Rainer Bruno Zimmer

 

 

 

Die
Daseinsphilosophie
der
Bergpredigt

 

 

 

 

 

Eine Studie

 

 

 

 

 


 

EINFÜHRUNG – Kritik versus Auslegung

 

Die Bergpredigt ist Jesus nachträglich zugeschrieben und anscheinend aus mehrfach weiter erzähltem Material zusammengestellt. Sie doziert in grundsätzlicher Weise von Gott, der Welt und dem Menschen. Sie wird kaum als eingängig sondern meist als radikal und auslegungsbedürftig angesehen. Ihre Wahrheit und ihre große Bedeutung werden aus der Zuschreibung zu Jesus als Gottes Sohn geschlossen.

Diese Abhandlung ist eine Kritik. Eine Kritik ist keine Auslegung. Eine Auslegung versucht das Verständnis eines nicht ohne weiteres zugänglichen Textes zu erarbeiten, indem sie weiteres Material heranzieht, etwa vom selben Autor oder aus dem zeitlichen Kontext. Eine Kritik setzt voraus, dass man von der Sache von vornherein etwas versteht. Die Sache ist hier unser Dasein, unser Wesen, unser Sein in der Welt, unsere Existenz, unsere Verwurzelung in Gott. Darüber kann jeder Mensch aus seiner eigenen Existenz heraus eine Menge herausbekommen und wissen, und unter Heranziehung solchen Wissens kann man in den Blick bekommen, was in der Bergpredigt gemeint ist, und z.B. feststellen, dass Jesus in dieser Sache überragend kompetent war.

Wissen um unsere Existenz liefern z.B. die Introspektion, die Religion, die Literatur, die Existenzphilosophie. Wenn man daraus ein kohärentes Bild herstellt, kann man etwa Folgendes sagen:

Unser Dasein besteht darin, dass "da etwas ist". Uns begegnen Phänomene und wir verstehen sie, d.h. uns begegnet Artikuliertes, und wir können ihm Struktur geben. Diese Phänomenstrukturen bilden unsere Welt. Wir unterteilen sie gewöhnlich in eine äußere und eine innere Welt. In der äußeren Welt begegnen uns Gegenstände und Zusammenhänge, in der inneren Welt begegnen uns Gedanken, Bilder, Vorstellungen, Erinnerungen, Gefühle, Antriebe. Wir erkennen und verstehen sie alle unmittelbar. Sie laufen ab wie ein interaktiver Daseinsfilm. Wir agieren darin ähnlich wie der Spieler in einer virtuellen Realität, nur eben hier in der realen Realität unserer Welt.

Die Welt ist alles, was wir Menschen prinzipiell verstehen und leben können. Gott ist nicht von dieser Welt, sondern außerweltlich. Er ist daher prinzipiell nicht zu verstehen, z.B. kann man ihm auch keine innere Struktur zuschreiben. Wie der Spieler der virtuellen Realität sich außerhalb derselben befindet, so "spielen" wir in unserer realen Realität von außerhalb, können uns aber darin verlieren und ihr verfallen. Was da spielt, nennen wir unser Eigentliches Selbst. Es ist nicht von dieser Welt. Da es außerhalb der Welt kein Verstehen und keine Struktur in unserem Sinne gibt, kann man das Eigentliche Selbst nicht begrifflich von Gott unterscheiden. Der außerweltliche Gott, unser außerweltliches Eigentliches Selbst und das jeweilige Eigentliche Selbst der anderen Menschen können allenfalls verschiedene "Sichten" auf ein und dasselbe Außerweltliche sein.

Unser Verstehen von Phänomenstrukturen ist konstruktiv, wir bauen mit jeder Erfahrung unsere schon verstandene Welt – das, was wir leben können – weiter aus. Dies ist das Gesetz unseres Daseins: Welt bauen, Leben mehren, unseres und das der anderen Wesen vom Typ Dasein, d.h. der Mitmenschen. Schuld ist, Leben nicht gemehrt oder es sogar gemindert oder verhindert zu haben. Indem wir Möglichkeiten ergreifen, Leben zu mehren, lassen wir andere Möglichkeiten ungenutzt. Wir werden also unweigerlich schuldig. Unsere Aufgabe ist, aus unserer Schuld zu lernen und sofort weiter – und besser als vorher – Leben zu mehren.

Dies ist eine Skizze des Vorwissens, auf dem die folgende Kritik der Bergpredigt beruht. Bei Bedarf werden wir weitere Aspekte nachtragen.

Der einzige Anspruch dieser Darstellung ist, dass Gott absolut ist. Und deshalb ist auch dieser Anspruch absolut. Außerweltliches kann von uns nicht wie Innerweltliches verstanden werden, es ist nicht definierbar, man kann ihm keine Attribute geben und es nicht in Aussagen erfassen, es hat keine Struktur und befindet sich in keiner Struktur. Es ist kein Begriff.

Die gottbezogene Hypothese dieser Darstellung ist, dass man so etwas kann, wie ihn in den Blick bekommen, dass man daher auch versuchen kann, mit eventuell nur annähernd zeigender Rede auf ihn zu zeigen, und dass solche Rede und das hinsehende "Verstehen" solcher Rede eine Kompetenz eigener Art ist. Annähernd zeigende Rede ist immer so zu verstehen, als ginge ihr die Klausel "es ist, wie wenn" voran.

Man muss der obigen Darstellung unseres Daseins also nicht folgen und braucht sie nicht als "Wissen" zu akzeptieren. Es kommt einzig darauf an, ob man sieht, worauf sie zeigen will, ob man das "es" aus dem Vorsatz "es ist, wie wenn" sieht – bzw. ob man ggf. besser darauf zeigen kann. Immerhin hat die obige Darstellung gerade so nebenbei auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen (außerweltliches Eigentliches Selbst), das Leben als Wort Gottes (Artikulation), und auf die Sünde als Verfallenheit in der Welt gezeigt, und die Plausibilität der Dreieinigkeit im Sinne verschiedener Sichten auf dasselbe Außerweltliche angedeutet.

Die nachfolgende Kritik ist also zunächst darauf aus, in zeitgemäßer Sprache einerseits die existenziellen Aspekte herauszuholen, auf die die Bergpredigt – hier Matthäus, Kap. 5 bis 7 in der deutschen Fassung Martin Luthers – zeigt, und andererseits deutlich zu machen, worauf sie sicher nicht zeigt. Dieser Ansatz führt allerdings noch weiter: Er fördert zutage, dass der Textautor mit dem Leser spielt, und wie souverän und warum er es tut.

 


MATTHÄUS 5

 

Die Seligpreisungen

 

1.      Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm.

2.      Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:

3.      Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.

4.      Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.

5.      Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.

6.      Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.

7.      Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

8.      Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.

9.      Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.

10.  Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.

11.  Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen.

12.  Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.

 

Die Bergpredigt fängt mit ihrem Höhepunkt an. Wenn es ansonsten in der Bibel meist um das Verstehen, die Einhaltung oder die Verletzung der Spielregeln unseres Daseins als in die Welt geworfene Gotteskinder geht, so geht es in den Seligpreisungen um das absolut Positive an unserem Dasein.

Seligkeit ist eigentliches Glück, ein über alles guter Daseinszustand. In der Welt können wir nach Glück streben und Glück haben. Wir sehen dann, dass die Dinge für uns gut gelaufen sind oder gut liegen, und genießen das Gefühl, dass alles gut ist. Dies ist ein flüchtiger Vorgeschmack von Seligkeit. Dauerhaft sind nicht die für uns guten Zeiten in der Welt, sondern die Wechselhaftigkeit der Welt. Seligkeit sieht sozusagen das ganze Dasein, einschließlich dieser Wechselhaftigkeit, als einen Glücksfall: Die Welt ist richtig, interessant, reich, schön, gut, ein übergroßes Geschenk. Seligkeit ist dabei keine naive Weltsicht, die alles Böse und Unglück in der Welt verdrängt oder beschönigt. Es geht um eine Daseinshaltung, in der man mit sich und der Welt, einschließlich der schlimmen Phänomene und auch, wenn das Schlimme einen selbst trifft, im Reinen, locker, erlöst und froh leben kann.

Seligkeit ist also nichts Jenseitiges, sondern eine richtige Haltung zur Welt, die aus der annähernden Sicht auf unsere im Absoluten verwurzelte Daseinssituation folgt. Wäre Seligkeit außerweltlich, etwa eine Seinsart im Jenseits, dann könnte man über sie gar nichts sagen. Sie wäre unbegrifflich, und wir könnten uns von ihr absolut nichts versprechen.

Seligkeit fällt uns nicht zu. Die Welt ist attraktiv, und wir spielen gerne in ihrer realen Realität, gehen leicht darin auf, verfallen ihr eventuell ganz. Dabei ist uns nur unsere Situation in der Welt bewusst, nicht aber unsere Daseinssituation gegenüber der Welt, als Spieler von außerhalb. Vor lauter Konzentration auf unseren Avataren und auf dessen Vorteile in der Welt sehen wir nicht, welch ein absolut grandioses "Computerspiel" wir da in Form der Welt geschenkt bekommen und welche Freiheit wir darin haben.

Um Seligkeit zu erlangen, müssen wir uns aus dieser "verfallenen" Situation befreien oder befreit werden. Wir können Texte suchen, die etwas über Seligkeit sagen, und versuchen sie zu verstehen. Oder ein Stück Welt bricht zusammen und damit ihre Attraktivität, weil wir in dem Spiel mehr oder weniger scheitern. Dann werden wir auf uns selbst zurück geworfen, schauen auf unsere eigentliche Spielposition, und fragen uns vielleicht sogar, ob wir weiterspielen sollen. Wenn es gut geht, lernen wir einerseits aus dem Verlust, wie viel wertvoller Welt ist, als wir gewöhnlich denken, und andererseits aus dem Überwinden, dass wir ein teilweises Zerbrechen von Welt überwinden oder ertragen, und uns immer wieder neues Leben erschließen können. Und so erleben wir ein kleines oder großes Stück echter Seligkeit. –

Wie zeigen die Seligpreisungen der Bergpredigt auf diese existenziellen Zusammenhänge? Knapper, poetischer und fehlerfrei. Seligkeit wird bildhaft umschrieben: das Himmelreich besitzen, getröstet sein, das Erdreich besitzen, gerecht gestellt sein, Barmherzigkeit erlangt haben, Gott schauen, Gottes Kind heißen, im Himmel reich belohnt sein. Der Bezug auf das Erdreich, d.h. auf die Welt, sichert, dass Seligkeit nicht einfach als jenseitig verstanden wird. "Gott schauen" steht für den Blick auf die Daseinssituation mit Gott als Schöpfer unseres interaktiven Daseinsfilms. "Gottes Kind heißen" besagt einerseits, dass wir unsere göttliche Komponente, unser Eigentliches Selbst, dabei ebenfalls im Blick haben, andererseits, dass wir uns in der Welt am besten bewegen wie Kinder, die wissen, dass ihr Vater sie nicht überfordert sondern auf immer mehr Lebenstüchtigkeit hin trainiert. "Barmherzigkeit erlangt haben" sagt, dass wir von Schuld nachhaltig entlastet sind. "Getröstet sein" und "von Gerechtigkeit satt sein" bedeuten, dass uns das Leid und das Böse der Welt nicht beherrschen können.

Das alles ist ziemlich treffend, aber etwas weniger vollständig, als unsere obige Beschreibung von Seligkeit. Wichtige existenzielle Zusammenhänge kommen nicht in den Blick, z.B. dass Seligkeit eine durch den Blick auf das Außerweltliche perfekt ausgerichtete Daseinshaltung ist.

Vor allem fällt auf, wie verwirrend, ja geradezu schlecht die Seligpreisungen geschrieben sind.

Das beginnt bei kleinen Störungen der Systematik: Die erste Seligpreisung endet mit einer Verheißung für die Gegenwart: "ihrer ist das Himmelreich". Warum weisen die Verheißungen aller weiteren Seligpreisungen in die Zukunft, bzw. was soll gelten: Gegenwart oder Zukunft? Die letzte Seligpreisung (ab Vers 11) weicht in der Form von allen vorhergehenden ab, wechselt in die zweite Person, bringt zusätzlich Jesus ins Spiel, und schiebt nach der Belohnung im Himmel noch die zweite Begründung mit den Propheten nach, als wäre die erste nicht ausreichend. Der Abschluss der Seligpreisungen wird dadurch verunsichert.

Die gröbste Merkwürdigkeit ist die sprachliche Konstruktion: "Selig sind die X, denn sie werden Y". Der erste Teil kann zweierlei bedeuten "selig impliziert X" oder "X impliziert selig". Der Textautor lässt das offen, obwohl es leicht eindeutig zu machen wäre. "Denn" drückt immer eine Kausalität aus, also: "weil zukünftig Y, deshalb die Beziehung zwischen selig und X", oder an einem Beispiel: Weil sie künftig getröstet werden sollen, sind die Leid Tragenden selig oder die Seligen Leidtragende. Als gegenwärtig Ungetröstete selig sein? Der Textautor unterlässt es, die Zusammenhänge richtig und unmissverständlich zu formulieren. Sollte das Schlampigkeit sein – ausgerechnet, wo es um unsere Existenz geht?

Weiter ist festzustellen, dass die Zuordnungen der Y zu den X geradezu willkürlich sind. Warum steht da nicht "Selig sind, die reinen Herzens sind, denn ihrer ist das Himmelreich" oder "Selig sind, die da Leid tragen, denn sie werden Gottes Kinder heißen"? Und warum bekommen die einen das Himmelreich und die anderen das Erdenreich? – Nun kann man sagen, Himmelreich, Trost, Erdreich besitzen, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit usw. seien sämtlich Aspekte der Seligkeit und in so einer Aufzählung austauschbar: Wenn man selig ist, hat man das Himmelreich, ist getröstet, usw. Aber warum werden diese Aspekte dann überhaupt vereinzelt und einzeln den X zugeordnet?

Und wenn die Y Aspekte der Seligkeit sind, Aspekte wessen sind dann die X? Aus unserem Vorwissen heraus können wir sagen, die X bezeichnen Situationen, in denen der Zugang zur Seligkeit nahe liegt, weil in irgendeiner Weise die Verfallenheit in der Welt aufgehoben ist und man die Welt als Gegenüber in den Blick bekommt. Dabei gibt es zwei Kategorien: einerseits die "harte Tour" wenn uns ein hartes Schicksal dazu zwingt, indem wir z.B. Leid und Ungerechtigkeit zu tragen haben oder verfolgt werden, andererseits die "sanfte Tour", wenn wir uns selbst um einen Blick auf das Außerweltliche bemühen und uns dazu von innerweltlichen, materiellen und geistigen Strebungen ein Stück frei machen müssen, z.B. von Macht, Reichtum, intellektueller Stärke, und wir uns dementsprechend geistig arm, sanftmütig, barmherzig, friedfertig verhalten.

Die Struktur der Seligpreisungen wäre demnach: Zugang zur Seligkeit findet man am ehesten in den Situationen X und dann erlebt man sie als Y.

Das bleibt aber noch weit hinter der äußersten Konsequenz unserer obigen Beschreibung zurück, nach der wir in der Daseinshaltung der Seligkeit auch das schlimme Schicksal als gut empfinden. Diese Zurückhaltung des Textautors ist unter Umständen verständlich. Er geht ja immerhin so weit, dass er Seligkeit überhaupt mit schwerem Schicksal in Verbindung bringt, aber auch das ist schon eine Assoziation, die fast alle Leser provozieren dürfte und die man deshalb besser gut verpackt, abwiegelt, wenn nicht gar sicherheitshalber verbiegt und versteckt. Dazu sind die aufgezählten "Mängel" des Textes gut geeignet: um etwas darin zu verstecken, braucht man genügend Textlänge; Aufzählungen harmloser, eingängiger Inhalte können der unauffälligen Einbettung eines problematischeren Inhalts dienen und ihm die Spitze nehmen; die Verrätselung der Logik nimmt der Härte der Botschaft die Gewissheit.

Die verwirrende Gestalt der Seligpreisungen hat damit vier mögliche Begründungen: Jesus verstand nichts von existenzieller Seligkeit, der Textautor verstand nichts von existenzieller Seligkeit, der Textautor hat grob nachlässig geschrieben, oder der Textautor hatte Gründe sich sehr vorsichtig zu äußern und daher kalkuliert so geschrieben, dass es wie nicht besser gekonnt erscheint.

Das Letztere ist zu vermuten, wir müssen aber an dieser Stelle nicht endgültig klären, welche Alternative zutrifft, und wir müssen diese Frage auch nicht für die Seligpreisungen allein beantworten; denn wir werden im weiteren Verlauf dieser Kritik immer wieder vom Text auf diese Fragen gestoßen werden.

 

Salz und Licht

 

13.  Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten.

14.  Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein.

15.  Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind.

16.  So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.

Durch die Abtrennung vom vorigen scheint dieser Absatz ohne Bezug. Er führt aber die Gedanken der Verse 11 und 12 direkt fort. Wer das Außerweltliche im Blick hat, wird die Pflicht haben und nicht anders können, als anderen diese Sicht weiterzugeben, und dann wird es ihm gehen wie den Propheten – und Jesus selbst. Und wenn sie umgebracht sind, wird man sie aufgrund ihrer wahren oder erfundenen "guten Werke" – nicht ihrer Einsichten – zu leuchtenden Vorbildern für das Leben in der Welt aufbauen.

Mit den positiven Reden vom Licht und Salz lenkt der Textautor den Blick vom brutalen Prophetenschicksal ab, und damit das sicherer funktioniert, benutzt er zwei Bilder, wo eines genügte. Er nimmt so Rücksicht auf einen innerweltlichen Zug der menschlichen Natur: man will mit klaren Existenzfragen nichts zu tun haben, selbst wenn die Botschaft froh ist.

Am Ende dieses Abschnittes stehen trotzdem nicht Ängste sondern der Appell. Wenn ein Mensch Gott im Blick hat, dann ist er verpflichtet, den Mitmenschen zu zeigen, wohin sie blicken müssen, um Gott zu sehen.

 


Jesu Stellung zum Gesetz

 

17.  Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.

18.  Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.

19.  Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.

20.  Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.

 

Jesu Stellung zum Gesetz ist eindeutig. Er versteht und übernimmt die "Gesetze" unseres Daseins aus dem Alten Testament ohne Einschränkung und entwickelt das Reden über diese Gesetze weiter.

Wir wissen und Jesus wusste – wie man an seinen Gleichnissen sieht –, dass man über das Dasein nur annähernd zeigend reden kann, und dass das wortgenaue, ggf. spitzfindige Verständnis, wie es der religiösen Elite zugeschrieben wird, das Außerweltliche völlig verfehlt. Die geforderte Genauigkeit ist nicht Buchstaben-, Wort-, oder Detailgenauigkeit. Bei Daseinsgesetzen handelt es sich nicht um Gebote, die man einhalten kann oder nicht, sondern es sind absolute Spielregeln, an denen es kein Vorbeikommen gibt. Wenn die Verse 18 und 19 diese Absolutheit der Gesetze ausdrücken sollen, dann zeigen sie insoweit korrekt. Aber wer würde das aus ihnen herauslesen?

Vers 20 kann man nur äußern, wenn man das Dasein selbst im Blick hat und die vorherrschende Art der Auslegung von Daseinsgesetzen als innerweltliche Lehrdoktrinen und Lebensregeln durchschaut. Der Vers beweist damit auch die existenzielle Kompetenz sowohl Jesu als auch des Textautors.

Dieser wirkt allerdings wie gehemmt. Den letzten Vers knüpft er mit dem Thema Gerechtigkeit an die beiden vorigen an, die schon nicht konsistent sind – Buchstaben­genauigkeit und Genauigkeit bis auf das "kleinste Gesetz" sind ja verschiedene Typen von Genauigkeit –, und die Anknüpfung erzeugt nichts als Irritation, da doch die Schriftgelehrten und Pharisäer gerade als besonders genau bis übergenau galten. Der Leser wird so zweimal zum fragenden Nachdenken provoziert, und dann bleibt er notgedrungen an dem vom anscheinend überforderten Textautor in falschen Bezügen platzierten, wie pflichtgemäß zitierten letzten Vers hängen. Wenn unsere Vermutung stimmt, dass der Textautor kalkuliert schreiben wollte, dann können wir hier auch weiter vermuten, dass er das tatsächlich beherrschte, z.B. eine Überforderung glaubwürdig zu simulieren.

Ob der Autor nun tatsächlich überfordert war, oder nur so tat, um eine vermutete Überforderung der Leser zu vermeiden: Was letztlich überfordert, ist Jesu Rede, dass die religiöse Elite nicht ins Himmelreich kommt. Das kann man auch heute noch niemandem beibringen.

 

Vom Töten

 

21.  Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist (2.Mose 20,13; 21,12): »Du sollst nicht töten«; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein.

22.  Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig.

23.  Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat,

24.  so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe.

25.  Vertrage dich mit deinem Gegner sogleich, solange du noch mit ihm auf dem Weg bist, damit dich der Gegner nicht dem Richter überantworte und der Richter dem Gerichtsdiener und du ins Gefängnis geworfen werdest.

26.  Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du auch den letzten Pfennig bezahlt hast.

 

Dieser Absatz schließt wiederum direkt an den vorigen an und macht nun klar, wie die Genauigkeit gemeint ist: als Korrektheit der Sinnerfassung. Oberflächlich sieht es so aus, als sei Jesus nun selbst spitzfindig. Zürnen ist bei Weitem nicht Töten, soll aber schon ein bisschen Töten sein und damit schwer strafwürdig? Aber das Gebot wird ja nicht wörtlich "genauer" genommen, sondern sein Sinn wird genauer genommen, und der ist eben weiter.

Tatsächlich deckt der zweite Teil der Zehn Gebote viele Arten böser Taten nicht ab, kann also nicht als vollständig gemeint sein. Als Daseinsgesetz kann er nur alle Aspekte unsere Beziehung zu den Mitmenschen meinen, wie von Jesus zusammengefasst: liebe deinen Nächsten wie dich selbst, d.h. als ein Wesen mit einem außerweltlichen, gottesebenbildlichen, Eigentlichen Selbst wie wir selbst. Das Daseinsgesetz besagt, dass wir das Leben zu mehren haben, unser eigenes Sein in der Welt, und das der Nächsten nicht weniger.

Leben mehren können wir nicht an Hand weniger oder vieler, kleinteiliger oder umfassender Vorschriften. Leben ist nicht kodifizierbar. Es geht wie bei den Seligpreisungen wieder um eine Daseinshaltung, nämlich um die Haltung, das Leben zu mehren. Aus dieser Haltung heraus wird man seinen Mitmenschen auch kleine Lebensminderungen nicht zumuten wollen.

Der Preis der Fehlhaltung, mit ihrer systematischen Verletzung des Daseinsgesetzes, ist unverarbeitete Schuld. Die Haltungskorrektur ist das "Gericht", das Richtig-Machen der Haltung, – das einem selbstverständlich gut tut und nach dem es einem besser geht.

Das ganze Drohgebäude dieses Absatzes über das Töten ist in dieser Hinsicht höchst irreführend – als sei unverarbeitete Schuld nicht lebensmindernd und schlimm genug. Aber der Text ist wieder korrekt auf den normalen Leser hin kalkuliert. Ihn werden die Drohungen bestenfalls zu dem Vorsatz veranlassen, in den genannten Situationen mit ihren Mitmenschen umgänglicher zu sein. Die Unmäßigkeit der Drohungen wird ihn aber vor allem davor abschrecken, sich mit der – so drastisch negativ belegten – existenziellen Frage der richtigen Daseinshaltung zu befassen, und das wird ihn davor bewahren, sich dann womöglich wahrhaft zu entsetzen.

Die Einhaltung des Daseinsgesetzes steht natürlich über jeder religiösen Form. Es ist deshalb bemerkenswert, dass der Textautor und wohl auch schon Jesus selbst es für nötig gehalten haben, dies wie in den Versen 23-24 mittels eines Beispiels ausdrücklich zu betonen. Es muss damals viel unüberwindliche Formalreligiosität vorgeherrscht haben.

 

Vom Ehebrechen

 

27.  Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2.Mose 20,14): »Du sollst nicht ehebrechen.«

28.  Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.

29.  Wenn dich aber dein rechtes Auge zum Abfall verführt, so reiß es aus und wirf's von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde.

30.  Wenn dich deine rechte Hand zum Abfall verführt, so hau sie ab und wirf sie von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle fahre.

31.  Es ist auch gesagt (5.Mose 24,1): »Wer sich von seiner Frau scheidet, der soll ihr einen Scheidebrief geben.«

32.  Ich aber sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen Ehebruchs, der macht, dass sie die Ehe bricht; und wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die Ehe.

 

Dieser Absatz führt am Beispiel des Ehebruchs im Kontext seiner Zeit und Gesellschaft die Logik fort, dass es nicht reicht, Einzelgebote formal zu erfüllen, sondern dass der Maßstab die Daseinshaltung zur Mehrung des Lebens ist. Er ist noch wütender als der vorige Absatz. Die sporadischen Verletzungen des Daseinsgesetzes im Zusammenleben sind Jesus ein Ärgernis, aber noch ärger sind ihm die systematischen, verrechtlichten Minderungen des Lebens von Frauen.

Aber welche Begründung gibt man den Zuhörern? Sie hätten im Wirkungsbereich ihres Handelns Leben zu mehren? Stark emotionale Vergleiche ziehen vielleicht noch am ehesten: Das Schuldgefühl gegenüber der Ehefrau beeinträchtigt das Leben des Mannes schlimmer als der Verlust eines Auges oder der rechten Hand. Das ist eine gut nachvollziehbare, psychologische Begründung, und so braucht man den Zuhörern dann nicht mehr auf die Nase zu binden, dass das Schuldgefühl ja doch auf einer existenziellen Schuld beruht.

Vom Schwören

 

33.  Ihr habt weiter gehört, dass zu den Alten gesagt ist (3.Mose 19,12; 4.Mose 30,3): »Du sollst keinen falschen Eid schwören und sollst dem Herrn deinen Eid halten.«

34.  Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Thron;

35.  noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße; noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des großen Königs.

36.  Auch sollst du nicht bei deinem Haupt schwören; denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen.

37.  Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.

 

Abgesehen von seiner juristischen Ausprägung ist das Schwören eine innerweltliche Taktik, die die Adressaten einer Aussage beeindrucken soll. Ob, wann und wie man schwört, ist in beiden Ausprägungen keine existenzielle Frage und fällt fast aus dem Rahmen der Bergpredigt.

Direkt oder indirekt beim Außerweltlichen zu schwören, ist natürlich Unsinn, aber auch nur ein Symptom, das man nicht als solches kurieren kann. Dem so irrig Schwörenden müsste schon die Einsicht beigebracht werden, dass das Außerweltliche nicht begrifflich ist und es daher keinen Sinn hat, es mit irgendetwas Innerweltlichem in Verbindung bringen zu wollen, auch nicht mit innerweltlicher Wahrheit. Ein paar Verbotsregeln sind dazu beim besten Willen nicht geeignet.

Es ist auch nicht weniger unsinnig, bei Innerweltlichem zu schwören. Unsere Daseinssituation ist nun einmal so, dass der Strom der uns begegnenden Phänomene nicht unser Werk ist, und dass wir ihn deshalb auch nicht garantieren können.

Aus unserem anfangs umrissenen Vorwissen heraus ist relativ leicht zu erkennen, dass der zweite Halbsatz von Vers 36 das meint. Aus dem selben Vorwissen heraus ist nicht zu erwarten, dass man selbst durch den Versuch zu Ende zu denken, was der Mensch vermag und nicht vermag, das Außerweltliche und seine "Rolle" in unserem Dasein in den Blick bekommen kann. Der Textautor konnte Jesu Sicht nicht nach-denken. Er musste hier schon selbst den Blick auf das Dasein haben, um ihn Jesus zuschreiben zu können.

 

Vom Vergelten

 

38.  Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2.Mose 21,24): »Auge um Auge, Zahn um Zahn.«

39.  Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.

40.  Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.

41.  Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.

42.  Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.

 

Der Sinn der Rede von Auge und Zahn ist, dass man Leben, das man gemindert hat, wiederherstellen muss. Wenn man einen Mitmenschen um ein Auge gebracht hat, dann muss man das eigentlich in dem Maße wiedergutmachen, dass er anschließend so gut weiterleben kann, als hätte er das Auge noch. Das ist natürlich schwierig genug und oft unmöglich.

Der Sinn des Daseins wird aber überhaupt nicht erfüllt, wenn man das Leben nur nicht mindert, sondern wir wissen, dass wir das Leben zu mehren haben. Jesus vertritt dies konsequent und stellt es klar der gängigen Sicht gegenüber. In dieser ist es ja ziemlich naiv, persönliche Aggression widerstandslos hinzunehmen. Von der Grundanlage des Daseins her haben wir aber eben kein Recht, Leben zu mindern, auch nicht wenn vorher jemand anders unser Leben schuldhaft gemindert hat, sondern wir haben in jeder Situation Leben zu mehren.

Jesus ist hier also nicht radikal, weltfremd oder rätselhaft. Wenn man das Dasein versteht, dann sind seine Worte nichts Besonderes. Fremd sind sie nur Menschen, die dieses Verständnis verpassen, weil sie den offenen Blick auf ihre Existenz scheuen.

 

Von der Feindesliebe

 

43.  Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3.Mose 19,18) und deinen Feind hassen.

44.  Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen,

45.  damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.

46.  Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?

47.  Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?

48.  Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

 

Wir haben Leben zu mehren, unseres und das unserer Mitmenschen – so gut wir es können, aber ohne Einschränkung. Wir alle – alle Menschen – sind in der grundsätzlich gleichen Spielsituation in unseren realen Realitäten, in denen es uns gut oder schlecht gehen kann, in der es andere leichter, schwerer, angenehmer oder unangenehmer haben können als wir, und in der alle als Gerechte und Ungerechte, in richtigen oder falschen Daseinshaltungen, Fortschritte machen oder auch überfordert sein können.

Dies reicht zu begründen, dass das zu mehrende Leben auch das Leben der Feinde einschließt.

Aber es ist von "lieben" die Rede. Daher tragen wir hier die existenzielle Definition von Liebe nach. Innerweltlich ist Liebe eine Bindung mit einer bestimmten Qualität, sowie das Ausleben dieser Bindung. Existenzielle Liebe ist dann eine Bindung zum Außerweltlichen, und das davon bestimmte Leben. Eine existenzielle Bindung kann für uns nur eine annähernde Sicht sein: auf Gott, auf das jeweils eigene, Eigentliche Selbst, und auf das Eigentliche Selbst des Mitmenschen.

Das Eigentliche Selbst ist bei jedem Mitmenschen sozusagen gleich außerweltlich, absolut. Daraus begründet sich ganz zwanglos, was in diesem Absatz der Bergpredigt so apodiktisch daherkommt: dass man mit allen Mitmenschen existenziell gleich verbunden ist und sie ohne Unterschied, einschließlich der Feinde, als Gottes Kinder zu sehen und zu nehmen hat, und dass wir ebenso unsere eigene Bindung an Gott zu leben haben.

All das gibt dieser Absatz treffend und in geeigneten Bildern wieder. Der Ausdruck "vollkommen sein" wie Gott ist vielleicht nicht selbstverständlich. Er sagt ja nicht nur "alle lieben, wie Gott es tut". Wie sind wir existenziell vollkommen? Mit einer Daseinshaltung, die durch die Sicht auf das Außerweltliche perfekt ausgerichtet ist.

Auch dieser Absatz über die Feindesliebe dekoriert die existenzielle Rede sozusagen um. Er stellt sie nicht einfach nackt in den Raum, und er hilft auch gerade nicht, das im Grunde Gemeinte in den Blick zu bekommen, sondern verdeckt es mit dem Feigenblatt innerweltlicher Begründung: was Zöllner und Heiden tun, reicht nicht; für einen Lohn muss man schon etwas Besonderes tun. – Das bedeutet, dass der Textautor, obwohl der existenzielle Inhalt aus dem knappen Text kaum zu extrahieren ist, den Leser trotzdem davor schützen möchte. Ob schon Jesus selbst sein existenzielles Wissen so vorsichtig unter die Leute zu bringen versucht hat, werden wir weiter unten diskutieren.

Was können wir am Ende des ersten Kapitels der Bergpredigt als Zwischenergebnis festhalten?

Die Rede ist existenziell kompetent und konsequent, in ihren Bildern sehr anschaulich, aber trotzdem zu knapp, um den Hörern und Lesen existenzielle Sichten zugänglich zu machen. Obendrein lenkt sie geradezu systematisch von diesen Sichten ab.

 

 


MATTHÄUS 6

 

Vom Almosengeben

 

1.      Habt Acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr die nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden; ihr habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel.

2.      Wenn du nun Almosen gibst, sollst du es nicht vor dir ausposaunen lassen, wie es die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Gassen, damit sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt.

3.      Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut,

4.      damit dein Almosen verborgen bleibe; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.

 

Dieser Absatz wie auch der Anfang des folgenden sagen zusammengefasst, dass mit der öffentlichen Ausübung, womöglich gar Zurschaustellung religiöser Praxis nicht mehr als öffentliche Beachtung zu gewinnen ist. Wenn man im Verborgenen Almosen gibt oder betet, dann werde es einem Gott "vergelten".

Der Text vermittelt keine Einsicht, wie und womit es vergolten werden soll. Der Autor könnte suggerieren wollen, dass man das dann schon sehen würde. Weil im Verborgenen der äußerliche "Gewinn" wegfällt, muss man ja immerhin einen guten inneren Grund finden, aus dem man Almosen gibt und betet. Den könnte man aber auch einfach willentlich selbst setzen, etwa um zu erschließen, wie sich frommes Sein anfühlt. Enttäuschungen wären dabei nicht ausgeschlossen, und dann sähe man nichts von Gottes Lohn.

Wenn man andererseits schon richtig betet und Almosen gibt, indem man den Blick auf das Außerweltliche in einem selbst und auf das Außerweltliche im Anderen lenkt, dann ist der gesuchte Grund schon vorher geschenkt, nämlich die gut ausgerichtete Daseinshaltung: ich kann immer Leben mehren, und die Notsituation des Bedürftigen ist dafür eine Win-Win-Gelegenheit.

Es bleibt aber die Frage, wie man in diese Daseinshaltung kommt. Der Blick auf das Außerweltliche schenkt die richtige Daseinshaltung und in dieser geht der Blick auf das Außerweltliche. Dies ist ein zyklischer Zusammenhang, und die Frage ist eigentlich, wie man in diesen "Engelskreis" hinein kommt.

Nicht nur fehlt die Antwort, sondern die Frage wird nicht gestellt. Sie ist aber höchst bedeutend, denn sie ist äquivalent zu der Frage: Wie verhilft man den Menschen effektiv dazu, Gott annähernd in den Blick zu bekommen?

Jesus hat diese Frage offensichtlich verfolgt, sonst hätte er wohl nicht so viele Gleichnisse erfunden und keine Bergpredigt dieser Art gehalten. Dem Textautor dagegen war die Frage schon nicht mehr bewusst oder zu schwierig – für sich selbst oder für die Leser. Er tut so, als reichten innerweltliche Anweisungen.

 

Vom Beten. Das Vaterunser

 

5.      Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt.

6.      Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.

7.      Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.

8.      Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.

9.      Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt.

10.  Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.

11.  Unser tägliches Brot gib uns heute.

12.  Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

13.  Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

14.  Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben.

15.  Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

 

Das Vaterunser ist eine existenziell tiefgründige Zusammenfassung unserer Daseinssituation. Um das zu zeigen, formulieren wir die Verse um:

9. Das Außerweltliche ist für uns wie ein Vater. Wir können es nicht begreifen.
10. Es ist, wie wenn dieser Vater unser Sein in der Welt lenkt, indem er uns eine unermesslich reiche Welt begegnen und verstehen lässt und andererseits unser Eigentliches Selbst befähigt, darin willentlich zu handeln.
11. Unser Dasein ist so angelegt, dass wir es bestehen können. Es ist, wie wenn der Vater es so fügt, dass wir in der Welt alles finden, was unser Leben ausmacht.
12. Wenn wir Leben mindern, werden wir schuldig. Diese Schuld kann uns beherrschen. Von ihr werden wir frei, wenn wir aus ihr lernen, und damit wieder und besser Leben mehren. Dies müssen wir auch den Mitmenschen zubilligen, die eventuell unser Leben mindern. Wir müssen ihnen ihre Schuld grundsätzlich vergeben, andernfalls beherrscht sie uns.
13. Wir können der Attraktivität der Welt verfallen. Was uns immer davor bewahren und davon erlösen kann, ist die Rückbindung an das Außerweltliche. Es ist absolut in jeder Daseins-Hinsicht.

Zu den vorangehenden Texten der Bergpredigt kommt hier viel und gewichtiges Neues hinzu:

-          das Urvertrauen, dass unser Dasein wie von einem fürsorglichen Vater gefügt ist,

-          die Einsicht, dass das Außerweltliche begrifflich nicht zu erfassen sondern absolut ist,

-          der außerweltliche Ursprung des Willens,

-          das Vergeben-Sein der Schuld,

-          das Verfallen an die Welt und der Weg zurück,

-          die verschiedenen "Sichten" auf das Außerweltliche, seine Dimensionen: Reich, Kraft, Herrlichkeit, Ewigkeit.

Als Daseinsgesetze sind das alles Gegebenheiten. Darum zu bitten, ist sinnlos, es ist von vornherein so. Bitten kann man allenfalls darum, dass man Klarheit darüber gewinnt, d.h. dass man das, worauf das Vaterunser existenziell zeigt, in den Blick bekommt.

Wir leben tatsächlich auf der Basis von Urvertrauen. Wir vertrauen auf die Regelmäßigkeit der uns begegnenden Phänomene, so wie wir sie verstehen, z.B. dass nicht im nächsten Moment unser Fußboden weg ist und der Stuhl, auf dem wir sitzen, im leeren Raum hängt, oder dass es in 5 Minuten in der Welt kein Licht mehr gibt.

Die Menschen haben schon verstanden, dass Gott kein Begriff ist, und nutzen es, dass man ihm in der Welt der Begriffe nicht begegnen muss.

Wir wissen, dass in der Welt deren Gesetze gelten, und dass wir, um in der Welt optimal zu leben, diese Gesetze möglichst gut verstehen und uns clever danach richten müssen – aber dann läuft alles auf zunehmende Entropie hinaus, auch auf abnehmendes Leben. In der Welt bleibt kein Raum für freien Willen. Als Träger des freien Willens kommt nur der außerweltliche Spieler unserer realen Realität in Frage, unser Eigentliches, authentisches Selbst.

Da das Außerweltliche kein Begriff ist, kann man ihm kein Schuld- und Vergebungs-Denken zuschreiben. Unser Dasein ist selbst so, dass Schuld und Vergebung unausweichliche Gegebenheiten sind. Wenn wir Leben nicht mehren, rührt sich unser absolutes Gewissen, und mit ihm kann man nicht diskutieren. Unsere Aufgabe bleibt, Leben zu mehren. Man wird ihr nicht gerecht, wenn man die Schuld einerseits einfach übergeht, oder andererseits in der eigenen oder fremden Schuld und Schuldhaftigkeit fixiert bleibt. Man muss die konkrete Schuld verarbeiten, d.h. ihre Ursache und ihren Anlass verstehen, damit man ab sofort besser Leben mehren kann, nicht zuletzt das Leben des Anderen, das man schuldhaft gemindert hat. Mehr ist existenziell mit der Schuld nicht zu machen, sie ist dann in eine Mehrung des eigenen Lebens umgewandelt. Es bleibt existenziell nichts weiter nach: sie ist vergeben. Aber man muss natürlich auch noch mit den innerweltlichen Folgen weiterleben.

Das Verfallen an die Welt erleben wir alle als selbstverständlich. Wir sind sozusagen in diesen Prozess hineingeboren, kennen zunächst gar nichts Anderes als die Welt, die uns mit ihren Attraktionen bindet und in der wir unvermeidlich, manchmal auch absichtlich, Leben mindern. Das Böse ist jede Haltung, die Leben nicht mehrt. Wir müssen erst einmal lernen und gezeigt bekommen, dass unser Dasein so ist, wie wenn alles an einer außerweltlichen Komponente hängt, die man durch Bemühen sogar in den Blick bekommen kann. Und dass man auf so eine Weise unser Eigentliches Selbst in den Blick bekommen kann, von dem her wir der Welt sozusagen von außen gegenüberstehen und ihr keineswegs mehr verfallen sind. Die Abhilfe gegen das Verfallen, auch gegen das böse Verfallen bringt der Blick auf das Außerweltliche. Das ist die Struktur der "Erlösung". Das Außerweltliche ist absolut, d.h. wörtlich "abgelöst" von der Welt und ihrer Sorge.

"Reich", "Kraft", "Herrlichkeit", "Ewigkeit" sind im Vaterunser-Text mit einem "denn" angeknüpft. Wir bitten den Vater, "denn" der hat immer alle Herrschaftsattribute, die man braucht, um die Bitten zu erfüllen. Das ist alles nichtig. Gott ist kein Begriff, man kann daher von ihm nichts erwarten oder erhoffen, ihn nicht in eine Bitte einbauen und auch nicht in eine Begründung für das Erwarten oder Erhoffen. – Wir haben das oben mit der Interpretation als Daseinssichten schon korrigiert. Ein paar kurze Erklärungen: "Reich" meint Gottesherrschaft, und die besteht existenziell darin, dass wir keine und das Außerweltliche alle Kontrolle über die uns begegnenden Phänomene hat. "Kraft" bezieht sich als zusätzliche, andere Sicht wohl eher auf die Kraft unseres Eigentlichen Selbst, in der Welt gegen die zunehmende Entropie Leben mehren zu können. "Herrlichkeit" steht in enger Beziehung zum "Reich", also zu den Phänomenen, und es bedarf nur einer kleinen Meditation, um zu erkennen, dass die Gesamtheit der uns begegnenden Phänomene, die Welt, die wir verstehen, über alles herrlich ist. "Ewigkeit" heißt nicht unendliche Zeit, sondern "außerhalb der innerweltlichen Zeit". –

Diese Erläuterungen sollen nur zeigen, dass es nicht unplausibel ist, dass Jesus von seinem Blick auf das Außerweltliche her selbst von "Reich", "Kraft", "Herrlichkeit", "Ewigkeit" gesprochen haben dürfte. Aber die Gestaltung des Vaterunsers als eine Reihe von Bitten dürfte nicht von Jesus selbst sein. Er hat gewusst, was auch der Autor des 23. Psalms wusste, dass Gott einem sowieso alles gibt, was man dem Vaterunser-Text nach erst erbitten soll. Und er hat es im übernächsten Abschnitt Vom Schätzesammeln und Sorgen noch einmal überdeutlich ausgesprochen.

Mit der Formulierung als Bitten und mit der "denn"-Anknüpfung einer weltlichen Begründung macht der Textautor wieder den ganzen existenziellen Inhalt der Rede unkenntlich, für alle außer für Insider. Das hat nun schon Methode, einschließlich genau dieser Feinabstimmung. Denn er macht es wieder so, dass man darüber stolpern muss: Im Vers 8, direkt vor dem Vaterunser, qualifiziert er implizit das Bitten als sinnlos ab, da Gott sowieso schon vorher weiß, was wir bedürfen. Und dann schreibt er doch Bitten.

Offensichtlich war es zu Zeiten und im Umfeld des Textautors nicht opportun, Jesu Lehre offen zu vermitteln.

Am Schluss schiebt er auch noch die unverstandenen Verse 14 und 15 nach: Gott vergibt uns genau dann, wenn wir allen Mitmenschen vergeben. Ein solches Gottes-Kalkül ist nichtig. Unser Dasein ist so, dass uns je schon vergeben ist, mir und den Mitmenschen. Aber in der Welt verfolgt mich die Schuld, meine und die der Mitmenschen gegenüber mir, wenn ich den Zugang zu dieser existenziellen Vergebung nicht finde. Dann kann ich mir nicht vergeben, weil ich überhaupt nicht vergeben kann. Sozusagen das beste Training für Vergebung ist, den Mitmenschen zu vergeben, weil sie in derselben Daseinssituation sind wie ich, und weil ihnen schon vergeben ist.

 

Vom Fasten

 

16.  Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer dreinsehen wie die Heuchler; denn sie verstellen ihr Gesicht, um sich vor den Leuten zu zeigen mit ihrem Fasten. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt.

17.  Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht,

18.  damit du dich nicht vor den Leuten zeigst mit deinem Fasten, sondern vor deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.

 

Diese Verse wirken hier wie ein Intermezzo eingestreut. Sie setzen eigentlich die Verse 1-6 fort, und bringen nicht mehr als ein weiteres Beispiel der öffentlichen Ausübung und Zurschaustellung religiöser Praxis. Der obigen Diskussion ist also hier nichts Neues hinzuzufügen. Es geht letztlich weiter darum, in einen Engelskreis hineinzukommen, der einen in die richtige Daseinshaltung bringt.

 

Vom Schätzesammeln und Sorgen

 

19.  Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe einbrechen und stehlen.

20.  Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo sie weder Motten noch Rost fressen und wo die Diebe nicht einbrechen und stehlen.

21.  Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.

22.  Das Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein.

23.  Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!

24.  Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.

25.  Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?

26.  Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?

27.  Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?

28.  Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht.

29.  Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen.

30.  Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen?

31.  Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden?

32.  Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.

33.  Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.

34.  Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.

 

Hier geht es also darum, was wir brauchen, damit wir die Daseinssituation bestehen, und wie wir dafür ausgestattet sind. Nach Vers 33 braucht man das Reich Gottes und die entsprechend ausgerichtete Daseinshaltung, und dann fällt einem alles zu. "Reich Gottes" meint, dass unsere außerweltliche Komponente "regiert", d.h. unser Eigentliches Selbst, dass wir also eigentlich, nämlich frei von innerweltlichen Einflüssen und Wertungen, wahrnehmen und handeln. In diese Position kommen wir durch den Blick auf das Außerweltliche, der alles in unserer Welt relativiert und richtig – gerecht – einordnet. Einen Mechanismus, der das Außerweltliche bewegt, uns alles Nötige zu geben, wenn wir diese Bedingungen erfüllen, kann es nicht geben. Wir sehen dann einfach mit "lauterem Auge", was wir vorher nicht sahen: dass uns alles zufällt.

Wie erreicht man nun das "Reich Gottes", die "Gerechtigkeit", die richtige Daseinshaltung, den Blick auf das Außerweltliche? Man muss danach "trachten, sein "Herz" auf das Außerweltliche werfen, wie es Vers 21 nahe legt.

Umgekehrt findet man all das nicht, wenn man sich mit Schätzen innerhalb der Welt befasst. Dabei ist es übrigens gleichgültig, ob man sich an materielle oder immaterielle Werte, "Mammon", Genuss, Macht, intellektuellen Gewinn, oder auch nur an den kleinen Vorteil verliert. Immer ist man dann von den Anforderungen der Welt bestimmt und hat für das Außerweltliche keine Zeit, keinen Raum in seinem Bewusstsein, den Blick nicht frei.

Zur Erkenntnis des "lauteren Auges", dass "uns alles zufällt", was unser Leben ausmacht, werden noch zweierlei Qualitäten erwähnt: Zum einen Schönheit. Das primitivste Gras ist schön. Man muss nur in Ruhe genau genug hinsehen – und sich vielleicht vorstellen, man müsste selbst so etwas nachbauen, nicht nur als Modell, sondern zellgenau, lebens- und reproduktionsfähig, und vor allem nicht aus vorhandenem Material, sondern aus nichts. Die andere erwähnte Qualität ist die Kontingenz: Alle unsere Sorge in der Welt kann unser Leben nicht verlängern. Wenn es zu Ende ist, ist es zu Ende. Aber solange wir leben, sind wir die ganze Zeit lebensfähig, können unser Dasein bestehen, den nächsten Schritt tun, Leben mehren, auch von sehr niedriger Basis aus und auch wenn das sehr anstrengend sein kann.

Das alles ergibt ein klares Bild der Spielregeln unseres Daseins. Sie sind in diesem Abschnitt der Bergpredigt korrekt und deutlich angesprochen. Der Textautor lässt sogar die Härten in den Versen 24 und 27 offen stehen und versucht nur, sie mit bildhafter und poetischer Sprache zu überstrahlen – und mit reichlich innerweltlichen Begründungen zu wattieren, als ginge es gar nicht um Daseinsgesetze: innerweltliche Schätze lohnt nicht zu sammeln, weil sie ohnehin verfallen; wenn das Auge böse ist, ist das ganze Leben finster; die Vögel und die Lilien leben, ohne sich zu sorgen – also können die Menschen das auch; man soll nicht sorgen, weil man sonst dem Vorbild der Heiden folgt; man soll nicht für morgen sorgen, weil die heutige Sorge auch schon reicht. Diese Begründungen könnte man einfach getrost alle weglassen, und der Text verlöre nichts von seiner existenziellen Substanz.

Wenn es zuvor nicht ganz eindeutig war, ob der Textautor nicht deutlicher schreiben konnte oder wollte, so wird nun klar, er kann alles: die Wahrheit schreiben, verschleiern, verbiegen, ablenken, merken lassen, dass er manipuliert. Er hat große eigene existenzielle Kompetenz. Und wenn er sie in einer Zusammenfassung wie dieser Bergpredigt Jesus zuschreibt, dann muss man annehmen, dass der sie selbst hatte und nicht ohne Erfolg zu verbreiten versuchte.

 

 


MATTHÄUS 7

 

Vom Richtgeist

 

1.      Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.

2.      Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.

3.      Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?

4.      Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen?, und siehe, ein Balken ist in deinem Auge.

5.      Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.

6.      Ihr sollt das Heilige nicht den Hunden geben und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, damit die sie nicht zertreten mit ihren Füßen und sich umwenden und euch zerreißen.

 

Wie man sich leicht überlegen kann, bedeutet richten hier urteilen bzw. verurteilen (und nicht das perfekte Ausrichten unserer Daseinshaltung). Dass jeder sich dabei geradezu naturgemäß gegenüber den Mitmenschen begünstigt, ist bekannt, wenn auch regelmäßig verdrängt. Wir wissen, dass wir dahin tendieren, unser eigenes Bild zu beschönigen, unsere Fehler auf andere zu projizieren, und an anderen das zu verurteilen, was wir uns selbst nicht zu leben zutrauen.

Was aber ist der existenzielle Aspekt des Urteilens? Es erfolgt nach innerweltlichen Kriterien, und zwar nach denen des Urteilenden. Man könnte auch sagen: das Urteilen ist diesen Kriterien, d.h. der Gesetzlichkeit der Welt unterworfen. Damit ist es aber auch der Urteilende. Wenn er sich in seinen Maßstäben allein auf die Gesetze der Welt einlässt, bestimmen sie auch ihn selbst. Unsere Art des Urteilens fällt damit genau so auf uns zurück, wie es Vers 2 sagt. Das gilt überdies auch für unser Urteil über die Welt als ganze.

Es kommt noch etwas Wichtiges hinzu: die inhärente Mangelhaftigkeit des Urteilens nach innerweltlichen Kriterien. Voraussetzungen für Urteile sind Aussagen über Fakten. Genauer gesagt sind es objektive, theoretische, relationale Aussagen, z.B.: Die Person A hat zum Zeitpunkt Z am Ort O zur Person B den Satz S gesagt. Daran ist alles problematisch:

-          die Objektivität, denn ein und dieselbe Situation wird von mehreren beteiligten Personen stets verschieden erlebt und verstanden;

-          der theoretische Charakter, denn die Motivation von A, was A mit S meint, und wie B es auffasst, begegnen einem ja nicht als Phänomene, sondern darüber müssen wir erfahrungsbasierte Vorstellungen – eben Theorien – heranziehen, wobei unsere Erfahrungen die in Frage stehende Situation möglicherweise gar nicht abdecken;

-          die Relationalität, denn sie kann grundsätzlich niemals alles erfassen, was in einer Situation "drinsteckt"; was uns in einer Situation an Phänomenzusammenhängen und -folgen begegnet, lässt sich immer beliebig verfeinern; 10 Jahre später sehen wir in derselben Situation mehr.

Selbst, wenn wir glauben, diese Einschränkungen zu berücksichtigen und fair zu urteilen, sind die Einschränkungen doch nicht ausgeräumt. Und dann bleibt immer noch der absolute Fehler, dass wir im innerweltlich begründeten Urteil und den Konsequenzen, die wir daraus ableiten, das Außerweltliche gar nicht im Blick haben, weder das Selbst des Anderen noch unsere eigene Daseinssituation mit dem "Live"-Autoren unseres Daseinsfilms.

Wie bewältigt der Textautor der Bergpredigt diese Zusammenhänge? Er bringt nur das Ergebnis, dass wir über Andere nicht urteilen sollen, und den Hinweis dass unsere Urteilsweise auf uns zurückfällt, letzteres ohne Begründung, aber illustriert mit dem Bild vom Splitter und Balken. Das ist im Vergleich mit dem sonstigen Text angemessen, der ja insgesamt eher knapp und mit Begründungen sparsam ist. Auch wir haben in dieser Kritik Begründungen weglassen müssen, um den Rahmen nicht zu sprengen. Der Textautor braucht sich daher keine Mühe zu geben, um etwas abzumildern oder zu verdecken. Den existenziellen Kern voll zu vermitteln ist so aufwendig, dass in der knappen Darstellung niemand auf ihn stoßen wird.

Nun steht da aber auch noch als letzter Vers dieses Abschnitts, anscheinend ganz zusammenhanglos die Warnung vor der Lebensgefahr, wenn man das Heilige vor die Hunde und die Perlen vor die Säue zu wirft. Darüber muss man stolpern, und es zwingt einen zu einer Analyse, was das soll. Kein Absatz ohne stutzig machende Stolperstelle! Der Vers sagt genau, was der Autor mit seinen ständigen, für den Eingeweihten immer kenntlich gemachten Sinnentstellungen will: sich selbst schützen. Er will nicht wegen seiner heiligen Erkenntnisse verletzt oder getötet werden.

Die Bergpredigt ist eine Zusammenfassung der Existenzlehre Jesu. Er hat sie offen verkündet, und die religiöse Führung seiner Zeit hat ihn dafür umbringen lassen. Er hat die Gefahr gesehen und davor gewarnt. Man kann aber von keinem Textautor verlangen, dass er sich derselben Gefahr aussetzt. Dieser Textautor ist sehr geschickt: Er verkleidet dieselbe Existenzlehre als innerweltliche Vorschriften-Lehre, und entschuldigt sich hier sozusagen bei dem Leser, der den Kern doch herausliest, und versieht ihn mit einer ggf. lebensrettenden Warnung.

 

Von der Gebetserhörung

 

7.      Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.

8.      Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.

9.      Wer ist unter euch Menschen, der seinem Sohn, wenn er ihn bittet um Brot, einen Stein biete?

10.  Oder, wenn er ihn bittet um einen Fisch, eine Schlange biete?

11.  Wenn nun ihr, die ihr doch böse seid, dennoch euren Kindern gute Gaben geben könnt, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten!

 

Ein Abschnitt ohne jegliche Ecken und Kanten, geradezu aalglatt. Noch einmal geht es um das Bitten. Für diesen Abschnitt gilt immer noch – wie für die Bitten des Vaterunsers – die Qualifizierung aus Matthäus 6,8: "euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet". Damit bedeutet dieser Abschnitt: ohne Bitten wird oder ist schon gegeben, und zwar Gutes.

Dies passt sehr gut zum vorigen Abschnitt über das Urteilen. Das, was uns Gott gibt und was unser Leben ausmacht, die reale Realität, die uns der außerweltliche Schöpfer begegnen lässt, ist gut. Unser innerweltliches Urteil über die Welt als schlecht, böse und ungerecht ist falsch. So steht es da, verkleidet als mildes Gleichnis, aber in seinem existenziellen Kern doch absolut konfrontativ: wir sehen alle die Welt nicht richtig.

Könnte man das nachvollziehen? Ja, aber auch hier können wir, um den Rahmen nicht zu sprengen, wieder nur knappe Hinweise geben. Wir hatten ja schon zu Matthäus 6,30 die kleine Gedankenübung, eine Graspflanze aus nichts nachzubauen. Wir können sie auf die ganze Welt ausdehnen. Es gibt Menschen, die virtuelle Realitäten, etwa Computerspiele, entwerfen und implementieren können, die immerhin so attraktiv sind, dass sie sich millionenfach verkaufen und gespielt werden. Man muss sich nur eine virtuelle Realität vorstellen, die die ganze Welt abbildet, und sich dann vergegenwärtigen, dass alle Menschen dies als reale Realität ihres Daseins ja tatsächlich spielen, sich regelmäßig darin verlieren und nicht zu spielen aufhören, d.h. nicht sterben wollen. Ein so schlechtes "Spiel" kann das also nicht sein. – Ein anderer Ansatz ist es, alles, was uns in der Welt zur Verfügung steht, als geschenkt zu erkennen: Wir haben nichts dafür getan, dass es die Schrift, die Sprache und die Medien gibt, in denen wir einen Text wie diesen lesen können, oder dass es den Stuhl oder anderweitigen Sitz gibt, auf dem wir dabei sitzen. Und natürlich haben wir nichts dafür getan, dass es die Holz-, Stahl-, Textil-, Transport-Industrie usw. gibt, ohne deren Existenz es den Stuhl nicht gäbe, usw. Das alles müsste es in unserer Welt nicht geben, aber es steht zur Verfügung und wir haben nichts dazu getan, es ist uns geschenkt. – Was wir hier beschrieben haben, ist ein Teil der Daseinshaltung, in die wir durch den Blick auf das Außerweltliche ausgerichtet werden können. N.B.: der Textautor hat diese Sicht. Wie könnte er sonst verklausuliert schreiben, dass die Welt, die uns Gott begegnen lässt, gut ist.

 

Vom Tun des göttlichen Willens

 

12.  Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.

13.  Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind's, die auf ihm hineingehen.

14.  Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind's, die ihn finden!

15.  Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe.

16.  An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man denn Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln?

17.  So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte.

18.  Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen.

19.  Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.

20.  Darum: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.

21.  Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel.

22.  Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt? Haben wir nicht in deinem Namen böse Geister ausgetrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele Wunder getan?

23.  Dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch noch nie gekannt; weicht von mir, ihr Übeltäter!

 

Das Gesetz ist also anscheinend, dass wir den Leuten das tun, was wir möchten, dass sie uns tun. Das "führt zum Leben" ist aber unbequem, da der Weg dorthin schmal ist und nur von Wenigen gefunden wird. Diese Formulierungen können gerade noch dafür durchgehen, dass es das Daseinsgesetz ist, Leben zu mehren, dass es die Überzahl der Menschen trotzdem vorzieht, Bewährtes zu leben statt mühevoll und riskant neue Lebensmöglichkeiten zu erarbeiten, und dass überhaupt nur wenige das Dasein und das Außerweltliche annähernd in den Blick bekommen. Ohne Vorwissen wird man die Formulierungen jedoch niemals in diesem Sinne verstehen können.

Und dann werden falsche Propheten des bequemeren Lebens angeprangert. Statt gute Früchte zu bringen, nämlich Leben zu mehren, reklamieren sie für sich besondere Autorität, indem sie behaupten, im Namen Gottes zu weissagen, böse Geister zu vertreiben und Wunder zu tun. Mit Gott hat das aber absolut nichts zu tun.

Jesus hat sich später wütend mit den Pharisäern und Schriftgelehrten angelegt. Der Textautor ist weniger mutig. Er schlägt nur den Sack und nicht den Esel. Über ein paar kleine falsche Wahrsager, Exorzisten und Wunderheiler öffentlich herzuziehen, dürfte nicht besonders gefährlich gewesen sein sondern eher systemkonform.

Dieser Absatz bringt kaum etwas Neues und ist so harmlos, wie er aussieht. Vor allem, weil letztlich niemand den Blick der Leser auf das Außerweltliche herbeischreiben kann.

 


Vom Hausbau

 

24.  Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute.

25.  Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es war auf Fels gegründet.

26.  Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf Sand baute.

27.  Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, da fiel es ein und sein Fall war groß.

28.  Und es begab sich, als Jesus diese Rede vollendet hatte, dass sich das Volk entsetzte über seine Lehre;

29.  denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten.

 

Die ersten vier Verse qualifizieren die vorangegangene existenzielle Rede als sicher belastbar, und alle andere Rede über das Dasein und das Außerweltliche als haltlos. Das könnte man näher darlegen, aber der Textautor tut es nicht.

Und dann zerreißt der vorletzte Vers das ganze Wohlgefallen, das man von einer über alles wertvollen, Augen öffnenden, Einsicht schaffenden Rede erwarten könnte: das Volk ist darüber entsetzt. Das ist gefährlich für Jesus, er hat das Heilige den Hunden gegeben. Und für den Textautor ist es der Grund, die ganze Bergpredigt so zu bearbeiten, dass er damit das Entsetzen des Volks vermeidet, und dass der existenzielle Inhalt trotzdem wieder auffindbar bleibt. Dies leistet er mit Bravour. Über den biblischen Text der Bergpredigt hat sich noch niemand entsetzt.

Es gibt auch keine Auslegung, die erklären könnte, warum sich das Volk über eine Rede entsetzt, an der vordergründig nichts Entsetzliches ist. Das existenzielle Vorwissen erklärt es mühelos: Die Menschen lassen sich voll auf die Welt ein, und wollen daraus nicht herausgerissen werden, ja ihr In-der-Welt-Sein nicht einmal diskutiert sehen. Es ist ein Grundzug der Menschen – den zu testen man besser unterlässt –, dass sie Existenzfragen scheuen und mit ihnen nichts zu tun haben wollen. Adam und Eva verstecken sich, um nicht vor Gott mit der Nacktheit ihrer Existenz konfrontiert zu werden.

Der letzte Vers bedeutet nichts weiter, als dass Jesus kompetent über das Dasein und das Außerweltliche sprach, die Schriftgelehrten dagegen inkompetent – wir haben ja schon dargelegt, dass Aussagen über das Dasein und das Außerweltliche grundsätzlich nichtig sind – man möchte ergänzen: je gelehrter und ausgefeilter, umso nichtiger.

Christologische Auslegungen kommen hier zu einem anderen Ergebnis. Die Vollmacht wird als eine persönliche Vollmacht von Gott an seinen einzigen Sohn Jesus Christus interpretiert. Das ist schon nicht im Einklang mit dem vorangehenden Text: der sagt – fallweise dekliniert – 15-mal "euer Vater" oder "dein Vater", einmal "unser Vater" und einmal "mein Vater". Jesus will allen Hörern seiner Predigt nahe bringen, dass Gott für sie alle wie ihr Vater ist, wie auch für Jesus selbst und für alle anderen Menschen. Nachdem wir in dieser Predigt so viele Beweise der existenziellen Kompetenz Jesu und des Textautors gefunden haben, wäre es auch sehr verwunderlich, wenn der Textautor dies in seinem letzten Satz Lügen strafen würde. Es kann ja gar nicht sein, dass Gott einen einzigen Sohn hat und ihm eine weltgültige Vollmacht übergibt, denn dies sind begriffliche Aussagen über das Außerweltliche und daher nichtig und inkompetent. Wenn man sich nur genügend mit dem Dasein befasst, dann wird offensichtlich, dass das Dasein so ist, wie wenn es ständig von guten Eltern gefördert würde.

 

 


ERGEBNIS

Die Bergpredigt ist eine sehr ergiebige Lehre über unser Dasein. Sie ist dem höchst kompetenten Daseinslehrer Jesus von einem ebenso kompetenten Autor zugeschrieben. Dieser hat den Text konsequent und erfolgreich so getrimmt, dass die Auslegung über Jahrhunderte nicht auf die brisanten existenziellen Inhalte gestoßen ist. Mit existenziellem Vorwissen erschließen sie sich mühelos, zumal der Textautor an auffälligen Hinweisen nicht spart.

Letztlich ergibt dies ein tieftrauriges Bild. Die Seligpreisungen besagen doch, dass die Befassung mit dem Dasein und dem Außerweltlichen uns selig macht. Dass die Angst der Menschen vor genau dieser Befassung stärker sein soll, und man die Seligpreisungen und alles andere Wissen um das Dasein und das Außerweltliche deshalb verstecken muss, ist absurd und pervers. Trotzdem ist es die Realität, damals und heute.

Allerdings ist niemand gezwungen, sich ihr persönlich auszuliefern. Dass am Außerweltlichen etwas zu fürchten sei, ist eine nichtige Aussage. Dass der annähernde Blick auf das Dasein und das Außerweltliche heilt, kann jeder für sich selbst ausprobieren und dann letztlich selbst wissen.

 

 

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