieht durch Inspiration: in einem Moment ist das "Konstrukt" da, wo es doch im vorigen Moment nicht war; es kommt wie aus dem Nichts.
Was bleibt dann von den wissenschaftlichen und künstlerischen Inspirationen, die Dawkins über den grünen Klee lobt als der Religion vorzuziehen? Praktisch alles. Was wir tun, die Fähigkeiten hinter unserm Handeln und die Automatismen, durch die unsere Fähigkeiten permanent wachsen, haben sowieso als Antrieb die Inspiration, gleichgültig, ob wir sie mit verifizierten oder illusionären Theorien beschreiben, und gleichgültig, an welchen (Teil-) Welten wir interessiert sind. Inspiration ist universell. Es gibt keine von vornherein bestehende Exklusivität wissenschaftlicher oder künstlerischer Inspiration. Exklusivität gibt es nur, wenn die Ergebnisse groß sind.
Dawkins baut eine ernstlich mangelhafte Argumentation auf und versucht damit den grundlegenden Zug menschlichen Seins, die Inspiration, als der Wissenschaft (und der Kunst) vorbehalten zu verkaufen.
Dawkins vergleicht das kleine Fenster im elektromagnetischen Spektrum, das für unsere Sinne offen ist, mit dem Sehschlitz in einer Burka: ins Verhältnis gesetzt wäre der sichtbare Teil des elektromagnetischen Spektrums ein zweieinhalb Zentimeter großes Fenster in einer Burka aus "Meilen über Meilen schwarzen Tuchs". Er behauptet, dass die Wissenschaft dieses Fenster in einem Ausmaß weitet, dass "das Gefängnis aus schwarzem Stoff fast völlig von uns abfällt und unsere Sinne in eine luftige und animierende Freiheit entlässt".
Später in diesem Abschnitt erwähnt Dawkins, dass sich der enge Spalt für unsere Wahrnehmungen auch auf Größenordnungen und Unwahrscheinlichkeiten bezieht. Wir können extrem kleine Wahrscheinlichkeiten berechnen, und "diese Macht, das nahezu Unmögliche quantitativ zu erfassen, statt nur verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen zu schlagen – ist ein weiteres Beispiel dafür, welche befreienden Wohltaten die Wissenschaft dem menschlichen Geist verschafft. … Die Wissenschaft reißt das schmale Fenster auf, durch das wir das Spektrum der Möglichkeiten gewöhnlich betrachten". –
Wie wir beim Review des vorigen Abschnitts gesehen haben, geht es in der Wissenschaft von Anfang bis Ende um Konstruktionen, die die Bedingung erfüllen, dass sich ihre Sachvoraussagen als zutreffend erweisen lassen. Wissenschaftliche Quantifizierungen wie die obigen sind konstruiert, und wenn die Wissenschaft sie benutzt, um zu beeindrucken, dann versucht sie mit Dingen zu beeindrucken, die sie frei konstruieren konnte. Es ist nur die Frage, welche Geometrie und welche Maße man benutzt. Wo aber bleibt die Wahrheit, wenn man unsere überreiche, sichtbare Welt mit linearen Skalen misst und dabei deren verfügbare Ausdehnungen fast gänzlich den weithin leeren Welten des Alls, der Moleküle oder des nahezu Unmöglichen zuweist!
Auf der Basis dieser wenigen skizzenhaften Größenzuweisungen behauptet Dawkins freihändig, dass unsere Wahrnehmung übermäßig eingeschränkt sei. Und seine Erklärung ist Evolution, nicht die Willkür der Maßskalen: "Der geistige Sehschlitz unserer Burka ist schmal, weil er nicht breit sein musste, um unseren Vorfahren zum Überleben zu verhelfen".
Und heute? Warum sollte heutzutage ein größeres Fenster zum Überleben erforderlich sein? Weil wir die Welt nicht mehr verstehen, wenn uns die Wissenschaft nicht hilft? – Die Antwort lautet: teilweise. Die Wissenschaft erschließt neue wissenschaftliche Welten, und das erhöht die Komplexität der gesamten Welt. Aber die ganze Menschheit betreibt dasselbe in allen Richtungen. Zum Beispiel bringt die Globalisierung etwa des Handels, des Reise- und Informationsverkehrs, der Umweltbelastung oder von Religionsstreitigkeiten, kurz: die Globalisierung aller menschlichen Interaktionen eine Unmenge von Unbekannten mit sich, die zur Bewältigung anstehen. Und mit der Zeit bewältigt sie die Menschheit auch, trotz der Ansicht, dass ihr Wahrnehmungsfenster ernstlich eingeschränkt sein könnte.
Die Wissenschaft ist in alledem mittendrin, allerdings in keiner Weise herausgehoben. Wissenschaftler im Allgemeinen haben keinen evolutionären Vorteil gegenüber anderen Menschen, etwa auf der Basis von Genen, die sie mit einem größeren Wahrnehmungsfenster ausstatten würden. Neue wissenschaftliche Welten erschließen heißt konstruieren, in diesem Falle: von mentalen Objektstrukturen, und benutzt dieselben fundamentalen menschlichen Fähigkeiten des Verstehens und Handelns wie alle Anderen auch, die an ihre neuen Lieblingswelten bauen. Die führenden Köpfe jeder Disziplin könnten mit gleichem Recht wie Dawkins sagen, dass ihr Fortschritt "das schmale Fenster aufreißt, durch das wir [die Welt] gewöhnlich betrachten". Jeder, der nicht gerade deprimiert ist, tut dasselbe im persönlichen Maßstab.
Am Ende seines Buchs fragt Dawkins, ob wir Menschen durch die Beschränkungen unseres Gehirns in unserer Erkenntnis beschränkt sind. Seine anschließende Position ist, dass "… wir letztlich vielleicht entdecken werden, dass es keine solche Beschränkung gibt". – Unser Gehirn ist unser mentales Konstrukt und die Begrenzungen des Gehirns sind die Begrenzungen dieses Konstrukts. Die korrekte Antwort auf seine Frage ist trivial: Unser Seinsmodus ist Verstehen, Verstehen ist konstruktiv, und es gibt keine Grenze für das Konstruieren.
Dies ist eine religiöse Antwort. Wissenschaft kann nicht mit wissenschaftlichen Mitteln erklärt werden. Dawkins trägt dem Rechnung, indem er in diesem letzten Abschnitt den Bereich der Wissenschaft verlässt. Aber hier ist er nicht standsicher. Wissenschaft als Modellieren darzustellen, ist einfach ein falscher Volksglaube, und wissenschaftliche Ergebnisse als solche zu bewundern, unterscheidet sich in nichts davon, Visionen zu bewundern, weil beide sich aus frei konstruierten Theorien herleiten. Wir brauchen allerdings nur ein wenig tiefer in die immer noch elementare Philosophie des menschlichen Daseins einsteigen, um zu sehen, dass Wissenschaft bestens begründet ist in unserem existenziellen Mandat, unsere Talente zu vervielfachen sowie fruchtbar zu sein und uns zu mehren.
Wir könnten hiermit schließen und uns einer Zusammenfassung unserer Kritikbefunde zuwenden. Aber wir haben versprochen, auf unsere Behauptung vom Anfang der Kritik dieses Kapitels 10 zurück zu kommen, dass "alles Beliebige" erschütternder sein kann als "tiefe und heilige Wissenschaft". Und nachdem wir eben die Ausnahmestellung des wissenschaftlichen Wahrnehmungsfensters demontiert haben, sind wir geradezu verpflichtet zu zeigen, wie ein wirklich großes Wahrnehmungsfenster aussieht.
Die folgende Übung funktioniert wirklich mit "allem Beliebigen". Wir könnten ein Stück Papier wählen, ein Atomkraftwerk, eine Ehe, irgendeins von Dawkins' Beispielen. Ein einziges Beispiel genügt, and wir wählen etwas Unscheinbares: ein kleines Stückchen Kies auf einer Promenade in einem Park. Die Übung besteht einfach darin, sich vor Augen zu führen, was hinter dem Stückchen Kies steckt, und dabei nicht aufzuhören immer weiter zu schauen.
Das Stückchen Kies ist von einem Gärtner auf die Promenade geschaufelt worden, etwa um die Deckschicht zu reparieren. Dieser Gärtner ist Angestellter einer Firma und verdient mit seiner Arbeit Geld. Die Firma hat den Kies von einer anderen Firma gekauft, die verschiedene Maschinen besitzt, mit denen man Steine mahlen kann, und Maschinen, mit denen man Lastwagen mit Steinen und Kies beladen kann. Die Lastwagen fahren auf öffentlichen Straßen, die von verschiedenen Regierungen unterhalten werden, etwa kommunalen oder Bezirksregierungen oder der Bundesregierung.
Nicht haltmachen! Was steckt hinter dem Gärtner? Er hat eine Familie und wohnt mit ihr in einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus. Er liebt seine Frau. Ihre Tochter geht in die Schule. Am Wochenende machen sie mit dem Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln Ausflüge in ein Erholungsgebiet, oder sie gehen ins Kino. Die Schaufel kommt von einer anderen Firma und ist aus Holz und Stahl hergestellt. Das Holz kommt aus dem Staatsforst, der Stahl von einem Stahlwerk auf einem anderen Kontinent. Dieses Werk verarbeitet Eisenerz und Eisenschrott, der u.a. mit Schiffen von Übersee antransportiert wird.
Eigentlich sollten wir nicht haltmachen. Aber früher oder später müssen wir es doch tun, um zu erfassen, was hier vor sich geht. Mit ein paar unspektakulären Zügen sind wir zu drei Dutzend komplexen Begriffen gelangt, die hinter dem Vorhandensein eines Stückchens Kies auf einer Promenade stecken, und damit die Welten der Arbeitsverhältnisse, der Produktion, des Handels, der öffentlichen Infrastrukturen, der Regierungen, der Bauten, der Familie, der Ausbildung, des Verkehrs, der internationalen Logistik berührt.
Dabei haben wir noch nicht einmal hinter alle Begriffe des ersten Satzes geschaut, z.B. Garten, promenieren, reparieren, Schicht. Dieselbe Situation haben wir mit allen anschließenden Sätzen, man schaut hinter Satz um Satz und macht neue Begriffe auf, und es ist kein Ende abzusehen. Wie viel wir doch über alle diese Begriffe wissen! Wie viel weiß ein Normalbürger über Schule oder Liebe, und wie viel geschriebenen Text würde das ausmachen! Zig oder Hunderte von Seiten. Und wie viele Seiten würde das gesamte, derzeitige, weltweite Wissen über nur diese zwei Begriffe erfordern! Wie viele Seiten würde es erfordern, alles niederzuschreiben, was wir von den Begriffen verstehen, die wir einsammeln würden, wenn wir diese Übung nur eine Stunde weiterführen!
Könnten wir auch eine Woche lang fortfahren? Der Gärtner isst und trinkt. Gelegentlich ist er krank. Seine Tochter lernt Klavier spielen. Sie fängt an, für die Jungs zu interessieren, und ihre Mutter beginnt einzugreifen. All das wäre unmöglich ohne Wasser und Energie. Beide sind in der Politik von strategischer Bedeutung … – Wir haben eben schnell einmal hinzugefügt: Ernährung, Wasser, Gesundheit, Medizin, Musik, Akustik, Pubertät, Mutter-Tochter-Beziehungen, Energie, Weltpolitik. Würde das nun für eine Woche reichen? Sollen wir noch Medien, Kriminalität, Wissenschaft hinzufügen? Reicht das, um ein wirklich großes Wahrnehmungsfenster abzugeben? Sollten wir noch mehr hinzufügen: Sport, Briefmarken, Architektur, Geschichte …? – Brechen wir die Übung hier endgültig ab. Sie ist bei weitem zu viel für ein Menschenleben.
Hier einige Beobachtungen:
(1) Wir wissen nicht nur mehr oder weniger von diesen Begriffen, sondern wir sind fähig sie zu leben: sie begegnen uns, wir verstehen sie in verschiedenen Zusammenhängen; wir wissen, was wir von ihnen unter verschiedenen Bedingungen zu erwarten haben; wir wissen, wie wir mit ihnen umzugehen haben, je nach dem, welche Zwecke wir verfolgen und wie wir unsere entsprechenden Erfahrungen und unsere Geschicklichkeit einschätzen.
(2) Diese Begriffe bilden unsere individuelle Welt. Sie hat nicht so groß angefangen, sondern bei Null. Wir haben all unsere Begriffe erworben, auf eine ganz digitale Weise: Nehmen wir einen beliebigen Begriff; anfangs haben wir nicht gewusst, dass es ihn geben könnte, aber zu irgendeinem Zeitpunkt verstanden wir ihn unmittelbar, von einem Moment zum nächsten. Wir haben nicht alles erstmalig in der Menschheit für uns erschließen müssen, sondern wir haben Welten von Vorfahren und Zeitgenossen kopiert und darauf aufgebaut, und wir haben aus eigenen Erfahrungen und aus Büchern gelernt.
(3) Wir haben nichts dafür getan, dass uns diese Welten zur Verfügung stehen. Wir haben die anderen Menschen nicht gemacht, nicht die Parks mit den Promenaden, nicht die Währungssysteme, Firmen, Lastwagen, Straßen, Regierungen, Familien, Gebäude, Wohnungen, Liebe, Schulen, Kinos, Kontinente, Schiffe, Klaviere, Krankenhäuser, Landwirtschaft, Teleskope, Galaxien, Fossilien, den Grand Canyon, die Sonne, den Boden unter unseren Füßen. Die Welt begegnet uns kostenlos. Sie ist reich über alle Vorstellungskraft hinaus, die "Mutter aller Geschenke". Sie ist attraktiv und fordert uns heraus, den Bereich all dessen, was wir verstehen und leben können, immer wieder zu erweitern.
Die Wissenschaft hat hierin ihren Platz. Das, was diese Weltenszene in der realen Realität unseres Daseins ermöglicht, die Wurzel unserer Existenz, ist auch die Wurzel der Wissenschaft. Diese Verwurzelung in den Blick zu nehmen ist eigentliche Religion. Wenn die Wissenschaft Religion bekämpft, dann bekämpft sie auch ihre eigene Wurzel.
Dawkins bietet seinen Lesern nicht den Komfort, die Gegenstände ordentlich zu definieren, über die er schreibt, seien es Religion, Gott, Schöpfung, Theorie, Naturgesetz oder Inspiration. Er leistet sich einen gewissen Aufwand, die Gotthypothese zu formulieren, aber später modifiziert er sie einige Male und erwähnt (andere) "Versionen". Wenn er die besagten Begriffe benutzt, zeigt sich wiederholt, dass seine Vorstellungen davon inkonsistent oder fehlerhaft sind. Er geht vielleicht davon aus, dass es für seine Leser komfortabler sei, wenn sie die Begriffe so verstehen können, wie sie es mögen. Aber wenn man einem Gedanken folgen soll und eine Meinung übernehmen soll, dann wäre es schon besser, wenn man problemlos erkennen könnte, was gemeint ist und wie es mit anderen Ansichten zusammenpasst.
Einerseits mag man es enttäuschend finden, wenn ein prominenter Wissenschaftler sich hinsichtlich Genauigkeit und Gründlichkeit zurückhält. Andererseits ist Dawkins' primäres Ziel nicht, ein wissenschaftliches Ergebnis zu verfechten, sondern vorzuführen, dass man gegen Religion die Stimme erheben kann und sollte, und dafür Mitstreiter zu gewinnen. Breit zu verstehende Begriffe mögen für diese Zwecke geeigneter sein als trennscharfe, weil sich damit mehr Menschen von Dawkins verstanden fühlen können.
Allerdings trägt Dawkins mit seiner Vernachlässigung der Terminologie zu der trüben Begriffsbrühe bei, die sowohl von den Pro-Religiösen als auch den Contra-Religiösen am Kochen gehalten wird. Man würde eigentlich annehmen, dass ein Wissenschaftler Klarheit einbringt. Wenn nicht, müssen es andere Leute tun.
Wie die allermeisten von uns weiß Dawkins nicht, was Religion im Wortsinn ist: unmittelbare Bindung an die außerweltliche Wurzel unserer persönlichen Existenz.
Wir sehen nicht das Offensichtliche, dass die offizielle Religion die Menschen überhaupt nicht zu dieser persönlichen Bindung hinführt, sondern sich lediglich in ihrem jeweiligen System einrichtet. Dawkins als Naturwissenschaftler erkennt, dass die offizielle Religion ungesicherte und leicht zu widerlegende Aussagen über einen jeweiligen System-Gott bietet. Aber wie die meisten von uns sieht er nicht, dass dies nicht der eigentliche Gott ist.
Gewöhnlich sehen wir auch nicht die Dynamik und die Triebkräfte des religiösen Systems. Dawkins stellt wenigstens die Frage danach. Aber er kommt nicht weiter als bis zu einem hypothetischen evolutionären Ursprung und zu einer nicht abgeschlossenen Diskussion über den möglichen evolutionären Nutzen der Religion. Selbst im Abschnitt über den Trost, wo er sich direkt mit der Furcht vor dem Tod befasst, sieht er nicht, dass seine persönliche Position wesentlich der Position der eigentlichen Religion entspricht, während Angebot und Nachfrage bei den Religiösen und den Atheisten gleichermaßen nicht Trost zum Gegenstand haben, sondern Ausweichen und Vermeiden.
Dawkins glaubt fälschlicherweise, dass man Religion argumentativ – auch wissenschaftlich – pauschal treffen kann, indem man z.B. religiöse Lehren pauschal diskreditiert und dann erwartet, dass die ganze Welt der Religion zusammenbricht. Er zieht überhaupt nicht in Betracht, dass das allerwesentlichste Element der Religion die absolute Komponente des Daseins ist, die nicht innerweltlich ist und nicht wie ein innerweltliches System diskutiert und widerlegt werden kann.
Dawkins teilt nicht das allgemeine Missverständnis, Ethik sei göttlich, sondern begreift und attackiert den entsprechenden innerweltlichen Teil des innerweltlichen religiösen Systems. Andererseits nimmt er die Zehn Gebote doch als moralische Regeln, was sie nicht sein können, wenn sie als göttlich gemeint sind.
Dass wir den Blick auf unsere Existenz vermeiden, bewirkt, dass so gut wie niemand etwas über sie weiß, niemand sie erwähnt, und dass niemand hinhörte, wenn jemand etwas über sie wüsste. Die Kritik an Religion führt in Bereiche, in denen regelmäßig Fragen zur Existenz aufkommen. In solch einem Fall könnte man ja neugierig werden und die Angelegenheit hartnäckig verfolgen, bis man eine Antwort hat. Aber Dawkins als Wissenschaftler ist so neugierig nicht. Er trivialisiert die existenziellen Fragen, indem er sie der zukünftigen Naturwissenschaft zuweist, und umgeht so die Notwendigkeit von Antworten auf diese Fragen.
Zum Beispiel bezieht sich Dawkins auf die Idee von "etwas [hinter der Realität], das unser Geist nicht begreifen kann". Wenn Menschen sagen "etwas", dann meinen sie etwas; wenn sie sagen "begreifen", dann meinen sie begreifen; wenn sie sagen "kann nicht", dann meinen sie: kann nicht. Nicht so Dawkins. Er nimmt "kann nicht" einfach als kann jetzt nicht. Er glaubt, für die Naturwissenschaft sei nichts für alle Zeiten unbegreiflich und man brauche folglich der Sicht gar nicht nachzugehen, dass etwas prinzipiell nicht begriffen werden kann.
Aber Gott – so wie die Vorstellung von ihm Sinn macht und die Menschen ihn meinen – ist nicht von dieser Welt, d.h. Gott ist außerweltlich und nicht in der Weise zu begreifen, in der wir die Welt begreifen. Und das wirklich ernsthafte Problem ist, sich dieser Idee zu stellen. "Unbegreiflich": das heißt, man kann keine rationalen Sätze darüber machen. Man kann nicht sagen, dass es existiert oder nicht existiert, jedenfalls in dem Sinne, wie innerweltliche Phänomene "existieren". Man kann nicht ausschließen, dass es auf eine andere Weise erfahrbar ist. – Man beachte, dass die Ableitung in diesem Absatz vollständig rational ist. Das Ergebnis ist der Einstiegspunkt in die Suche nach dem Außerweltlichen.
Ganz unvermeidlich kommen sofort Fragen auf: Was bedeutet das: Ich existiere? Was sind die Grundzüge meiner Existenz? Ist darin irgendetwas Absolutes? Finde ich in meinem Lebenslauf eine absolute oder fast absolute Erfahrung? Wie war sie? Wie geschah sie? Was haben andere Menschen in dieser Hinsicht berichtet? Wie kann ich einen seriösen Bericht von einem unseriösen unterscheiden?
Dieser Einstiegspunkt zum Außerweltlichen ist im Allgemeinen nicht bekannt und nicht in Benutzung. Dawkins verfehlt ihn, wie sonst auch fast jeder, und verfehlt damit auch alle diese Fragen und die möglicherweise seriösen Antworten dahinter. Daher kann er eigentlich nicht beurteilen, ob diese Fragen nicht Zugänge zu substanziellem und illusionsfreiem Material über Gott aufzeigen. Dawkins reklamiert für sich das Urteil über allen Glauben an Gott und alle Religion. In Wirklichkeit schiebt er den wichtigsten Aspekt des Glaubens an Gott wegen "erwiesenen Verwirrungspotenzials" einfach auf die Seite und behandelt ihn gar nicht.
Der Gott, den Dawkins sich weigert zu akzeptieren, ist sein Entwurf eines innerweltlichen Gott-Pappkameraden, den man möglicherweise begreifen kann, der der Wissenschaft und dem moralischen Urteil unterworfen ist, und dessen unwahrscheinliche Schöpfungen nur deshalb existieren, weil die Gesetze der Evolution sie erlauben. Aus wissenschaftlicher Sicht existiert dieser Gott wahrscheinlich nicht, und Visionen von ihm sind höchstwahrscheinlich Fantasieprodukte. Dabei trifft dieser Entwurf nicht einmal die offizielle Religion, die in ihren Lehren Gott als teilweise begreiflich, aber jenseits der Lehren doch als unbegreiflich auffasst. –
Indem Dawkins die obigen Fragen nicht angeht, kommt er auch nicht in die Lage, falsche Vorstellungen von der Dynamik unserer Existenz zu sehen und zu korrigieren. Seit Jahrhunderten ist jeder gewohnt zu glauben, dass wir mental, in unserer Psyche, Objekte und Strukturen einer Außenwelt nachmodellieren. Dawkins strapaziert das bis ins Extrem: die Realität, d.h. die Gesamtheit dieser Außenwelt, ist das physikalische Universum. Diese Sicht hält der Überprüfung nicht stand. Ein besonders aufschlussreiches Indiz, das Dawkins' Zweifel hätte wecken sollen, ist das Scheitern aller Modellierungsansätze auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz, mit dem sich alle größeren Erwartungen zerschlagen haben. –
Eine letzte falsche Vorstellung von der Existenz findet sich zwar nicht ausdrücklich in Dawkins' Buch, steckt aber doch möglicherweise dahinter und ist deshalb hier erwähnenswert, nämlich die allgemeine Ansicht, dass Atheisten nicht religiös seien. In Wirklichkeit sind sie es nicht für immer. Schließlich haben sie ja eine Existenz wie jeder Andere auch und unterliegen, bewusst oder unbewusst, den Spielregeln ihrer Existenz. Wir können diese Regeln auf die harte Tour lernen, wenn unsere Existenz in Frage gestellt wird. Wir können sie auf die sanfte Tour lernen, indem wir sie von vornherein herauszufinden versuchen. Wir stellen dann eventuell überrascht fest, dass diese Lektion absolut und unvorstellbar positiv ist. Das kann auch Atheisten so ergehen.
In seiner Argumentation formuliert Dawkins Annahmen und Behauptungen, die klar auf falsche Vorstellungen von der Wissenschaft hinweisen und eng verbunden sind mit der Sicht, dass der menschliche Geist die Realität modellhaft abbilde. Dawkins glaubt und suggeriert,
- dass die von der Naturwissenschaft entwickelten Strukturen, die Voraussagen möglich machen und die üblicherweise als Naturgesetze bezeichnet werden, tatsächlich Gesetze in einer objektiven äußeren Realität wären;
- dass diese Gesetze die Welt hervorbringen würden, zum Beispiel, dass die Gesetze der Evolution die Lebewesen in unserer Welt hervorgebracht hätten;
- dass sich diese Gesetze auf elementare physikalische Gesetze reduzieren ließen, so dass alles einschließlich unserer Psyche, letztlich physikalisch wäre, d.h. Teil des physikalischen Universums;
- dass vermittels dieser Gesetze die Welt ohne Rückgriff auf Gott erklärt werden könnte;
- dass aufgrund dieser Gesetze unser Leben von lebensfreundlichen Bedingungen auf unserem Planeten und in unserem Universum abhinge;
- dass diese Strukturen eine Seele mehr erschüttern könnten als alles Andere und dass deshalb wissenschaftliche Inspiration die überlegene sei.
Das Wichtigste, was dabei übersehen wird, ist, dass theoretische Strukturen nicht anders als mental begegnen können (es kann einem kein Elektron auf einem Teelöffel begegnen), und dass somit die Vorstellung von einem Raum von realen Objekten, der durch die theoretischen Strukturen abgebildet würde und den entsprechenden Gesetzen unterläge, nichts als eine Denkhilfe ist, um Formeln einen anschaulichen Hintergrund zu geben. Ein solcher Raum existiert einfach nicht.
In unserer vorhergehenden Kritik haben wir demgegenüber gezeigt,
- dass die Teilung der Welt in eine Innenwelt und eine Außenwelt eine bereits von uns gemachte Konstruktion ist;
- dass uns Phänomene direkt begegnen, seien sie physikalisch oder mental;
- dass wir verstehen, indem wir konstruieren, und dass es zwischen diesen unseren Konstrukten und der Realität kein Unterschied besteht;
- dass die Naturgesetze unsere mentalen Konstrukte sind, deren umfangreiche "gemeinte" Substanz uns nie begegnet;
- dass diese Gesetze über nichts herrschen, sondern vielmehr stehen und fallen mit ihrem Vorhersagenutzen bezüglich der Phänomene, die auf uns zukommen.
Warum ist dies nicht Allgemeinwissen unter den Naturwissenschaftlern? – Möglicherweise, weil sie die Angelegenheit als längst erledigt betrachten. Über Jahrhunderte haben sie ihre Sicht von Generation zu Generation weitergegeben und darauf vertraut, dass sie gut fundiert wäre. Und auf dieser Basis ist die Wissenschaft aufgeblüht.
Aber dann haben wir hier eine interessante Parallele: wir haben Gläubige, die vertrauensvoll die religiösen Lehren ihrer Geistlichen wiederholen und dabei nicht erkennen, dass diese die Verbindung zum Ursprung verloren haben und die Lehren selbst nicht mehr verstehen. Und wir haben die Wissenschaftler, die ohne Nachprüfung weiterhin der Subjekt-Objekt-Weltsicht anhängen, die noch zu einer Zeit entwickelt wurde, als es verifizierbare Theorien mit Objekten, die niemand antreffen konnte, noch gar nicht gab. Was ist eigentlich der Unterschied?
Betriebsblind zu sein ist auch bei überlegener Inspiration möglich.
Dawkins möchte die Ansprüche der Religion niederschlagen und attackiert zu diesem Zweck ihre Glaubwürdigkeit, insbesondere die Glaubwürdigkeit des Glaubens an Gott. All das ist auch schon früher versucht worden, und die Religion hat es bequem überlebt, ohne förmlich ihre Lehren ändern zu müssen. Dawkins führt neue Kräfte ins Gefecht: seine wissenschaftliche Autorität, Argumente aus der Evolutionstheorie, die Sicht, dass die Humanität in der Welt gegen die Religion zugenommen hat und dass die Inspirationsfähigkeit der Wissenschaft größer ist als die der Religion. Und er bringt seine große Medienreichweite ins Spiel.
In erster Linie ist das Befassung mit dem religiösen System und seinen Bestandteilen: Lehre, Architektur, Kunst, Kommerz, Macht, usw. Dieses System ist genau dazu eingerichtet, dass wir uns – positiv oder negativ – damit befassen, um uns so dagegen abzuschirmen, dass wir plötzlich vor dem Absoluten stehen und mit unserer nackten Existenz konfrontiert werden. Dawkins bleibt sicher im Bereich dieser Pufferzone und kommt dem Kern des Systems nie nahe.
Das ist eine Folge des anfangs angesprochenen und unten wiederholten Atheisten-Dilemmas. Man kann auf das religiöse System nicht einwirken ohne Kompetenz bezüglich des eigentlichen Gottes und der eigentlichen Religion. Nur mit dieser Kompetenz wird die Wertschöpfung des religiösen Systems erkennbar.
Religionsführer brauchen sich keine Sorgen zu machen über Wettbewerber, die wie die Atheisten behaupten, da gebe es nichts, wogegen abgeschirmt werden müsse. Was Religionsführer dagegen ernstlich beeindruckt, sind konkurrenzfähige, andere religiöse Systeme. In einer Welt, in der sich durch die Globalisierung der Wirtschaft, des Wissens, der Wissenschaft und der Technologie die Rationalität breit durchsetzt, wäre eine überlegene Religion eine, die Gott so zu präsentieren schafft, dass niemand ihn je fürchten würde und niemand je sein Wissen und seine Vernunft ausschalten müsste, um ihm zu vertrauen.
In der Einführung haben wir behauptet, das Top-Missverständnis der Atheisten sei, dass man gegen Gottes Existenz argumentieren könne, ohne etwas über Gott zu wissen. Atheisten können in dem Dilemma gefangen sein, einerseits etwas definieren zu müssen, dessen Existenz sie leugnen, andererseits die Existenz von etwas zu verneinen, das sie nicht definieren können.
Am Ende dieser Kritik sollte das offensichtlich geworden sein. Wir haben gesehen: Wenn man Gott, Religion oder Wissenschaft diskutiert und ihren existenziellen Charakter nicht berücksichtigt, dann ist das ein entscheidendes Versäumnis.
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