Rainer Bruno Zimmer

 

Das Absolute

 

 

1. Wovon überhaupt die Rede ist, und welche Art von Rede

 

"Absolut" heißt "abgelöst" – so, wie das zugrundeliegende lateinische Adjektiv "absolutus". Wenn das Wort "absolut" allein steht, wird diese Abgelöstheit als total verstanden, d.h. absolut als Gegenteil von relativ, und damit übrigens auch nicht als Superlativ. Das Absolute ist nicht "abgelöst von etwas", denn das wäre ja immer noch relativ zu diesem "etwas", sondern es ist "abgelöst von allem", überhaupt beziehungslos.

Das erfordert eine besondere Vorsicht beim Reden über das Absolute: Da Aussagen immer Beziehungen als Inhalt haben, kann man über das Absolute keine Aussagen machen. Diese Konsequenz gilt natürlich auch für den gesamten Inhalt dieses Aufsatzes über das Absolute. Wenn er trotzdem relevant sein soll, muss man also zuerst zeigen, dass und wie das Gesagte irgendeine Gültigkeit haben kann.

Vor allem kann man nichts darüber aussagen, ob es das Absolute überhaupt in irgendeiner Weise "gibt". Das schließt allerdings nicht aus, dass wir Menschen etwas als absolut wahrnehmen können – anders als alle, nämlich relativen, Inhalte unserer Welt.

Wenn wir eine solche Wahrnehmung kommunizieren wollen, sind, wie gesagt, Aussagen nicht geeignet, und es wird deshalb schwierig. Immerhin haben wir unseren Wortschatz und können versuchen, damit um die Wahrnehmung herumzureden oder auf andere Weise Assoziationen auszulösen, und so annähernd auf das bemerkte oder erkannte Absolute zu zeigen. Und vielleicht bekommt es der Adressat der Rede dann "in den Blick" – nicht optisch, sondern mit dem "inneren Auge".

Annähernd zeigende Rede funktioniert tatsächlich, wie der vorige Satz vielleicht schon demonstrieren kann. Die meisten Menschen "verstehen" ohne Weiteres, was mit dem "inneren Auge" gemeint ist, obwohl ja im Inneren eines menschlichen Körpers nirgends ein Auge im wörtlichen Sinne zu finden ist. Und so können wir auch annehmen, dass dieser ganze Aufsatz als annähernd zeigende Rede funktionieren, d.h. effektiv zeigen kann.

 

2. Warum man sich überhaupt mit dem Absoluten beschäftigen sollte

 

Wir führen hier zunächst nur ein einziges Beispiel an, weitere folgen unten.

Ohne das Absolute gäbe es keine Erlösung. Das ist fast eine Tautologie. Erlösung ist Ablösung von etwas Belastendem, hier in der existenziellen, absoluten Bedeutung: Ablösung von der Grundlast unserer Existenz, d.h. von der Anspannung, mit der wir den unaufhörlichen Anforderungen des Seins in der Welt begegnen. Da das Absolute wörtlich das von allem Abgelöste ist, ist es also auch abgelöst von der Welt. Es bietet die einzige mögliche "Position", auf die hin man sich eventuell von der Welt ablösen kann – in der man erlöst sein kann.

Das sollte Grund genug sein, sich mit dem Absoluten zu befassen.

Dafür gibt es zwei Weisen: wir können direkt ein absolutes Erlebnis haben, oder wir können unser Dasein in den Blick nehmen und zu sehen versuchen, was an unserem Dasein absolut ist – anders gesagt: was an unserem Dasein außer der Welt noch daran ist.

 

3. Erlebnisse des Absoluten

 

Nach dem, was wir bisher über das Absolute gesprochen haben, haben wir natürlich keine Kontrolle darüber, ob, wann und wie wir es möglicherweise erleben. Aber wenn wir es erleben, muss es jedenfalls ein absolutes Erlebnis sein, unverkennbar, zwingend, nicht zu fassen, nicht zu beschreiben. Wegen der Besonderheit des Erlebnisses wird man es dringend Anderen mitteilen wollen, dafür aber doch nichts Anderes zur Verfügung haben als mehr oder weniger ungeeignete Worte über die Situation, in der es passiert ist, vor allem über die inneren Bilder und Gefühle unmittelbar danach.

Über Erlebnisse des Absoluten wird seit je berichtet: über Gotteserlebnisse, mystische Vereinigungen mit Gott, der Natur oder dem Nichts, Meditationserlebnisse, stehende Zeit, einen brennenden Dornbusch, eine weiße Dame, dass die Sonne auf einen herunterstürzt. Solche Berichte passen in das oben vorgezeichnete Bild, aber der Bezug auf ein Erlebnis des Absoluten ist nicht beweisbar, ja eben nicht einmal aussagbar. Wer so etwas nicht an sich selbst erfahren hat, wird es eher für unmöglich halten, und wer schon einmal ein absolutes Erlebnis hatte, wird sagen: bei mir war es anders. Erlebnisse des Absoluten können jedem passieren, aber sie sind eher nicht objektivierbar.

 

4. Was an unserem Dasein absolut ist - Die Suche nach dem Ursprünglicheren

 

Die zweite Möglichkeit, sich mit dem Absoluten zu befassen, besteht darin, unser Dasein in den Blick zu nehmen und daraufhin abzusuchen, ob darin etwas Absolutes zu sehen ist. Phänomene in der Welt kommen dafür nicht in Frage, weder sinnlich Wahrnehmbares, noch Gedanken, Gefühle, Antriebe, Erinnerungen, innere Bilder, innere Worte. Denn in der Welt ist alles relativ, begrifflich fassbar, so dass man auch sagen kann: Das Absolute ist das Außerweltliche.

Im Folgenden bieten wir eine Reihe von Kandidaten für Sichten auf das Absolute an.

Wohlgemerkt: Es handelt sich nicht um Aussagen, die wahr oder falsch sein könnten, die man beweisen oder widerlegen, für oder gegen die man argumentieren könnte. Vielmehr sind die angebotenen Sichten entweder tauglich oder nicht: entweder man sieht das Gezeigte oder nicht.

 

Absolut:  Dass da etwas ist, und dass wir sind; das Eigentliche Selbst

Sicher sind wir vor allem über unsere Existenz. Es ist nicht einfach nichts, sondern es existiert etwas. Jeder weiß das für sich selbst mit absoluter Sicherheit, weil es ihm selbst begegnet.

Diese Gegebenheit ist nicht innerweltlich kritisierbar, etwa mit dem Argument, das sei eine Illusion, womöglich nur von unserem Gehirn vorgespielt. Um Begriffsgebäude – meine Welt – aufzubauen und mich darin bewegen zu können, also z.B. verstehend von "Illusionen" und "Gehirnleistungen" reden zu können, muss es zuerst und ursprünglich einen Rahmen geben, in dem das möglich ist: es muss mir Begriffliches begegnen können. Dazu muss ich da sein und mir muss etwas aus dem Nichts herausstehen: existieren, das ich verstehe.

Wir können also sagen: absolut ist, dass etwas existiert und dass es auf uns selbst bezogen ist.

Dieses Selbst begegnet uns nicht, aber wir wissen, dass wir es sind. Zur Unterscheidung von anderen Bedeutungen des Wortes "selbst" sprechen wir hier vom Absoluten oder Eigentlichen Selbst.

 

Absolut:  Dass wir verstehen

Was uns als Ursprünglichstes begegnet, sind wechselnde Phänomene. Vor allem sind es immer verstandene Phänomene. Wir verstehen sie unmittelbar und so, dass wir sie "leben können".

Unsere individuelle Welt besteht aus denjenigen Phänomenen, die wir verstehen, wenn sie uns begegnen. Die Welt ist alles, was Menschen grundsätzlich überhaupt verstehen können und könnten.

Damit das nicht ganz so abstrakt dasteht, sollten wir es noch mit etwas Kontext anreichern:

Unser Verstehen ist begrifflich und entspricht direkt unseren Begriffen. Die Phänomene sind primär ganze Situationen, vielleicht mit charakteristischen Highlights. Die Situationen können unstrukturiert sein – z.B. begreifen wir sie nur als wohlig oder unheimlich – , aber wenn wir sie schon öfter erlebt haben, können wir sie begrifflich strukturieren und verstehen ihre Details und Detailzusammenhänge.

Für jeden persönlich sind die Phänomene und seine Begriffe dafür identisch. Die Unterscheidung zwischen Phänomenen und Begriffen ist nicht existenziell ursprünglich, sondern eine nachträgliche Analyse. Nehmen wir z.B. ein bestimmtes Stück Text: Je nach dem Verständnis dessen, dem der Text begegnet, wird er ihm als unverständlicher Text, als unverständlicher englischer Text, als verstandener, aber ansonsten unbekannter englischer Text, oder vielleicht als Beatles-Text begegnen, den er womöglich auch noch singen kann. Erst aus der Kommunikation mit Anderen ersehen wir, dass jeder begrifflich andere Phänomene hat und die individuellen Welten sich unterscheiden. Und erst durch Kommunikation können wir Welten untereinander abgleichen und übernehmen, und so eine gemeinsame, objektive Welt herstellen.

Zurück zum ursprünglichen Verstehen. Es ist nicht dasselbe wie Erklärenkönnen. Wenn unser Fernseher auf einmal kein Bild zeigt, oder wenn wir mit unseren Augen unversehens alles seitenverkehrt sehen, oder wenn jemand von einer objektiv unheilbaren Krankheit plötzlich geheilt wird, dann können wir das vielleicht nicht erklären, aber wir verstehen den unmittelbaren Sachverhalt genau, denn sonst könnte er uns gar nicht irritieren.

Wir verstehen alles, was uns in der Welt begegnet. Unser Verstehen ist absolut.

 

Absolut:  Die Intelligenz, das stete momentane Wachstum unserer Welt

Wir verstehen von einem Moment zum anderen etwas Neues, das wir zuvor nicht verstanden haben, und von dem wir eventuell nicht einmal wussten, dass es da etwas zu verstehen gibt. Wir haben darüber aber keine Kontrolle. Neuverstehen ist in einer nicht zu verstehenden Weise gegeben und zwar, wie uns das eigene Leben und die Weltgeschichte zeigen, ist es nicht gänzlich voraussagbar, aber unaufhörlich, solange wir leben.

Das Folgende analysiert sozusagen mikroskopisch, wie unser Leben fortschreitet:

Wir sind in einer momentanen Situation, die wir verstehen. Wir wissen, dass der nächste Moment kommt. Wir verstehen aus unserem vergangenen Erleben, wie wir die Situation im nächsten Moment mit unserem Verhalten beeinflussen können. Indem wir aus diesem Verhaltensrepertoire wählen, machen wir den Schritt zum nächsten Moment. Dieser kommt, und die Situation ist so, wie wir sie angestrebt haben oder auch anders. Eventuell überlegen wir, warum sie so oder anders gekommen ist, und wir ziehen daraus eine Lehre, die unser Verständnis von Situationen und Verhalten bestätigt oder verändert.

Das alles steht unumgänglich fest, es ist absolut: Der Moment, in dem wir sind; der unvermeidlich kommende Moment; die vergangenen Momente; unser Beitrag zum kommenden Moment durch unser Wollen; die Verfügbarkeit des Vergangenen für verstehendes Wollen; die Zunahme unseres Verstehens durch den erfolgten Schritt zum kommenden Moment.

Wie das Verstehen, so ist auch das stete Wachsen unseres Verstehens, die stete Vergrößerung unserer Welt, eine absolute Grundgegebenheit unseres Daseins.

 

Absolut:  Der freie Wille

In jedem Moment wählen wir entsprechend unserem Willen aus unserem Repertoire verstehenden Handelns den Schritt zum nächsten Moment.

Unsere Wahl hängt davon ab, wie die Welt aus unserer Sicht funktioniert. Wenn wir uns in unserer Welt in unserer Freiheit eingeschränkt fühlen, dann betrifft das nicht unseren freien Willen, sondern die Möglichkeiten unserer Wahl, sozusagen unsere Freiheitsgrade. Sie hängen von unserem eigenen Wissen und Können ab und von vielen innerweltlichen Faktoren, von unseren eigenen Antrieben und Hemmungen bis zu den Setzungen anderer Menschen. In unserer Welt sind wir an die in ihr erfahrenen und erlernten Gesetzmäßigkeiten gebunden, an die Kausalität und an den Zufall, und deshalb kann es wissenschaftlich auch keinen freien Willen geben.

Frei wollen können wir nur entbunden von den innerweltlichen Gesetzmäßigkeiten, d.h. abgelöst von der Welt. Die einzige Position, von der her man frei wollen kann, ist demnach die absolute Position des Eigentlichen Selbst.

Man kann daher über den freien Willen nichts aussagen, weder woher er kommt, noch wie seine Wirkung in unserer Welt zustande kommt. Wir wissen aber von uns selbst, dass er funktioniert: dass wir frei auf etwas aus sein können, und dass wir das Gewollte je nach unseren Möglichkeiten auch erreichen können.

 

Absolut:  Der Sinn des Daseins

Oben haben wir festgehalten, dass und wie unsere Welt in kleinen Schritten wächst, indem wir immer mehr verstehen. Im großen Überblick ist das noch viel sinnfälliger: Wir haben alle in unserem Leben von Anfang an erst einmal nichts verstanden, haben dann aber eigene Erfahrungen gemacht und von anderen gelernt, und heute sind unser Verstehen, unsere Fähigkeiten und unsere Möglichkeiten so umfangreich, dass ein Leben nicht reichen würde, alles aufzuschreiben. Das gilt für jeden Einzelnen wie für die ganze Menschheit. Von Null Welt zu einer sehr großen Welt: das zeigt, dass unser Dasein wesentlich so angelegt ist, dass wir unsere Lebensmöglichkeiten erweitern. Das ist absolut so.

Der Sinn unseres Daseins ist es demnach, Leben zu mehren. Anders gesagt: gut ist, Leben zu mehren; schlecht ist, Leben nicht zu mehren; böse ist die Haltung, Leben nicht zu mehren.

 

 

5. Anschlussüberlegungen

 

Vergebung

Wir haben immer viele Chancen, Leben zu mehren. Wenn wir die einen ergreifen, versäumen wir die anderen. Bei denen, die wir ergreifen, sind wir im Einklang mit der grundlegenden Disposition unseres Daseins, Leben zu mehren. Bei denen, die wir versäumen, sind wir nicht im Einklang, wir bleiben dem Dasein etwas schuldig.

Schuld ist daher ein Grundzug unseres Daseins. Im Sinne der Mehrung des Lebens ist es, aus Schuld zu lernen, wie wir künftig besser Leben mehren. Nicht in diesem Sinne ist es, sich anderweitig mit Schuld zu beschäftigen, etwa darin zu schwelgen, sich darauf zu fixieren, sich darin zu verzehren. Vor allem haben wir die von uns verschuldeten Lebensminderungen möglichst zu überkompensieren, um wenigstens in der Bilanz Leben zu mehren.

Wenn andere unser Leben mindern, hebt das die grundsätzliche Disposition unseres Daseins nicht auf. Wir dürfen dem nicht weitere Lebensminderungen hinzufügen, indem wir Gleiches mit Gleichem vergelten oder Rache üben. So hart es klingt: aus der Schuld der Anderen haben wir zu lernen, Leben besser zu mehren, und im Übrigen haben wir sie zu ertragen.

Aus alledem ist ersichtlich: Eine wie auch immer geartete Bilanzierung und Aburteilung von Schuld ist nicht im Sinne der Mehrung des Lebens. Wenn überhaupt von Vergeben zu reden ist, dann ist unsere Schuld vergeben.

 

Die anziehende Welt

Wir haben uns ohne unser Zutun in der Welt vorgefunden, sind in sie "gesetzt" oder "geworfen" worden. Und wir lassen uns auf sie ein, ja wir verfallen ihr, "verlieren uns" in ihr. Was wir dabei eigentlich verlieren und schon verloren haben, ist der Bezug auf das Absolute. Wir haben es vielleicht nie im Blick gehabt und sind gar nicht auf die Idee gekommen, dass man es in den Blick nehmen könnte. Aber auch wenn wir eine Gelegenheit dafür bekommen, weichen wir eher aus – wie allem, was mit Existenzfragen zu tun hat. Unser Dasein hat sozusagen eine Neigung in die Welt hinein und vom Absoluten weg, und diese Neigung ist ziemlich steil.

Wir lassen uns voll auf die Welt ein, um dort an der Mehrung von Leben teilzuhaben, und dabei bleibt das Absolute außen vor. Ohne Hilfe bekommen wir es nicht in den Blick, und wir wissen auch nicht, wozu das gut sein sollte. Wir haben damit nichts zu tun.

Immerhin glauben viele Menschen zu wissen, wozu es gut ist, etwa das Vaterunser zu beten. Hieran wollen wir nun anknüpfen und zeigen, dass sich das bisher Gesagte mit dem existenziellen Inhalt des Vaterunser deckt, dass wir eben sozusagen das Vaterunser durchgesprochen haben.

 

6. Das Absolute im Vaterunser

 

Dass das Vaterunser eine existenzielle Bedeutung hat, liegt nahe. Wenn die Bibelautoren etwas Wesentliches über unser Dasein sagen wollen, stellen sie es gerne als Rede Gottes dar, bzw. als Rede Jesu, dem und dessen Reden sie die Autorität Gottes zuschreiben. Und so sind Äußerungen Jesu meistens Beschreibungen unseres Daseins, allen voran die Gleichnisse und die Bergpredigt, und darin eben auch das Vaterunser.

Nun besteht aber das Vaterunser vorwiegend aus Bitten, und Bitten sind keine Beschreibung. Der Matthäus-Autor lässt Jesus allerdings ein paar Verse früher erklären, dass Gott schon weiß und uns gibt, was wir brauchen, bevor wir überhaupt darum bitten. Damit ist es völlig legitim, die Bitten des Vaterunser als Gottgegebenheiten zu lesen, also als Reden über Absolutes. Das werden wir nun tun, und dabei genau das wiedererkennen, was wir oben dargelegt haben.

Vater unser im Himmel zeigt das gleich von Anfang an, denn der Himmel steht für das Außerweltliche, Absolute. Gott im Himmel wird damit als absolut deklariert. Auf den Aspekt der Väterlichkeit kommen wir weiter unten.

Heilig ist Dein Name  wiederholt das Zweite Gebot und heißt, dass Gottes Name insofern heil oder heilig – unantastbar – ist, als man damit keine Aussagen bilden kann.

Dein Reich kommt  bezieht sich auf zwei Bedeutungen des Begriffs "Reich", den des Herrschaftsbereichs und den des Reichtums, und bildet damit sozusagen die Überschrift für die zwei anschließenden Bitten.

Dein Wille geschieht im Himmel und auf der Erde  zeigt zwei Sichten auf Gottgewolltes: Was im Himmel, also außerweltlich geschieht, können wir zwar schwerlich sehen, aber immerhin haben wir oben unseren freien Willen als absolut erkannt, und das heißt in der alten Ausdrucksweise: als "himmlisch" oder "göttlich". "Auf der Erde" können wir getrost als "in der Welt" verstehen. Wir haben oben gezeigt, was in der Welt auf uns zu "kommt": uns begegnen laufend und unausweichlich Phänomene, die wir als Inhalte unserer Welt verstehen. Welche Phänomene uns begegnen, darauf haben wir keinen Einfluss. Sie begegnen uns schicksalhaft, wie von einer außerweltlichen, absoluten Instanz gewollt: wie gottgewollt.

Du gibst uns laufend alles, was unser Leben ausmacht  ist die eigentliche Bedeutung der Bitte um das tägliche Brot, wenn man Jesu Antwort auf die erste Versuchung durch den Teufel berücksichtigt. Danach lebt der Mensch nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Munde Gottes kommt. Da sind sie wieder, die Phänomene, die uns von Moment zu Moment begegnen: von "Gott" "gesprochen", also absolut und artikuliert, so dass wir sie unmittelbar verstehen und sie unser In-der-Welt-Sein ausmachen, unser Leben. Diese Welt ist überaus reichhaltig und geschenkt.

Du vergibst uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben  besagt im ersten Teil dasselbe wie unsere obige erste Anschlussüberlegung, dass uns unsere Schuld absolut vergeben ist. Der zweite Teil sagt, dass wir vergeben müssen, um mit der absoluten Disposition des Daseins im Einklang zu bleiben, nämlich Leben zu mehren.

Du führst uns nicht in Versuchung, sondern erlöst uns von dem Bösen  entspricht wiederum genau unserer zweiten Anschlussüberlegung: es ist die Welt, die uns anzieht, also "versucht", nicht das Absolute. Aber am Anfang haben wir bereits gesehen, dass das Absolute uns erlösen kann.

Kommen wir noch einmal auf den Anfang des Vaterunser zurück, auf die noch offen gelassene Frage, was an Gott "Vater" ist, oder was am Absoluten väterlich bzw. elterlich ist. Einen Hinweis gibt das, was im Vaterunser gegenüber unserer obigen Abhandlung noch fehlt: eine direkte Ansprache des eigentlichen Sinns des Lebens, nämlich Leben zu mehren. Wie wir gesehen haben, ist das gleichbedeutend mit dem Wachsen unserer Welt, mit der Zunahme dessen, was wir verstehen und tun können. Dies hängt vor allem davon ab, was uns an neuen Phänomenen begegnet. Offensichtlich sind die Herausforderungen, die uns die Phänomene im Verlauf und bis zum Ende unseres Lebens stellen, so, dass wir sie bestehen und daran wachsen. Das ist analog dazu, wie gute Eltern ihre Kinder fördern, indem sie sie immer wieder neuen, bewältigbaren Herausforderungen aussetzen, und ihnen dabei hin und wieder auch Unangenehmes nicht ersparen. Hinter der Anrede "Vater" im Vaterunser steht dieses Verständnis, dass die uns begegnenden Phänomene wie von guten Eltern so gefügt und dosiert sind, dass unser Leben gemehrt wird, so lange wir leben.

 

7. Resümee

 

Was haben wir nun erreicht? Wir haben das Dasein in den Blick genommen und dabei gezeigt, dass bestimmte Züge des Daseins absolut sind. Die Ergebnisse liegen weit abseits der gängigen Sichten. Das Absolute liegt uns so fern, dass ein paar Milliarden Menschen 2000 Jahre lang das Vaterunser beten können, ohne etwas von seinem existenziellen Gehalt zu ahnen. Dass wir damit gut leben können, ist eine Sicht, die unsere Sorgen unterschlägt.

Die Menschen klagen darüber, wie schlecht die Welt ist, nachdem sie sie selbst unterteilt haben in das, was ihnen passt, und das, was ihnen nicht passt. Die Menschen klagen über den allgemeinen Verlust von Religiosität, und es sind dieselben, die auf Aussagen über Gott bestehen. Die Wissenschaft beginnt sich zu versteigen in ihrem Anspruch, der Kosmos sei alles, was ist, und gehorche ihren Naturgesetzen. Ein Teil der Menschheit lebt auf Kosten Anderer, und daran ändert auch eine Ethik der Humanität nichts, die den Anderen Würde und Rechte zuspricht, aber die Verantwortung ignoriert, das Leben der Anderen zu mehren.

Wenn alle wüssten, wie das Dasein ist und was daran absolut ist, dann könnten diese Probleme effektiv angegangen werden. Aber niemand weiß es, die Situation ist selbststabilisierend und würde sich auch nicht ändern, wenn jemand dafür sein Leben gäbe und nach dem Tod wieder auferstünde.

Es bleibt nur der mögliche Nutzen für den Einzelnen. Immerhin kann man als Einzelner mit dem Wissen über das Dasein seine eigene Daseinshaltung optimieren. Wenn man weiß, was absolut ist, kann man sich die Energie sparen, sich dagegen aufzulehnen. Wenn man weiß, was absolut gegeben ist, kann man es bewusst annehmen und sich daran freuen, wie reichhaltig und schön es ist. Und wenn man weiß, was absolut ist, weiß man auch den Sinn des Lebens, der uns immer, auch in der verlorensten Situation, hält. Dieses Wissen und diese Haltung gegen die Anziehung der Welt dauerhaft zu behalten, ist möglich. Man muss sie möglichst regelmäßig auffrischen, indem man sie immer wieder in den Blick nimmt.

 

 

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