Rainer Bruno Zimmer

 

 

 

Dasein und Gott

 

 

Essays und andere Texte

 

 

 


 

 

 

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Version 1, unlektoriert, Mai 2017

© Rainer Bruno Zimmer

 


 

Inhalt

 

Vorwort 4

1. Essays  5

... denn ihr habt nicht recht von mir geredet - Von der notorischen Verletzung des Zweiten Gebots - 6

Der Kosmos ist nicht die Welt, und die Welt ist nicht alles  11

Unsere beste Ethik reicht nicht 19

Das Absolute  24

2. Schriften zum Luther-Jahr  32

Religiöse Autonomie heute – Von der Unmündigkeit des Christenmenschen –  33

… den sollt ihr hören  40

Das Gleichnis vom neuerdings verlorenen Sohn  45

Das Gleichnis von der virtuellen Welt 46

Das Vaterunser  48

3. Andere Schriften  49

Die Daseinsphilosophie der Bergpredigt 50

Adam, wo bist du?  75

 


 

Vorwort

 

 

Das zeitgenössische Denken hat schwere Mängel und befasst sich nicht damit:

Die Philosophie behandelt nur noch Innerweltliches, obwohl der Grundzug unseres Seins, der uns Innerweltliches begegnen lässt, selbst nicht innerweltlich sein kann.

Die Ethik der Menschenwürde und Menschenrechte halten wir für vorbildlich, obwohl sie versagt gegenüber Systemen, Politiken und Verhalten, die einen Großteil der Menschen niederhalten.

Die Wissenschaft versucht die Sicht durchzusetzen, die Welt gehorche den Naturgesetzen, und praktisch alle glauben das, obwohl Theorien von Fakten abhängen und nicht umgekehrt.

Die monotheistischen Religionen bauen auf Aussagen über einen absoluten Gott, und alle Gläubigen folgen ihnen, obwohl Aussagen über Absolutes logisch nicht möglich sind.

Das alles lässt sich leicht diagnostizieren:
Es fehlt die Einsicht in unser Dasein, in die Grundzüge unserer Existenz.

Das Dasein voll zu beschreiben, ist eine größere Arbeit, die ihren Niederschlag in anderen Büchern des Autors gefunden hat.

Diese Sammlung bietet dagegen verschiedene, kleinere Schriften, die man ohne weiteres einzeln lesen kann. Man kann sie als "Einstiege" verstehen und durch sie bestenfalls erkennen, dass der Blick auf das Dasein einen außerordentlichen Gewinn bringt: eine optimale Daseinshaltung.

 


 

1.
Essays

... denn ihr habt nicht recht von mir geredet

Von der notorischen Verletzung des Zweiten Gebots

 

Der Kosmos ist nicht die Welt, und die Welt ist nicht alles

Eine Existenzialkritik des naturwissenschaftlichen Glaubens

 

Unsere beste Ethik reicht nicht

... weil sie den existenziellen Sinn des Daseins verfehlt

 

Das Absolute

Was an unserem Dasein absolut ist

 

 

 


 

 

 

... denn ihr habt nicht recht von mir geredet
- Von der notorischen Verletzung des Zweiten Gebots -

 

 

Die Absolutheit Gottes und das Zweite Gebot

 

In den monotheistischen Religionen kursieren Sätze wie "Gott ist absolut", "Gott ist nicht zu begreifen", "Gottes Reich ist nicht von dieser Welt". Sie repräsentieren ein ursprüngliches religiöses Wissen, das unterschwellig vorhanden und verbreitet ist. Ebenso verbreitet ist allerdings, dass die Konsequenzen daraus nicht gezogen werden.

Wenn Gott absolut ist, dann ist er "abgelöst", und zwar von Allem, d.h. zu nichts in Beziehung, und dann kann man auch keine Aussagen über ihn machen, denn die würden ihn ja in Beziehung zu etwas setzen. Jeder Versuch einer Aussage über Gott relativiert Gott. Wenn Gott nicht zu begreifen, d.h. begrifflich nicht zu fassen ist, wenn er nicht von dieser Welt und damit auch außerhalb der Begrifflichkeit dieser Welt ist, dann ist "Gott" kein Begriff, und kann nicht in Aussagen eingesetzt werden.

Um es gleich zu sagen: Dies ist der eigentliche Sinn des Zweiten – in mancher Zählung: Dritten – Gebots: dass eine Aussage mit dem Namen Gottes immer ein Missbrauch dieses Namens ist und daher nichtig. Das kann man ohne jegliche Auslegungen sehen, allein mit ein wenig Einsicht in das eigene Dasein, insbesondere, dass wir alles, was uns in der Welt begegnet, zugleich begrifflich fassen, und dass das für uns begrifflich Fassbare genau unsere Welt ist.

Üblicherweise verstehen wir das Zweite Gebot ja anders: Wir sollen Gott nicht in einen negativen Zusammenhang bringen, uns nicht negativ über ihn äußern, ihn nicht karikieren, nicht verunglimpfen usw. Und daran halten wir uns im Großen und Ganzen.

Misstrauisch gegenüber diesem Verständnis könnte uns machen, dass das Original des Zweiten Gebots aus dem 2. Buch Mose (Exodus) Kapitel 20, Vers 4, sehr unterschiedlich übersetzt worden ist:

Bei Luther lautet es: "Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen". Im Katholischen Katechismus steht statt "missbrauchen" das Wort "verunehren". Buber und Rosenzweig übersetzen: "Trage nicht SEINEN, deines Gottes Namen auf das Wahnhafte". Auch ein Blick in die King-James-Bibel lohnt: "Thou shalt not take the name of the LORD thy God in vain", d.h. man soll Gottes Namen nicht vergeblich benutzen.

"Missbrauchen", "auf das Wahnhafte tragen", "verunehren" und "vergeblich benutzen": das sind so deutlich verschiedene Auslegungen der Übersetzer, dass erst einmal der Eindruck entsteht, dass womöglich keiner das richtige Verständnis hat. Ein wenig hilft immerhin der unmittelbare Kontext. Wenige Zeilen später folgt nämlich das Vierte Gebot: "Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren". Dann kann derselbe Autor doch wohl nicht meinen, dass es in Bezug auf Gott genüge, nur seinen Namen nicht zu verunehren oder missbrauchen. Er wäre ein Leichtes gewesen zu schreiben : "Du sollst den Namen Gottes ehren" oder überhaupt "Gott ehren". Da der Autor das aber nicht schreibt, geht es ihm offenbar nicht um die Ehre Gottes oder seines Namens, und so scheiden die Interpretationen "missbrauchen" und "verunehren" offensichtlich aus.

Es bleiben die rätselhafteren Fassungen: "auf das Wahnhafte tragen" und "vergeblich benutzen". Sie zeigen auf irgendeine Art von Fehlbenutzung oder vergeblicher Benutzung, die auf einem Wahn beruhen soll, und die ohne diesen Wahn vermeidbar wäre. Aber welchen Fehler und welchen Wahn er meint, das schreibt der Autor nicht.

Wir wissen ja nun schon vorweg, welche Fehlbenutzung gemeint ist. Aber es wäre auch nicht schlecht, wenn man aus der Bibel selbst einen übereinstimmenden Hinweis anführen könnte. Tatsächlich findet sich so ein Hinweis bereits in der Sündenfallgeschichte im 1. Buch Mose.

 

Das "Nullte" Gebot

 

Gott gebietet dort dem Menschen: "Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben". Das ist sozusagen das "Nullte" Gebot. Inhaltlich beschreibt es geradeheraus das Dasein des Menschen nach dem Sündenfall: er hat die Fähigkeit der Erkenntnis, kann das Gute und das Böse unterscheiden, und ist sterblich.

Das liest sich so, wie wenn das kleine Kind sagt: "Oh, wie schöne Beeren!" und die Mama warnt: "Die sind giftig. Die darfst Du nicht essen, sonst musst Du sterben". Wie das Dasein ist, so ist es nun mal: unausweichlich, alternativlos, absolut. Die Schlange aber qualifiziert Gottes Rede um: "Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist". Demnach kann man Gottes Rede auch anders sehen: nicht als eine Kommunikation von Daseinsverständnis, sondern als ein von Hinter­gedanken motiviertes, willkürliches, mit einer willkürlichen Strafe belegtes, und bei alledem übertretbares Gebot. Dass der Mensch diese Sicht übernimmt,  das genau ist der Sündenfall, die Wendung des Menschen zum Nichtsehen des Absoluten. Alle Weiterungen dieser Geschichte sind nur Vollzug und Folgen.

Das in der Sündenfallgeschichte von Gott beschriebene Dasein hat jeder Mensch. Wir haben alle sozusagen den Sündenfall hinter uns und sind nun auf Gebote Gottes fixiert. Wir wären aber gut beraten zu prüfen, ob das, was wir leichthin als Gottes Gebote handeln, nicht treffender und mit höherem Nutzen als Beschreibungen unseres Daseins zu verstehen wäre. Die Zehn Gebote jedenfalls sind eine nicht besonders gute Gebotsliste, aber eine ziemlich gute Daseinslehre.

 

 

Der "normale" Missbrauch

 

Wie müsste man das Zweite Gebot als Daseinsbeschreibung lesen? Unser Dasein ist so beschaffen, dass wir Gottes Namen nicht missbrauchen oder verunehren können. Das schließt nicht aus, dass wir ihn auf das Wahnhafte tragen, oder vergeblich benutzen können, womöglich sogar üblicherweise. Bevor wir das kurzerhand als unmöglich abtun, sollten wir uns doch vergegenwärtigen, dass es hier um unser Dasein, d.h. um unsere Existenz geht, und dass wir uns darin besser nicht irren sollten. Gehen wir dieser Möglichkeit also weiter nach.

Gängige Benutzungen des Namens Gottes sind z.B.: Gott ist der Allerhöchste, Gott rettet den Menschen, Gott ist Liebe, Gott ist gnädig. Sie sind so positiv wie nur irgend vorstellbar gemeint, mehr als konform zum Zweiten Gebot. Im Sinne des Zweiten Gebots als Daseinsbeschreibung sind es jedoch normale Fehlbenutzungen des Namens Gottes.

Was ist ihr gemeinsamer Nenner? Sie sind – versuchte – Aussagen über Gott. Wenn wir sagen würden: Gott ist relativ, dann würden wahrscheinlich alle Gläubigen protestieren. Aber die Aussage: Gott ist der Allerhöchste setzt nun einmal Gott in Relation, nämlich in eine Höhenrelation zu anderen Objekten. Die Aussage: Gott rettet den Menschen setzt Gott in Beziehung zu den Begriffen retten und Mensch. Gott ist Liebe setzt Gott in Beziehung zum Begriff Liebe. Gott ist gnädig setzt Gott in Beziehung zum Begriff gnädig. Beziehung ist aber dasselbe wie Relation. Wie schon gesagt: Jeder Versuch einer Aussage über Gott relativiert Gott. Und da Gott absolut ist, ist jede Aussage über ihn nichtig.

Der vorige Absatz ist um der Prägnanz willen ungenau, in der Hoffnung, dass er trotzdem richtig verstanden wird. Genau genommen gibt es überhaupt keine Aussagen über Gott. Auch der eben vorhergehende Satz kann keine Aussage über Gott sein. Der Satz: Jede Aussage über Gott ist nichtig, als Aussage genommen, erklärt sich selbst als nichtig. Was man genau aussagen kann, ist aber folgendes: In jeder Aussage mit dem Namen "Gott" kann dasjenige, das mit diesem Namen bezeichnet ist, nur ein innerweltliches – relatives – Objekt sein. Und wenn man meint, sich in einer Aussage mit dem Namen "Gott" auf den so genannten, absoluten, außerweltlichen, unbegrifflichen Gott zu beziehen, dann unterliegt man einem Wahn.

Auf diesen eigentlichen Sinn des Zweiten Gebots kann man also auch mit Hilfe der Bibel kommen. Wem übrigens die vorliegende Ableitung nicht reicht, dem sei das Buch Hiob empfohlen. Da formulieren seine Freunde 34 Kapitel lang Aussagen über Gott, und Gott sagt am Ende, dass sie nicht recht über ihn geredet haben.

Damit stehen wir nun wieder vor der Frage nach den Konsequenzen: Was folgt aus dem Zweiten Gebot, wenn es denn Aussagen über "Gott" als nichtig erweist? Naheliegend ist, dass alle Reden über Gott und alles Denken und Lehren, das auf Aussagen über "Gott" beruht, überprüft werden müssen, und womöglich vieles verworfen werden muss. Das ist Sache der Träger dieses Denkens und Lehrens.

 

 

Die annähernd zeigende Rede

 

Andererseits ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass das Reden über Gott doch fallweise irgendwie erfolgreich praktiziert wird. Stellen wir uns also der Frage, ob und gegebenenfalls wie es möglich ist, ohne Aussagen über Gott zu reden.

Um diese Frage zu beantworten, tritt man am besten einen Schritt zurück und fragt, warum man denn überhaupt über Gott reden sollte. Reden über Gott scheint manchen für unser Dasein relevant zu sein, anderen erscheint es irrelevant. Allein um die mögliche Relevanz zu klären, muss man schon über Gott reden.

Um Relevanz für unser Dasein zu erkennen, muss man weiterhin zunächst das Dasein in den Blick nehmen. Das ist leichter gesagt als getan. Es geht nicht um das, was uns immer am meisten beschäftigt: die Inhalte unserer jeweiligen Welt, sondern um das, was an unserem Dasein außer unserer Welt noch daran ist.

Nun sind viele Menschen der Meinung, die Welt sei alles, was es gibt. Wie soll man aber mit so einer Beschränkung Daseinsaspekte außerhalb der Welt in den Blick nehmen! Andererseits haben die Menschen keine Schwierigkeiten, etwa von einer virtuellen Realität zu sprechen. Das heißt doch: das, was uns etwa ein Computerspiel über seine Geräte – den Computer, den Bildschirm, die Lautsprecher, die Joysticks u.a.m. – als virtuelle Realität bietet, ist in irgendeiner Weise ähnlich zu der echten Realität, die uns die Welt bietet. Sehen wir uns das ein wenig näher an. Die virtuelle Realität hat eine Art Präsentationszusammenhang, nicht nur Geräte sondern auch Designer, Programmierer, Spieler. Sie befinden sich außerhalb der virtuellen Realität. – Was entspricht dem in der echten Realität? Geräte brauchen wir nicht, wir nehmen unmittelbar wahr und handeln unmittelbar. Aber die Inhalte der Welt begegnen uns, wie wenn sie von außerhalb "live" produziert und präsentiert werden, und indem sie uns begegnen, befinden wir uns ihnen gegenüber, wir spielen also auch von außerhalb der realen Welt.

Beim Computerspielen ist unser Fokus in der virtuellen Realität, wir können in ihr aufgehen und ihr so verfallen, dass sie uns nicht leicht loslässt. Aber wir können aus dem Spiel auch aussteigen, z.B. wenn wir darin scheitern, und dann sehen wir wieder die Geräte. Gibt es so etwas in der Welt auch? Der Welt sind wir meist ebenso verfallen, aber auch in der Welt können wir so heftig verlieren, dass wir "auf uns selbst zurückgeworfen" werden.

An diesen wenigen Absätzen kann man schon sehen, wie Daseinsbeschreibung funktioniert. Man muss mit den üblichen Worten – andere haben wir nicht – assoziativ und ohne Rücksicht auf begriffliche Korrektheit in die Nähe des Daseinsaspekts zeigen, der in den Blick kommen soll. Das Mittel der Daseinsbeschreibung ist die annähernd zeigende Rede. Eigentlich muss man ihr gedanklich immer das Präfix "Es ist, wie wenn" voranstellen und dann versuchen – mit dem "inneren Auge" – das "Es" zu sehen, worauf sie zeigen will.

Das Wahrheitskriterium der annähernd zeigenden Rede ist, ob man das Gezeigte sieht oder nicht. Was man sieht, das kann man nicht wegargumentieren und auch nicht argumentativ bestätigen, und so ist annähernd zeigende Rede weder beweisbar noch widerlegbar. Aber sie ist objektivierbar, denn über das, was man sieht, kann man sich ja mit anderen verständigen.

Mit dem Einstieg in die annähernd zeigende Rede erschließt sich die ganze Domäne der Daseinsbeschreibungen und damit ein umfassender Blick auf das Dasein. Dabei zeigt sich auch, dass und wie Gott ins Spiel kommt: unser Dasein ist, wie wenn das Absolute, Außerweltliche, Gott darin eine Rolle spielt.

Des näheren zeigt sich, dass der Sinn unseres Daseins Welterschließung ist – anders gesagt:  Mehrung von Lebensmöglichkeiten –, und dass wir dazu durch das, was uns das Schicksal in der Welt begegnen lässt, gecoacht werden und daran wachsen, wobei es eben so ist, wie wenn es von guten, aber außerweltlichen Eltern käme. Es zeigt sich, dass unser Dasein Dimensionen hat, die uns verschiede Sichtlinien auf das Außerweltliche bieten, u.a. auch die Trinität. Es zeigt sich, wie Schuld, Vergebung, Erlösung, Seligkeit funktionieren, und dass sie ohne außerweltlichen Bezug nicht möglich sind. Es zeigt sich, wie Wissenschaft und organisierte Religion funktionieren, und wie man sie sauber abgrenzen kann. Schließlich zeigt sich im Überblick, wie reich religiöse Texte – trotz der vordergründigen Zumutungen an die Vernunft – an offenen und verschleierten Daseinsbeschreibungen sind. Die Zehn Gebote und die Sündenfallgeschichte sind zwei Beispiele von vielen, z.T. weitaus erhellenderen.

Das alles verpasst man, wenn man die annähernd zeigende Rede von Daseinsbeschreibungen als begriffliche Aussagen nimmt; wenn man argumentiert statt hinzusehen.

 

 


 

Der Kosmos ist nicht die Welt, und die Welt ist nicht alles

Eine Existenzialkritik des naturwissenschaftlichen Glaubens

 

 

Was die Welt ist, brauchen wir vordergründig nicht zu wissen. Es reicht das Wie. Es reicht zum Leben, wenn wir Situationen erkennen und uns darin erfolgreich verhalten können. Über ein ganzheitliches Erkennen von Situationen hinaus können wir auch mehr oder weniger systematisch Details und innere Zusammenhänge von Situationen erkennen und daraufhin entsprechend strukturierte Handlungen vollführen. Je differenzierter dabei die Kontexte, Inhalte und Handlungsmöglichkeiten strukturiert sind, desto treffender können wir unterschiedliche Situationen erkennen und in ihnen agieren. Solche Strukturen sind für unser Leben grundlegend. Sie stellen das dar, was wir verstehen und verstehend tun und lassen können, d.h. was uns im Leben erschlossen ist. Sie bilden die Inhalte unserer individuellen Welt.

Diese unsere Welt hat sehr klein angefangen mit dem, was uns an Empfindungen, Wahrnehmungen und Verhalten in die Wiege gelegt worden ist. Und dann haben wir dazugelernt: durch behütetes Ausprobieren in der Kindheit, durch Imitation von Erwachsenen und anderen Kindern, durch Erwerb der Sprache, und dann – mit Hilfe der Sprache stark beschleunigt – durch Übernehmen von Strukturen, die andere Menschen in Gegenwart und Vergangenheit schon erprobt und etabliert haben. So haben wir im Laufe unseres Lebens unsere Welt erweitert und sind im selben Maße gewachsen, und können – und müssen – das fortsetzen, solange wir leben.

Dies ist nun schon einmal nicht das gängige Weltbild. Im gängigen Weltbild gibt es eine von uns unabhängige, objektive Welt, den Kosmos. In dem treffen wir u.a. auch die anderen Menschen an, und demnach müssen wir uns selbst in gleicher Weise wie die anderen Menschen objektiv in diesen Kosmos einordnen, der ansonsten ohne uns im Prinzip derselbe Kosmos wäre. Die Strukturen dieser objektiven Welt kann man forschend erkennen und technisch in Handlungsmöglichkeiten umsetzen. Entsprechend kann man nicht zuletzt auch Strukturen des Menschen erschließen. Dabei ist nun schon seit langem gängige Sicht, dass das menschliche Erkennen und Handeln so funktioniert, dass der Mensch mental geeignete Modelle von Situationen der objektiven Welt konstruiert, speichert und aktuell hält, und dann in der aktuellen Situation jeweils aus seinem Modellvorrat das passende Modell abruft und sich gemäß diesem Modell verhält. So sieht es jedenfalls überwiegend aus, wenn wir verbalisieren, was wir erkennen und was wir tun.

In letzter Zeit ist sogar die weitergehende Sicht entwickelt worden, dass diese Modelle und Vorgänge gänzlich von unserem Gehirn mit seinen inneren Strukturen und naturgesetzlichen Abläufen erbracht werden. Das Gehirn kann das alles sozusagen alleine, während unser entsprechendes Erleben nur ein beiläufiger Seiteneffekt der Gehirnvorgänge ist. All unser Erleben würde uns danach vom Gehirn vorgespielt.

Während mit der Sicht der mentalen Modellierung der Welt kaum jemand ein Problem zu haben scheint, ist diese Sicht der Welt-Modellierung als reiner Gehirnphysiologie umstritten, weil sie den Menschen auf ein physikalisches Objekt reduziert.

 

Kritische Fragen

 

Man fragt sich aber gleich, wer oder was denn die Instanz ist, der das Gehirn das Erleben vorspielen soll. Man fragt sich auch, wie man von einer objektiven Welt wissen kann, wenn man nur das hat, was einem das Gehirn vorspielt. Im Übrigen möchte man wissen, wie wohl ein Gehirnforscher in einem Gehirn die Repräsentation von Denkstrukturen nachweisen will, die er nicht versteht. Man muss ja nicht gleich an einen Spezialisten denken, dem nur 50 Leute auf der Welt folgen können. Es genügt ein Mensch, der weithin anders denkt als dieser Gehirnforscher – also die meisten. Um Übereinstimmung von Denken und Gehirnvorgängen nachzuweisen, wird der Forscher von diesem Menschen wissen müssen, was er denkt, aber davon das Meiste nicht verstehen. Eventuell wird es der Mensch gar nicht formulieren können. Der Forscher kann also prinzipiell nur Übereinstimmung nachzuweisen versuchen für Gedanken, die er selbst versteht. Warum sollte diese Einschränkung akzeptabel sein?

 

Was uns begegnet

 

Trotzdem ist die Sicht sehr nützlich, dass uns unser Erleben vom Gehirn vorgespielt wird: Wir haben ja nichts Anderes als das, was uns – scheinbar oder wirklich – vorgespielt wird, nichts Anderes als dieses Erleben. Uns begegnet in diesem Erleben nicht zusätzlich noch irgendetwas dahinter. Es begegnen uns weder unser Gehirn – wir bekommen es normalerweise ein Leben lang nicht zu Gesicht und nehmen es überhaupt nicht wahr –, noch begegnet uns am Gehirn vorbei eine andere, "objektive" Welt, die unser Gehirn darin beeinflussen soll, was es uns vorspielt. Eine solche behauptete Hintergrundstruktur unseres Erlebens ist Fiktion – eventuell nützlich, aber nicht beliebig belastbar. Unser Erleben ist ursprünglich und direkt. Was uns darin begegnet, kommt wie aus dem Nichts.

Unser Erleben hat zunächst zum Inhalt, dass da etwas ist und nicht nichts. Etwas steht aus dem Nichts heraus – es "existiert". In diesem Sinne ist unser Erleben merklich, "artikuliert". Artikuliertheit ist aber noch kein Erlebensinhalt, keine Varietät, keine Struktur. Woher kommt die Struktur dessen, was wir erleben?

Wir neigen dazu zu denken, dass unser Erleben nicht nur artikuliert ist sondern auch seine Struktur und Bedeutung mitbringt. Dem ist aber nicht so. Nehmen wir zum Beispiel das Folgende: εν αρχη ην ο λογοσ και ο λογοσ ην προσ τον θεον και θεοσ ην ο λογος. Den meisten Menschen auf der Welt wird damit eine unbekannte fremde Schrift begegnen, manchen ein griechisches Textstück, anderen unmittelbar der Anfang des Johannesevangeliums. Was Menschen unterschiedlich begegnet, kann nicht in gleich Artikuliertem stecken, sondern muss von den Menschen unterschiedlich beigetragen werden. Ein anderes Beispiel: Aus einem Lautsprecher tönt etwas. Dem Einen begegnet irgendwelche Klassik, dem Anderen abstoßendes Getöne, einem Dritten sofort das Brahms-Violinkonzert, dem Vierten eine berühmte Aufnahme von Menuhin und Furtwängler. Der Eine versucht es zu überhören, der Andere flucht und geht weg, der Dritte hört etwas genauer hin, der Vierte erinnert sich daran, dass er seine Schallplatte der gleichen Aufnahme noch digitalisieren wollte, und nimmt sich das vor. Auch Handlungsrelevanz steckt nicht in dem uns begegnenden Artikulierten, sondern in dem, was wir dabei erkennen und was wir gerade im Sinn haben.

Wir bemerken, was uns begegnet, aber was wir darin erkennen, hängt davon ab, welche Begriffe wir mit dem Artikulierten assoziieren. Die Begriffe und Begriffsstrukturen werden durch unser erfolgreiches Handeln aufgebaut und gefestigt – insbesondere auch durch Lernen und Üben – und sie bestimmen unser Erkennen. Jeder Mensch hat dementsprechend eine individuelle Welt, nämlich die Gesamtstruktur seiner assoziierbaren Begriffe, kurz: all das, was er individuell begreifen und leben kann.

Die Welt lässt sich dann abstrakt so definieren, dass sie alle prinzipiell für Menschen möglichen individuellen Welten umfasst, also alles was Menschen prinzipiell begrifflich fassen können. Diese Definition von "Welt" mag hier etwas formal-abstrakt erscheinen, aber die zugehörigen Teilwelten sind uns vertraut, z.B. die Alltagswelt, die Berufswelt, die Welt des Kindes, die Welt der Mode, die Finanzwelt, die Welt der Kunst, die Welt der Physik, die Welt des Verkehrs, die Welt des Verbrechens, die Welt der Tiere, u.v.a.m. Zu allen solchen Welten gehören ihre Gegenstände, ihr Wissen und Können, ihre Rollen, ihre geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze, ihre Einrichtungen, ihre Karrieren, ihre Wirtschaft, ihre Geschichte, ihre Literatur, ihre Medien, u.a.m. – jeweils selbst eigene Teilwelten.

 

Ursprüngliche Teilwelten

 

Ursprünglicher als die obigen Teilwelten ist aber eine andere Einteilung der Welt. Uns begegnen ja nicht nur äußere Situationen und Zusammenhänge, sondern – auf dieselbe assoziative Weise und genau so effektiv – auch innere: unsere Gedanken, unsere Erinnerungen und Vorstellungen, unsere Körperwahrnehmung, unsere Gefühle, unsere Antriebe, unser inneres Sprechen. Innere und äußere Phänomene kommen gleichermaßen und parallel in unserer Welt vor, und indem wir sie als solche klassifizieren, strukturieren wir die Welt erstmals grundlegend.

Unsere Welt hat klein angefangen und ist im Laufe unseres Lebens unübersehbar gewachsen. Wir begreifen und können immer mehr. In der Gedankenwelt sprechen wir eher von "verstehen" als "begreifen". Sie wächst laufend dadurch, dass wir immer mehr Gedanken haben, die wir verstehen – solche, die wir uns selbst "erdacht" haben, und solche, die andere Menschen erdacht und kommuniziert, und die wir erlernt haben. Verstehen ist konstruktiv. Selbst wenn wir meinen, wir gingen analytisch vor und in die Details von Unterstrukturen hinein, so müssen die Unterstrukturen ja doch erst einmal konstruiert und unserer Gedankenwelt hinzugefügt worden sein.

Mit den neu begriffenen Weltinhalten – und entsprechend auch mit dem Vergessen und Verlernen – verändern sich unsere Assoziationen, z.B. von "irgendwelchem Getöne" zum "Brahms-Violinkonzert", und überschreiten dabei auch die Grenzen unserer inneren Teilwelten. Erst begegnen uns außenweltliche Laute, später eventuell das musikalische Gedankenobjekt "Brahmsviolinkonzert" und das Wohlgefühl eines Musikgenusses. Je mehr Welt wir uns erschließen, desto mehr begegnet sie uns in dieser von assoziierten Gedanken geprägten Weise – "geprägt", weil wir uns mit dem zuvor aus der Außenwelt Begegnenden (z.B. den Lauten) gar nicht mehr aufhalten, so dass es uns auch nicht mehr begegnet. Eventuell glauben wir schließlich, das Gedachte sei die Außenwelt.

 

Sprache und Kultur

 

Die Kommunikation von Phänomenen macht einen Sprung durch das Erlernen von Symbolsystemen, vor allem von gesprochener und geschriebener Sprache. Ein junger Mensch trainiert im Gebrauch von Sprache jeweils dasselbe zu assoziieren wie seine Mitmenschen, z.B. auf "8+9" immer "17" zu assoziieren. Er übernimmt dabei schon bewährte Stücke ihrer Welt, und muss sie sich nicht erst auf sich allein gestellt erarbeiten.

Dies ist die Grundlage der Kultur und der objektiven Welt. Seine eigene Welt vergrößert man am besten in der Weise, die die Vorfahren und die Mitmenschen einem vorgemacht haben und vormachen, indem man sozusagen ihre Welt nachbaut. Man sucht danach, wie man seine Lebensmöglichkeiten erweitern kann, und die direkteste Methode ist, sprachvermittelt Lebensweisen anderer Menschen nachzumachen.

Den Bestand aller solcher Lebensmöglichkeiten, Weltbauteile und -verfahren unserer Umwelt kann man als unsere Kultur auffassen. Das Nachbauen aus ein und derselben Quelle von Möglichkeiten bewirkt, dass die meisten Menschen, denen man begegnet, das gleiche Grundrepertoire alltäglicher Lebensweisen haben – "das sieht und denkt und fühlt und macht man so" – und dass es große und kleine Gruppen von Mitmenschen gibt, die jeweils gleiche Spezialrepertoires haben, z.B. alle Frauen, oder alle Lastwagenfahrer, oder alle Fotografen, oder alle Fußballer, oder alle Porzellansammler. Es begegnet nicht von vornherein allen Menschen dasselbe, aber ihre Welten überlappen vielfach, und die Teile, die bei vielen Menschen überlappen, sind kollektiv. Diese Art von Kollektivität kann man erkennen, wenn andere sich so verhalten, wie man es selbst auch tut oder täte, und man kann sie erkennen, wenn man darüber kommuniziert und merkt, dass man sich einig ist. In diesem Rahmen ist Objektivität ein Spezialfall von Kollektivität, nämlich mit zusätzlichen – kollektiven – Kriterien der universellen Nachprüfbarkeit.

Wir haben nun das Rüstzeug, unsere gängige Weltsicht zu überprüfen.

 


Die objektive Welt

 

Fangen wir an mit der Frage nach dem Kosmos als objektiver Welt. Wir haben schon festgestellt, dass das, was uns begegnet, alles ist, was uns begegnet, dass es also einschichtig ist. Etwas womöglich Realeres dahinter, eine von uns unabhängige, angeblich nicht-illusionäre, primäre Welt der Tatsachen kann uns logischerweise nicht auch noch begegnen. Es begegnet uns nur eine, unsere Welt, und es gibt keinen Zweifel an dem, was uns begegnet.

Was ist dann der Kosmos, die objektive Welt? Zunächst einmal die Gegenstände der Außenwelt, die nach unserer Erfahrung allen Menschen in gleicher Weise begegnen, oder begegnen würden oder begegnet wären. Ein Supermarkt ist ein Supermarkt, ein Kind ist ein Kind, eine Wolke ist eine Wolke, Kälte ist Kälte, jetzt, früher, und in Zukunft.

Der größte Teil des Kosmos liegt aber in unserer Gedankenwelt und besteht aus mentalen Objekten. Ein Elektron begegnet uns nie in der Außenwelt, sondern es ist ein mentales Objekt, und ebenso sind die Theorien der Elektrostatik, -dynamik und -mechanik, der Festkörperphysik, der Physik der Elementarteilchen u.a.m. mentale Objekte, die von mentalen Objekten handeln, die nicht in der Außenwelt vorkommen. Was in der Außenwelt vorkommt, sind die Experimente, aufgrund derer man feststellt, dass die Theorien zur Vorhersage von Ereignissen in der Außenwelt taugen, ferner die Ereignisse, die man mit den Theorien erklären kann, und schließlich die Geräte, die man mit ihnen bauen kann.

Ebenso ist es mit dem astronomischen Kosmos. Uns begegnen in der Außenwelt Sonne, Mond und Sterne, die wir als leuchtende, veränderliche, bewegliche Formen am Himmel sehen. Astronomische Körper, Feuerbälle, Radioquellen begegnen uns nur in ihren Theorien. Auch wenn wir sie im Teleskop betrachten, begegnen sie uns nicht eigentlich, sondern uns begegnen etwa Bilder, die uns ein bildgebendes Gerät zeigt, das z.B. auf einer Theorie der Optik beruht, der wir vertrauen – auf Grund kollektiver Kriterien universeller Nachprüfbarkeit.

Die Welt der Mikrobiologie ist ebenfalls überwiegend mental. Uns begegnen die Merkmale von Lebewesen, aber ihre Zellstrukturen, ihre Physiologie und ihre Vererbung sind rein mentale Theorieinhalte.

Alle diese Theoriegegenstände werden gewöhnlich als äußere gegenständliche Realität angesehen, als Kosmos, der unabhängig von uns besteht. Dabei begegnet er uns gar nicht in der Außenwelt, sondern existiert rein mental. Nicht bloß fiktiv sondern objektiv, und damit von uns unabhängig, ist er nur dadurch, dass die Menschen über ihn kommunizieren können und sich darüber einig sind, dass die Theorien im Großen und Ganzen vertrauenswürdig sind.

Das heißt nicht, dass wir unsere gängige Sicht vom Kosmos als der objektiven Außenwelt für die Praxis aufgeben müssen. Sie taugt weithin als praktische, auch bildliche, Vorstellung, aber wir dürfen sie nicht als absolut belastbare Wahrheit überstrapazieren. Eine Theorie gilt nur, solange ihr nichts widerspricht, das uns in der Außenwelt begegnet. Der Kosmos kann sich ändern, wenn nämlich eine Theorie durch eine andere ersetzt wird. Naturgesetze sind Theorien. Sie können keine Fakten bestimmen, sondern hängen von ihnen ab.

 

Gehirn und Welt

 

Das Gehirn ist ein weitgehend mentales Objekt, seine Funktion ist reine Theorie. Was es nicht kann, ist, eine von uns unabhängige, objektive, Kosmos-artige Welt zu modellieren, denn so eine Welt gibt es nicht. Der Kosmos ist fast gänzlich mental und es hat keinen Sinn, dieses Mentale noch einmal mental – nämlich auf unser mentales Modell vom Kosmos – abgebildet zu denken. Was wir können, ist, dass wir zu dem, was uns begegnet, in den inneren Teilwelten Weiteres begegnen lassen – zu dem Baum: die Buche, die Bucheckern, ihren Geschmack, den Wald, die schattige Kühle, das Ziel des Spaziergangs usf. Wir können assoziieren und tun es die ganze Zeit, und das sollte in einer Theorie des Gehirns wohl die Hauptrolle spielen.

Schon gar nicht kann das Gehirn die Welt modellieren. Der Kosmos ist keineswegs alles, sondern nur ein kleiner Teil der uns erschlossenen Welt. Die Welt der Naturwissenschaften ist eine, aber keineswegs besonders große, unter den Teilwelten, die wir oben schon aufzuzählen begonnen haben. Da gibt es auch noch die Welten der Wirtschaft und Finanzen, des Sports, der Gastronomie, der Architektur, der Psychologie, der Medizin, der Mathematik, der Religion, des Handels, der Politik, der Philatelie, der Kommunikation, der Medien, der Computer, des Internets, des Schiffbaus, des Zirkus, des Tourismus, u.v.a.m. Das sind jeweils riesige Welten, die alles enthalten, was viele Menschen ihr Leben lang, und über viele Generationen hin aufeinander aufbauend, an Möglichkeiten erschlossen und weitergegeben haben.

Auch wenn ein Mensch für sich nur Ausschnitte einer begrenzten Zahl von solchen Teilwelten erschließt, schafft er es ein Leben lang nicht, auch nur die Inhalte aufzuzählen, die ihm so erschlossen sind. Es ist nicht zu sehen, wie jemand dann so eine Menschenwelt gar in eine formale Repräsentation bringen und diese im Gehirn nachweisen wollte, und warum die Welt, wie sie uns begegnet, überhaupt noch einmal in das Gedankenobjekt Gehirn hineinkonstruiert werden soll, wo sie uns dann theoretisch bestenfalls  noch einmal so begegnen könnte, wie ohnehin schon.

 

Die Wissenschaftswelt und die Wunder der Schöpfung

 

Wir haben oben schon einige Aussagen über Theorien gemacht, z.B. dass es mentale Objekte sind, die darauf abzielen, Voraussagen zu machen. Es gibt Alltagstheorien, z.B. wie unser Gesprächspartner "tickt", und es gibt wissenschaftliche Theorien. Bei ersteren sind wir gewohnt, dass man sich auch irren kann, bei den wissenschaftlichen Theorien gibt es Konventionen für die nachvollziehbare Bestätigung – z.B. Experimente über die Voraussagen – die mehr oder weniger garantieren, dass man sich auf eine bestätigte Theorie verlassen kann.

Ein wesentlicher Zug von wissenschaftlichen Theorien ist deshalb, dass sie formal sind, d.h. dass sie Aussagen über definierte Objekte, Relationen und Transformationen machen, oft in mathematischer Form, und dass sie Parameter ausweisen, durch deren Messung sie falsifiziert werden können. Obwohl sie nicht verifiziert sondern nur in einer endlichen Zahl von Fällen ausprobiert werden können, gibt es eine Menge verlässlicher Theorien, die häufig oder routinemäßig angewendet werden.

Sie gelten dann geradezu als Gesetze, deren Voraussagen unausweichlich sind, und die sozusagen den Lauf der Dinge nicht nur erklären sondern erzwingen, auch den vergangenen. Natürlich erzwingen sie nichts, ihre Bestätigung ist immer nur endlich, und dass es auch immer wieder einmal anders kommt, ist kein Wunder – im eigentlichen Sinne des Wortes. Wunder sind überhaupt nichts Besonderes. Wir haben schließlich keinen Einfluss darauf, was uns in der Welt begegnet, und können damit nur umgehen, indem wir unseren Alltags- und wissenschaftlichen Theorien vertrauen und dabei auch einschätzen, inwieweit wir ihnen vertrauen können. Und so vertrauen wir darauf, dass nicht im nächsten Moment der Boden unter uns verschwindet oder es von einer Sekunde auf die andere keine Atemluft mehr gibt.

Im Übrigen können wir mit Theorien praktisch nur etwas anfangen, wenn sie nicht zu komplex sind. Etwas bestimmtes, regelmäßig Begegnendes – man denke z.B. an Wolkenformen – könnte so vielgestaltig sein, dass die kürzest mögliche Theorie dafür jedes von ihr erfasste Ereignis einzeln beschreiben müsste. Ein Naturgesetz, dass Naturgesetze einfach seien, gibt es nicht.

Für außerordentlich wichtig werden Theorien über die Entstehung des Kosmos gehalten, weil viele sich damit erhoffen, die Welt von Grund auf verstehen zu können. Es gibt einige, aber selbst die besten verfügbaren Theorien dafür sind nur unzureichend bestätigt. Eine prominente – auch unzureichend bestätigte – ist die Urknalltheorie. Sie besagt im Kern, dass unser Universum das Resultat eines vor rund 14 Milliarden Jahren explodierten Punktes sei, und das wird dann als Anfang der Welt verstanden, als Schöpfung der Welt, genauer gesagt, des Kosmos, nämlich der von uns unabhängigen Außenwelt, die wir mehr oder weniger unzulänglich wahrnehmen.

Aber wir haben schon dargestellt, dass diese Welt rein fiktiv ist. Sie begegnet uns ausschließlich in den Theorien unserer Gedankenwelt. In unserer individuellen Außenwelt begegnen uns keine Expansion des Universums, keine Hintergrundstrahlung, keine Gravitation, keine dunkle Masse und keine dunkle Energie. Ihre Konstrukteure sind die Menschen, die die entsprechenden Theorien im Laufe der Zeit aufgestellt haben.

Der gedachte zeitliche Anfang des gedachten Kosmos ist keine Schöpfung im Sinne des Anfangs der Welt. Unsere Welt entsteht "live", indem uns artikuliert begegnet, was wir begreifen, und sie ist, wie wir oben gesehen haben, eine riesige Struktur riesiger verbundener Teilwelten, die unser Leben ausmachen, jede so umfangreich und komplex, dass sie ein Mensch inzwischen meist gar nicht mehr komplett fassen kann. Und diese Welt ist wirklich wie – wenn man so will: von einer außerweltlichen Instanz – geschöpft, nämlich artikuliert aus dem Nichts. Sie macht unser Leben aus, sie beginnt und endet mit ihm.

"Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes geht". Man muss kein Christ sein, um hier zu erkennen, dass schon vor zwei Jahrtausenden Menschen gesehen haben, was die Welt ist und wie das Dasein funktioniert, nämlich indem uns – wie von außerhalb der Welt – Artikuliertes begegnet.

Heute hat kaum noch jemand eine Sicht auf das Dasein, und so können manche Naturwissenschaftler der Öffentlichkeit leicht weismachen, sie modellierten die Welt, die Welt sei der Kosmos, alles darin sei mit elementaren Kräften und Teilchen zu erklären, der Kosmos existiere unabhängig von uns, so unabhängig, dass unser Gehirn uns unser Leben darin richtig oder falsch vorspielen könne, auch unser Ich. Das unkritisch zu akzeptieren ist analog zu dem von Wissenschaftlern vielfach und zu Recht kritisierten Verhalten, dass religiöse Aussagen unbesehen geglaubt werden, weil Autoritäten sie schon seit je behaupten.

Die Naturwissenschaft erhebt den Anspruch, besonders sorgfältig und kritisch zu sein, und das sollte sie dann auch in Bezug auf sich selbst sein. Sie sollte unzweifelhaft wissen, auf Grund welcher Voraussetzungen Naturwissenschaft überhaupt funktionieren und was sie überhaupt aussagen kann.

 


 

Unsere beste Ethik reicht nicht

... weil sie den existenziellen Sinn des Daseins verfehlt

 

Menschenwürde, Menschenrechte, Menschlichkeit, soziale Mindeststandards, organisierte und persönliche Hilfe: das sind Stichworte für die besten Ethik-Ausprägungen unserer Zeit. Sie sind über Jahrhunderte hart erkämpft worden, und wir schätzen und propagieren sie als wertvolle Errungenschaften. An ihrer weltweiten Akzeptanz und Durchsetzung mangelt es allerdings, und auch in anerkannten Rechtsstaaten bleiben Verhaltensweisen und Systeme unangefochten, die viele Menschen auf drastisch zurückbleibende bis unerträgliche Lebensmöglichkeiten einschränken oder sie sogar ihrer Existenz berauben.

Derlei sollte eine gute Ethik eigentlich nicht durchgehen lassen. Dass die obigen Missstände sich halten, geht auf einen grundlegenden Mangel unserer humanistischen, auf die Autonomie des Menschen fixierten, allgemeinen Ethik zurück. Dieser Mangel steht gegen einen Grundzug unseres Daseins, nämlich Leben zu mehren. Damit ist auch die Richtung klar, in der unsere allgemeine Ethik weiter zu entwickeln ist.

 

 

Um Ethik zu gestalten, muss man über das menschliche Dasein und die Welt Bescheid wissen. Aus der Daseinsphilosophie brauchen wir hier nur einen Ausschnitt, der mit wenigen Absätzen sichtbar zu machen ist. Es geht darum, dass unser Dasein so ausgelegt ist, dass wir die Möglichkeiten unseres Lebens in der Welt beständig erweitern und dass zu unserem Leben wesentlich auch die Möglichkeiten der Mitmenschen gehören.

 

Der Sinn des Daseins ist, Leben zu mehren

 

In unserem Dasein schreiten wir von Moment zu Moment durch die Zeit. In jedem Moment befinden wir uns in einer Situation, in der wir aufgrund der bisherigen Erfahrungen wissen, was wir tun können und was daraufhin im nächsten Moment sein wird, und wir entscheiden uns und handeln dementsprechend. Und dann kommt der nächste Moment, und wir werden bestätigt, oder er bringt etwas Unerwartetes. Diese Erfahrung ist unausweichlich, und sie beeinflusst das, was wir wissen und tun können. Unsere Lebensmöglichkeiten werden dadurch ein klein wenig gefestigt oder erweitert.

Über die vielen Momente unseres Lebens akkumuliert sich dabei ein kaum überschaubarer Zuwachs unserer Lebensmöglichkeiten. Das können wir leicht sehen, wenn wir zurückblicken: wir haben mit unseren Lebensmöglichkeiten praktisch bei Null angefangen, und heute verstehen wir eine riesige, komplexe Welt und können unser Leben darin führen, ohne unsere Möglichkeiten darin je vollständig beschreiben oder ausleben zu können.

Wie weit wir mit der Mehrung unseres Lebens kommen, hängt sehr von unseren Entscheidungen von Moment zu Moment ab, die wiederum von unserer Haltung bestimmt sind. Wir können grundsätzlich so handeln, wie es bei allen Menschen unserer Kultur schon je funktioniert, und dann wachsen unsere Lebensmöglichkeiten "nur" durch die Überraschungen, die uns das Schicksal im Kleinen oder Großen bereitet. Oder wir können grundsätzlich so handeln, wie wir es noch nicht erprobt haben, und dann machen wir meist neue Erfahrungen, und unsere Lebensmöglichkeiten wachsen gewollt.

Das gilt zunächst einmal für uns selbst und unsere Möglichkeiten. Mehrere Menschen zusammen haben natürlich ein größeres Erweiterungspotenzial als einzelne. Unsere Mitmenschen machen den größten variablen Teil unserer Welt aus und bieten damit die weitaus meisten Gelegenheiten, unsere Lebensmöglichkeiten zu mehren und zu wachsen. Unsere Erfahrungen mit den Mitmenschen wiederum sind umso reicher, je stärker ihre Lebensmöglichkeiten wachsen. Der produktivste Ansatz, unser Leben zu mehren, ist, das Leben der Mitmenschen zu mehren.

Wenn wir unser Leben oder das Leben unserer Mitmenschen nicht mehren, wo wir es könnten, dann meldet sich unser Gewissen und signalisiert Schuld: dass wir nämlich dem Leben etwas schuldig bleiben. Anders gesagt: Leben mehren ist gut, Leben nicht mehren ist schlecht – oder als Haltung: böse.

 

Bezüge in Philosophie und Religion

 

Diese Überlegungen sind nicht originell. In "Sein und Zeit" bestimmt Heidegger Schuldig-Sein als "Grund-Sein einer Nichtigkeit" – "Nichtigkeit" im Sinne eines Nicht-Seins –, und das heißt, dass wir Sein zu ermöglichen, Seinsmöglichkeiten zu mehren haben.

In der Bergpredigt proklamiert Jesus mit seinen "Ich aber sage Euch"-Lehren, dass man sich versöhnen soll, die Frauen nicht niederhalten, das Böse nicht bekämpfen, nicht zurückschlagen, den Feind als Gotteskind sehen und behandeln soll, zwei statt einer erbetenen Meile mitgehen, statt dem Rock auch den Mantel hergeben. Der gemeinsame Nenner ist, dass das gegenteilige Verhalten Leben nicht mehrt. Es geht dabei sicher nicht um Einzelvorschriften, aber auch nicht um ein ja nur punktuelles Ethos, sondern Jesus umreißt eine Daseinshaltung, die mit der fundamentalen Disposition des Daseins in Einklang steht, Leben zu mehren. In die gleiche Richtung geht sein Gleichnis von den Talenten.

Schließlich lässt schon das Alte Testament Gott sagen: "seid fruchtbar und mehret euch" und "macht euch die Erde untertan", und das heißt, dass unser Sein in der Welt so angelegt ist, dass wir Leben mehren, Welt erweitern und neue Welt erschließen, und dass wir uns dem letztlich nicht entziehen können. Der Turm zu Babel ist ein Bild für den Wesenszug des Menschen, seine Lebensmöglichkeiten zu erweitern, ja geradezu "aufzutürmen" – so weit, dass die Lebenstürme der Menschen sich auseinander entwickeln und die Menschen einander nicht mehr verstehen. Die Geschichte von Kain und Abel sagt erstens, dass wir sehr wohl der Lebensmehrer unseres Bruders sind, und zweitens, dass "Gott es anspricht", d.h. dass es ein Grundzug unseres Daseins ist.

Wenn wir das nun wissen, was folgt daraus für unser Sein in der Welt?

Ableiten lässt sich gar nichts. Aus dem Willen, Leben zu mehren, folgt nicht, welches Handeln oder Unterlassen in der Welt Leben mehrt, denn das hängt davon ab, wie unsere Welt ist, bzw. in der objektiven Welt: von den allgemein anerkannten Fakten und unserer Kenntnis dieser Fakten.

Wir möchten uns vielleicht wünschen, eine letztgültige Ethik der Mehrung des Lebens zu entwickeln, aber wir wissen schon von früheren Versuchen, dass sich Ethiken des Näheren nie so formulieren lassen, dass sie alle Situationen ohne schädliche Nebenwirkungen erfassen – was man hier mehrt, mindert man dort –, und dass die Fortschritte der Welt sie ständig veralten lassen. Der große Menschheitsgesetzgeber ist vom Wachstum unserer Welt längst abgehängt worden, genauso wie das Universalgenie. Mehr als das allgemeine Paradigma, Leben zu mehren, lässt sich nicht in die Welt übertragen.

Was man aber in Bezug auf die ethische Umsetzung in der Welt tun kann, ist zweierlei:

-        Man kann die Daseinshaltung einnehmen, dass man möglichst viel Leben mehren will, und sich dann zurechtlegen, was man in diesem Sinne tun und nicht tun wird.

-        Man kann aus dieser Daseinshaltung heraus in einem politischen Prozess vorsichtig und umsichtig Ethik weiter entwickeln.

 

Überlegungen zur Daseinshaltung

 

Dass unser Leben nur eingeschränkt oder gar nicht zu mehren ist, wenn wir nicht auch das Leben der Mitmenschen mehren, das widerstrebt uns. Jeder ist seines Glückes Schmied, denken wir, das muss man den Mitmenschen auch lassen, und das müssen sie auch uns lassen.

Natürlich halten wir diese Härte nicht durch, wenn es um unsere Verwandten, Freunde und ausgewählte andere Mitmenschen – unsere Eigengruppe – geht. Wir sind es sogar auch gewohnt, das Leben Fremder zu mehren, wenn wir Coach, Dienstleister, Helfer, Spender, Steuerzahler sind. Das Problem liegt nicht darin, dass wir keine Kompetenz dafür haben, sondern darin, wie wir unsere Eigengruppe definieren.

Von der Grundauslegung des Daseins her gehören sozusagen alle Menschen zu unserer Eigengruppe. Das heißt nicht, dass wir für alle oder einen großen Teil davon etwas leisten müssen, um ihr Leben zu mehren. Das geht in der Welt praktisch nicht. Aber es erlegt uns doch besondere Sorgfalt auf, wenn unsere Mittel, Leben zu mehren, groß sind oder unser Tun einen Preis hat, den andere bezahlen sollen.

Handlungen oder Unterlassungen können schiefgehen, auch solche, die Leben mehren sollen. Im Ergebnis kann Leben gemindert werden. Wenn wir trotzdem Leben gemehrt haben wollen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als den entstandenen Schaden nicht nur wieder gut zu machen, sondern ihn zu überkompensieren. Davon befreit uns weder, dass wir das Gute gewollt haben, noch der Umstand, dass wir von dem Schadenseffekt vielleicht gar nicht erfahren. "Grund-Sein einer Nichtigkeit" ist ganz objektiv und unabhängig von unserem besten Wollen und Wissen. Wir sind haftbar.

Man hat meist mehr Möglichkeiten, Leben zu mehren, als man ausführen kann. Wenn man die einen ergreift, bleibt man die anderen schuldig. In diesem Sinne wird man immer schuldig. Schuld ist aber kein Instrument, um Menschen moralisch nieder zu halten, sondern eine Gegebenheit eines jeden Daseins. Wenn man darauf aus ist, Leben zu mehren, darf man sich nicht von Schuld aufhalten lassen. Schwelgen in Schuld mehrt kein Leben. Man muss aus Schuld lernen, besser Leben zu mehren. Ansonsten ist uns vergeben.

Das gilt auch für fremde Schuld gegenüber uns. Wenn wir uns auf die erlittene Lebensminderung fixieren, uns um Vergeltung bemühen, auf Rache sinnen, dann bindet das unsere Kapazität, die uns somit zur Mehrung von Leben fehlt. Wenn wir gar "erfolgreich" Rache nehmen, dann setzen wir die Minderung von Leben fort. Wenn wir Leben mehren wollen, dann bleibt uns nur, Minderungen zu ertragen und von der geminderten Lage ausgehend wieder weiter Leben zu mehren.

Die Autonomie setzt uns eine Grenze beim Mehren des Lebens der Anderen. Gegen ihren Willen kann man das Leben von Mitmenschen nicht mehren. Wenn sie in ihrem Leben auf der Stelle treten, kann man sie möglicherweise nicht einmal dazu motivieren, selbst ihr Leben zu mehren. Helfen muss man natürlich Menschen, deren Situation ihre Autonomie so einschränkt, dass sie kaum noch oder gar keine eigenen Optionen mehr haben, Leben zu mehren, insbesondere Menschen, die auch aus ihrer eigenen Sicht hilfsbedürftig sind.

Effektiv Leben mehren will gekonnt sein. Es erfordert Wissen und Handeln, die selbst erst gelernt und gemehrt werden müssen, bis man über sie als eigene Lebensmöglichkeiten sicher verfügt. Leben Mehren ist selbst eine zu mehrende Lebensmöglichkeit, bei der man natürlich viel von anderen abschauen und lernen kann, bei der es aber – wie sonst auch – Rückschläge geben kann, die man überwinden muss.

 

Überlegungen zur Ethik-Weiterentwicklung

 

Ethische Aussagen lassen sich nicht aus Grundzügen des Daseins ableiten, weil diese Grundzüge unabhängig von der Welt, absolut sind. Mit Absolutem lässt sich nun einmal nichts Relatives in Verbindung bringen. Auch Texte lassen sich in der Welt nicht als absolut, z.B. als göttlich, behaupten. Daher können solche Texte keine Ethik begründen.

Welches Tun oder Lassen Leben mehrt, hängt – wie schon gesagt – ganz von den Fakten in der Welt ab, von ihren Gegebenheiten und ihrer Zukunft. Deshalb muss man zum Entwurf ethischer Regeln das beste, neueste, relevante Wissen heranziehen. Und der Entwurf erfordert einen politischen Prozess, weil die Handlungen und Handlungsverzichte, die ethisch zu regeln sind, auf viele verschiedene Gruppen von Betroffenen wirken können, und dabei in jeweils unterschiedlicher Weise.

Die gängigen Ethikmodelle sind bezüglich der Mehrung des Lebens ein Totalausfall, und sie  bieten daher entsprechend reichlich Raum zur Weiterentwicklung. Sie sind sämtlich vorgeprägt von den Zehn Geboten, die lediglich vorschreiben, dass Leben nicht gemindert werde. Dies setzt sich fort in den Allgemeinen Menschenrechten, deren Bestimmungen sich ebenfalls darauf beschränken, Leben nicht zu mindern. Das reicht eindeutig nicht. – Dass die Menschenwürde als unantastbar gesehen wird, bewirkt zwar, dass die Autonomie der Menschen gewahrt wird, dass sie aber im Übrigen sich selbst überlassen werden. Das Prinzip der Menschenwürde lässt Verhalten ethisch unangefochten, das gegebenenfalls sehr viele Menschen beeinträchtigt oder schädigt. Als Ergänzung wäre notwendig, dass Betroffene immer in den Blick genommen werden müssen mit dem Ziel, ihnen Optionen zu verschaffen, ihr Leben zu mehren und so ihr Leben menschenwürdig auszuleben. – Auch die Nächstenliebe ist ein unzulängliches Prinzip, denn ihre pragmatische Einschränkung auf die Nächsten bestimmt die ethischen Fakten so, dass schon die Zweitnächsten, geschweige denn fernere Menschen, nicht einmal auch nur geschützt sind. Zusätzlich muss also Standard werden, dass wir alle Menschen, auf deren Leben wir irgendeinen Einfluss haben, als unter unserer Obhut sehen und die Mehrung ihres Lebens bedenken.

Flankierende Ideale und Paradigmen können zur Weiterentwicklung unserer allgemeinen Ethik beitragen, z.B. dass die Menschen einander lokal und global coachen sollten, oder dass Mächtige Gefahr laufen, ihr eigenes Leben auf Kosten anderer zu mindern.

Auch eine verbesserte Schuldkultur wäre anzustreben. Es gibt viel Spielraum für die Verstärkung und Verbreitung der Einsicht, dass Schuld unvermeidlich ist und dass Vergebung und Ertragen notwendig sind. Wenn man sich daraufhin mit mehr Schuld offener auseinanderzusetzen könnte, dann wäre auch mehr zu lernen, wie Leben mit weniger Nebenwirkungen gemehrt werden kann.

Auf lange Sicht braucht man nicht pessimistisch zu sein, denn das Dasein ist nun einmal auf Mehrung des Lebens hin ausgelegt, und die Mehrung funktioniert, wie man an den Fortschritten in der Welt ablesen kann, auch wenn sie ungleich verteilt sind. Die Frage ist trotzdem, wie geduldig wir weiterhin Lebensminderung erleben und miterleben wollen, bzw. ob und wie wir den Fortschritt der Lebensmöglichkeiten für alle möglicherweise beschleunigen könnten. Dazu wäre erst einmal überhaupt die Einsicht zu etablieren, dass es der Sinn des Daseins ist, Leben zu mehren.

 


 

Das Absolute

 

1. Wovon überhaupt die Rede ist, und welche Art von Rede

 

"Absolut" heißt "abgelöst" – so, wie das zugrundeliegende lateinische Adjektiv "absolutus". Wenn das Wort "absolut" allein steht, wird diese Abgelöstheit als total verstanden, d.h. absolut als Gegenteil von relativ, und damit übrigens auch nicht als Superlativ. Das Absolute ist nicht "abgelöst von etwas", denn das wäre ja immer noch relativ zu diesem "etwas", sondern es ist "abgelöst von allem", überhaupt beziehungslos.

Das erfordert eine besondere Vorsicht beim Reden über das Absolute: Da Aussagen immer Beziehungen als Inhalt haben, kann man über das Absolute keine Aussagen machen. Diese Konsequenz gilt natürlich auch für den gesamten Inhalt dieses Aufsatzes über das Absolute. Wenn er trotzdem relevant sein soll, muss man also zuerst zeigen, dass und wie das Gesagte irgendeine Gültigkeit haben kann.

Vor allem kann man nichts darüber aussagen, ob es das Absolute überhaupt in irgendeiner Weise "gibt". Das schließt allerdings nicht aus, dass wir Menschen etwas als absolut wahrnehmen können – anders als alle, nämlich relativen, Inhalte unserer Welt.

Wenn wir eine solche Wahrnehmung kommunizieren wollen, sind, wie gesagt, Aussagen nicht geeignet, und es wird deshalb schwierig. Immerhin haben wir unseren Wortschatz und können versuchen, damit um die Wahrnehmung herumzureden oder auf andere Weise Assoziationen auszulösen, und so annähernd auf das bemerkte oder erkannte Absolute zu zeigen. Und vielleicht bekommt es der Adressat der Rede dann "in den Blick" – nicht optisch, sondern mit dem "inneren Auge".

Annähernd zeigende Rede funktioniert tatsächlich, wie der vorige Satz vielleicht schon demonstrieren kann. Die meisten Menschen "verstehen" ohne Weiteres, was mit dem "inneren Auge" gemeint ist, obwohl ja im Inneren eines menschlichen Körpers nirgends ein Auge im wörtlichen Sinne zu finden ist. Und so können wir auch annehmen, dass dieser ganze Aufsatz als annähernd zeigende Rede funktionieren, d.h. effektiv zeigen kann.

 

2. Warum man sich überhaupt mit dem Absoluten beschäftigen sollte

 

Wir führen hier zunächst nur ein einziges Beispiel an, weitere folgen unten.

Ohne das Absolute gäbe es keine Erlösung. Das ist fast eine Tautologie. Erlösung ist Ablösung von etwas Belastendem, hier in der existenziellen, absoluten Bedeutung: Ablösung von der Grundlast unserer Existenz, d.h. von der Anspannung, mit der wir den unaufhörlichen Anforderungen des Seins in der Welt begegnen. Da das Absolute wörtlich das von allem Abgelöste ist, ist es also auch abgelöst von der Welt. Es bietet die einzige mögliche "Position", auf die hin man sich eventuell von der Welt ablösen kann – in der man erlöst sein kann.

Das sollte Grund genug sein, sich mit dem Absoluten zu befassen.

Dafür gibt es zwei Weisen: wir können direkt ein absolutes Erlebnis haben, oder wir können unser Dasein in den Blick nehmen und zu sehen versuchen, was an unserem Dasein absolut ist – anders gesagt: was an unserem Dasein außer der Welt noch daran ist.

 

3. Erlebnisse des Absoluten

 

Nach dem, was wir bisher über das Absolute gesprochen haben, haben wir natürlich keine Kontrolle darüber, ob, wann und wie wir es möglicherweise erleben. Aber wenn wir es erleben, muss es jedenfalls ein absolutes Erlebnis sein, unverkennbar, zwingend, nicht zu fassen, nicht zu beschreiben. Wegen der Besonderheit des Erlebnisses wird man es dringend Anderen mitteilen wollen, dafür aber doch nichts Anderes zur Verfügung haben als mehr oder weniger ungeeignete Worte über die Situation, in der es passiert ist, vor allem über die inneren Bilder und Gefühle unmittelbar danach.

Über Erlebnisse des Absoluten wird seit je berichtet: über Gotteserlebnisse, mystische Vereinigungen mit Gott, der Natur oder dem Nichts, Meditationserlebnisse, stehende Zeit, einen brennenden Dornbusch, eine weiße Dame, dass die Sonne auf einen herunterstürzt. Solche Berichte passen in das oben vorgezeichnete Bild, aber der Bezug auf ein Erlebnis des Absoluten ist nicht beweisbar, ja eben nicht einmal aussagbar. Wer so etwas nicht an sich selbst erfahren hat, wird es eher für unmöglich halten, und wer schon einmal ein absolutes Erlebnis hatte, wird sagen: bei mir war es anders. Erlebnisse des Absoluten können jedem passieren, aber sie sind eher nicht objektivierbar.

 

4. Was an unserem Dasein absolut ist - Die Suche nach dem Ursprünglicheren

 

Die zweite Möglichkeit, sich mit dem Absoluten zu befassen, besteht darin, unser Dasein in den Blick zu nehmen und daraufhin abzusuchen, ob darin etwas Absolutes zu sehen ist. Phänomene in der Welt kommen dafür nicht in Frage, weder sinnlich Wahrnehmbares, noch Gedanken, Gefühle, Antriebe, Erinnerungen, innere Bilder, innere Worte. Denn in der Welt ist alles relativ, begrifflich fassbar, so dass man auch sagen kann: Das Absolute ist das Außerweltliche.

Im Folgenden bieten wir eine Reihe von Kandidaten für Sichten auf das Absolute an.

Wohlgemerkt: Es handelt sich nicht um Aussagen, die wahr oder falsch sein könnten, die man beweisen oder widerlegen, für oder gegen die man argumentieren könnte. Vielmehr sind die angebotenen Sichten entweder tauglich oder nicht: entweder man sieht das Gezeigte oder nicht.

 

Absolut:  Dass da etwas ist, und dass wir sind; das Eigentliche Selbst

 

Sicher sind wir vor allem über unsere Existenz. Es ist nicht einfach nichts, sondern es existiert etwas. Jeder weiß das für sich selbst mit absoluter Sicherheit, weil es ihm selbst begegnet.

Diese Gegebenheit ist nicht innerweltlich kritisierbar, etwa mit dem Argument, das sei eine Illusion, womöglich nur von unserem Gehirn vorgespielt. Um Begriffsgebäude – meine Welt – aufzubauen und mich darin bewegen zu können, also z.B. verstehend von "Illusionen" und "Gehirnleistungen" reden zu können, muss es zuerst und ursprünglich einen Rahmen geben, in dem das möglich ist: es muss mir Begriffliches begegnen können. Dazu muss ich da sein und mir muss etwas aus dem Nichts herausstehen: existieren, das ich verstehe.

Wir können also sagen: absolut ist, dass etwas existiert und dass es auf uns selbst bezogen ist.

Dieses Selbst begegnet uns nicht, aber wir wissen, dass wir es sind. Zur Unterscheidung von anderen Bedeutungen des Wortes "selbst" sprechen wir hier vom Absoluten oder Eigentlichen Selbst.

 

Absolut:  Dass wir verstehen

 

Was uns als Ursprünglichstes begegnet, sind wechselnde Phänomene. Vor allem sind es immer verstandene Phänomene. Wir verstehen sie unmittelbar und so, dass wir sie "leben können".

Unsere individuelle Welt besteht aus denjenigen Phänomenen, die wir verstehen, wenn sie uns begegnen. Die Welt ist alles, was Menschen grundsätzlich überhaupt verstehen können und könnten.

Damit das nicht ganz so abstrakt dasteht, sollten wir es noch mit etwas Kontext anreichern:

Unser Verstehen ist begrifflich und entspricht direkt unseren Begriffen. Die Phänomene sind primär ganze Situationen, vielleicht mit charakteristischen Highlights. Die Situationen können unstrukturiert sein – z.B. begreifen wir sie nur als wohlig oder unheimlich – , aber wenn wir sie schon öfter erlebt haben, können wir sie begrifflich strukturieren und verstehen ihre Details und Detailzusammenhänge.

Für jeden persönlich sind die Phänomene und seine Begriffe dafür identisch. Die Unterscheidung zwischen Phänomenen und Begriffen ist nicht existenziell ursprünglich, sondern eine nachträgliche Analyse. Nehmen wir z.B. ein bestimmtes Stück Text: Je nach dem Verständnis dessen, dem der Text begegnet, wird er ihm als unverständlicher Text, als unverständlicher englischer Text, als verstandener, aber ansonsten unbekannter englischer Text, oder vielleicht als Beatles-Text begegnen, den er womöglich auch noch singen kann. Erst aus der Kommunikation mit Anderen ersehen wir, dass jeder begrifflich andere Phänomene hat und die individuellen Welten sich unterscheiden. Und erst durch Kommunikation können wir Welten untereinander abgleichen und übernehmen, und so eine gemeinsame, objektive Welt herstellen.

Zurück zum ursprünglichen Verstehen. Es ist nicht dasselbe wie Erklärenkönnen. Wenn unser Fernseher auf einmal kein Bild zeigt, oder wenn wir mit unseren Augen unversehens alles seitenverkehrt sehen, oder wenn jemand von einer objektiv unheilbaren Krankheit plötzlich geheilt wird, dann können wir das vielleicht nicht erklären, aber wir verstehen den unmittelbaren Sachverhalt genau, denn sonst könnte er uns gar nicht irritieren.

Wir verstehen alles, was uns in der Welt begegnet. Unser Verstehen ist absolut.

 

Absolut:  Die Intelligenz, das stete momentane Wachstum unserer Welt

 

Wir verstehen von einem Moment zum anderen etwas Neues, das wir zuvor nicht verstanden haben, und von dem wir eventuell nicht einmal wussten, dass es da etwas zu verstehen gibt. Wir haben darüber aber keine Kontrolle. Neuverstehen ist in einer nicht zu verstehenden Weise gegeben und zwar, wie uns das eigene Leben und die Weltgeschichte zeigen, ist es nicht gänzlich voraussagbar, aber unaufhörlich, solange wir leben.

Das Folgende analysiert sozusagen mikroskopisch, wie unser Leben fortschreitet:

Wir sind in einer momentanen Situation, die wir verstehen. Wir wissen, dass der nächste Moment kommt. Wir verstehen aus unserem vergangenen Erleben, wie wir die Situation im nächsten Moment mit unserem Verhalten beeinflussen können. Indem wir aus diesem Verhaltensrepertoire wählen, machen wir den Schritt zum nächsten Moment. Dieser kommt, und die Situation ist so, wie wir sie angestrebt haben oder auch anders. Eventuell überlegen wir, warum sie so oder anders gekommen ist, und wir ziehen daraus eine Lehre, die unser Verständnis von Situationen und Verhalten bestätigt oder verändert.

Das alles steht unumgänglich fest, es ist absolut: Der Moment, in dem wir sind; der unvermeidlich kommende Moment; die vergangenen Momente; unser Beitrag zum kommenden Moment durch unser Wollen; die Verfügbarkeit des Vergangenen für verstehendes Wollen; die Zunahme unseres Verstehens durch den erfolgten Schritt zum kommenden Moment.

Wie das Verstehen, so ist auch das stete Wachsen unseres Verstehens, die stete Vergrößerung unserer Welt, eine absolute Grundgegebenheit unseres Daseins.

 

Absolut:  Der freie Wille

 

In jedem Moment wählen wir entsprechend unserem Willen aus unserem Repertoire verstehenden Handelns den Schritt zum nächsten Moment.

Unsere Wahl hängt davon ab, wie die Welt aus unserer Sicht funktioniert. Wenn wir uns in unserer Welt in unserer Freiheit eingeschränkt fühlen, dann betrifft das nicht unseren freien Willen, sondern die Möglichkeiten unserer Wahl, sozusagen unsere Freiheitsgrade. Sie hängen von unserem eigenen Wissen und Können ab und von vielen innerweltlichen Faktoren, von unseren eigenen Antrieben und Hemmungen bis zu den Setzungen anderer Menschen. In unserer Welt sind wir an die in ihr erfahrenen und erlernten Gesetzmäßigkeiten gebunden, an die Kausalität und an den Zufall, und deshalb kann es wissenschaftlich auch keinen freien Willen geben.

Frei wollen können wir nur entbunden von den innerweltlichen Gesetzmäßigkeiten, d.h. abgelöst von der Welt. Die einzige Position, von der her man frei wollen kann, ist demnach die absolute Position des Eigentlichen Selbst.

Man kann daher über den freien Willen nichts aussagen, weder woher er kommt, noch wie seine Wirkung in unserer Welt zustande kommt. Wir wissen aber von uns selbst, dass er funktioniert: dass wir frei auf etwas aus sein können, und dass wir das Gewollte je nach unseren Möglichkeiten auch erreichen können.

 

Absolut:  Der Sinn des Daseins

 

Oben haben wir festgehalten, dass und wie unsere Welt in kleinen Schritten wächst, indem wir immer mehr verstehen. Im großen Überblick ist das noch viel sinnfälliger: Wir haben alle in unserem Leben von Anfang an erst einmal nichts verstanden, haben dann aber eigene Erfahrungen gemacht und von anderen gelernt, und heute sind unser Verstehen, unsere Fähigkeiten und unsere Möglichkeiten so umfangreich, dass ein Leben nicht reichen würde, alles aufzuschreiben. Das gilt für jeden Einzelnen wie für die ganze Menschheit. Von Null Welt zu einer sehr großen Welt: das zeigt, dass unser Dasein wesentlich so angelegt ist, dass wir unsere Lebensmöglichkeiten erweitern. Das ist absolut so.

Der Sinn unseres Daseins ist es demnach, Leben zu mehren. Anders gesagt: gut ist, Leben zu mehren; schlecht ist, Leben nicht zu mehren; böse ist die Haltung, Leben nicht zu mehren.

 

 

5. Anschlussüberlegungen

 

Vergebung

 

Wir haben immer viele Chancen, Leben zu mehren. Wenn wir die einen ergreifen, versäumen wir die anderen. Bei denen, die wir ergreifen, sind wir im Einklang mit der grundlegenden Disposition unseres Daseins, Leben zu mehren. Bei denen, die wir versäumen, sind wir nicht im Einklang, wir bleiben dem Dasein etwas schuldig.

Schuld ist daher ein Grundzug unseres Daseins. Im Sinne der Mehrung des Lebens ist es, aus Schuld zu lernen, wie wir künftig besser Leben mehren. Nicht in diesem Sinne ist es, sich anderweitig mit Schuld zu beschäftigen, etwa darin zu schwelgen, sich darauf zu fixieren, sich darin zu verzehren. Vor allem haben wir die von uns verschuldeten Lebensminderungen möglichst zu überkompensieren, um wenigstens in der Bilanz Leben zu mehren.

Wenn andere unser Leben mindern, hebt das die grundsätzliche Disposition unseres Daseins nicht auf. Wir dürfen dem nicht weitere Lebensminderungen hinzufügen, indem wir Gleiches mit Gleichem vergelten oder Rache üben. So hart es klingt: aus der Schuld der Anderen haben wir zu lernen, Leben besser zu mehren, und im Übrigen haben wir sie zu ertragen.

Aus alledem ist ersichtlich: Eine wie auch immer geartete Bilanzierung und Aburteilung von Schuld ist nicht im Sinne der Mehrung des Lebens. Wenn überhaupt von Vergeben zu reden ist, dann ist unsere Schuld vergeben.

 

Die anziehende Welt

 

Wir haben uns ohne unser Zutun in der Welt vorgefunden, sind in sie "gesetzt" oder "geworfen" worden. Und wir lassen uns auf sie ein, ja wir verfallen ihr, "verlieren uns" in ihr. Was wir dabei eigentlich verlieren und schon verloren haben, ist der Bezug auf das Absolute. Wir haben es vielleicht nie im Blick gehabt und sind gar nicht auf die Idee gekommen, dass man es in den Blick nehmen könnte. Aber auch wenn wir eine Gelegenheit dafür bekommen, weichen wir eher aus – wie allem, was mit Existenzfragen zu tun hat. Unser Dasein hat sozusagen eine Neigung in die Welt hinein und vom Absoluten weg, und diese Neigung ist ziemlich steil.

Wir lassen uns voll auf die Welt ein, um dort an der Mehrung von Leben teilzuhaben, und dabei bleibt das Absolute außen vor. Ohne Hilfe bekommen wir es nicht in den Blick, und wir wissen auch nicht, wozu das gut sein sollte. Wir haben damit nichts zu tun.

Immerhin glauben viele Menschen zu wissen, wozu es gut ist, etwa das Vaterunser zu beten. Hieran wollen wir nun anknüpfen und zeigen, dass sich das bisher Gesagte mit dem existenziellen Inhalt des Vaterunser deckt, dass wir eben sozusagen das Vaterunser durchgesprochen haben.

 

6. Das Absolute im Vaterunser

 

Dass das Vaterunser eine existenzielle Bedeutung hat, liegt nahe. Wenn die Bibelautoren etwas Wesentliches über unser Dasein sagen wollen, stellen sie es gerne als Rede Gottes dar, bzw. als Rede Jesu, dem und dessen Reden sie die Autorität Gottes zuschreiben. Und so sind Äußerungen Jesu meistens Beschreibungen unseres Daseins, allen voran die Gleichnisse und die Bergpredigt, und darin eben auch das Vaterunser.

Nun besteht aber das Vaterunser vorwiegend aus Bitten, und Bitten sind keine Beschreibung. Der Matthäus-Autor lässt Jesus allerdings ein paar Verse früher erklären, dass Gott schon weiß und uns gibt, was wir brauchen, bevor wir überhaupt darum bitten. Damit ist es völlig legitim, die Bitten des Vaterunser als Gottgegebenheiten zu lesen, also als Reden über Absolutes. Das werden wir nun tun, und dabei genau das wiedererkennen, was wir oben dargelegt haben.

Vater unser im Himmel  zeigt das gleich von Anfang an, denn der Himmel steht für das Außerweltliche, Absolute. Gott im Himmel wird damit als absolut deklariert. Auf den Aspekt der Väterlichkeit kommen wir weiter unten.

Heilig ist Dein Name  wiederholt das Zweite Gebot und heißt, dass Gottes Name insofern heil oder heilig – unantastbar – ist, als man damit keine Aussagen bilden kann.

Dein Reich kommt  bezieht sich auf zwei Bedeutungen des Begriffs "Reich", den des Herrschaftsbereichs und den des Reichtums, und bildet damit sozusagen die Überschrift für die zwei anschließenden Bitten.

Dein Wille geschieht im Himmel und auf der Erde  zeigt zwei Sichten auf Gottgewolltes: Was im Himmel, also außerweltlich geschieht, können wir zwar schwerlich sehen, aber immerhin haben wir oben unseren freien Willen als absolut erkannt, und das heißt in der alten Ausdrucksweise: als "himmlisch" oder "göttlich". "Auf der Erde" können wir getrost als "in der Welt" verstehen. Wir haben oben gezeigt, was in der Welt auf uns zu "kommt": uns begegnen laufend und unausweichlich Phänomene, die wir als Inhalte unserer Welt verstehen. Welche Phänomene uns begegnen, darauf haben wir keinen Einfluss. Sie begegnen uns schicksalhaft, wie von einer außerweltlichen, absoluten Instanz gewollt: wie gottgewollt.

Du gibst uns laufend alles, was unser Leben ausmacht  ist die eigentliche Bedeutung der Bitte um das tägliche Brot, wenn man Jesu Antwort auf die erste Versuchung durch den Teufel berücksichtigt. Danach lebt der Mensch nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Munde Gottes kommt. Da sind sie wieder, die Phänomene, die uns von Moment zu Moment begegnen: von "Gott" "gesprochen", also absolut und artikuliert, so dass wir sie unmittelbar verstehen und sie unser In-der-Welt-Sein ausmachen, unser Leben. Diese Welt ist überaus reichhaltig und geschenkt.

Du vergibst uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben  besagt im ersten Teil dasselbe wie unsere obige erste Anschlussüberlegung, dass uns unsere Schuld absolut vergeben ist. Der zweite Teil sagt, dass wir vergeben müssen, um mit der absoluten Disposition des Daseins im Einklang zu bleiben, nämlich Leben zu mehren.

Du führst uns nicht in Versuchung, sondern erlöst uns von dem Bösen  entspricht wiederum genau unserer zweiten Anschlussüberlegung: es ist die Welt, die uns anzieht, also "versucht", nicht das Absolute. Aber am Anfang haben wir bereits gesehen, dass das Absolute uns erlösen kann.

Kommen wir noch einmal auf den Anfang des Vaterunser zurück, auf die noch offen gelassene Frage, was an Gott "Vater" ist, oder was am Absoluten väterlich bzw. elterlich ist. Einen Hinweis gibt das, was im Vaterunser gegenüber unserer obigen Abhandlung noch fehlt: eine direkte Ansprache des eigentlichen Sinns des Lebens, nämlich Leben zu mehren. Wie wir gesehen haben, ist das gleichbedeutend mit dem Wachsen unserer Welt, mit der Zunahme dessen, was wir verstehen und tun können. Dies hängt vor allem davon ab, was uns an neuen Phänomenen begegnet. Offensichtlich sind die Herausforderungen, die uns die Phänomene im Verlauf und bis zum Ende unseres Lebens stellen, so, dass wir sie bestehen und daran wachsen. Das ist analog dazu, wie gute Eltern ihre Kinder fördern, indem sie sie immer wieder neuen, bewältigbaren Herausforderungen aussetzen, und ihnen dabei hin und wieder auch Unangenehmes nicht ersparen. Hinter der Anrede "Vater" im Vaterunser steht dieses Verständnis, dass die uns begegnenden Phänomene wie von guten Eltern so gefügt und dosiert sind, dass unser Leben gemehrt wird, so lange wir leben.

 

7. Resümee

 

Was haben wir nun erreicht? Wir haben das Dasein in den Blick genommen und dabei gezeigt, dass bestimmte Züge des Daseins absolut sind. Die Ergebnisse liegen weit abseits der gängigen Sichten. Das Absolute liegt uns so fern, dass ein paar Milliarden Menschen 2000 Jahre lang das Vaterunser beten können, ohne etwas von seinem existenziellen Gehalt zu ahnen. Dass wir damit gut leben können, ist eine Sicht, die unsere Sorgen unterschlägt.

Die Menschen klagen darüber, wie schlecht die Welt ist, nachdem sie sie selbst unterteilt haben in das, was ihnen passt, und das, was ihnen nicht passt. Die Menschen klagen über den allgemeinen Verlust von Religiosität, und es sind dieselben, die auf Aussagen über Gott bestehen. Die Wissenschaft beginnt sich zu versteigen in ihrem Anspruch, der Kosmos sei alles, was ist, und gehorche ihren Naturgesetzen. Ein Teil der Menschheit lebt auf Kosten Anderer, und daran ändert auch eine Ethik der Humanität nichts, die den Anderen Würde und Rechte zuspricht, aber die Verantwortung ignoriert, das Leben der Anderen zu mehren.

Wenn alle wüssten, wie das Dasein ist und was daran absolut ist, dann könnten diese Probleme effektiv angegangen werden. Aber niemand weiß es, die Situation ist selbststabilisierend und würde sich auch nicht ändern, wenn jemand dafür sein Leben gäbe und nach dem Tod wieder auferstünde.

Es bleibt nur der mögliche Nutzen für den Einzelnen. Immerhin kann man als Einzelner mit dem Wissen über das Dasein seine eigene Daseinshaltung optimieren. Wenn man weiß, was absolut ist, kann man sich die Energie sparen, sich dagegen aufzulehnen. Wenn man weiß, was absolut gegeben ist, kann man es bewusst annehmen und sich daran freuen, wie reichhaltig und schön es ist. Und wenn man weiß, was absolut ist, weiß man auch den Sinn des Lebens, der uns immer, auch in der verlorensten Situation, hält. Dieses Wissen und diese Haltung gegen die Anziehung der Welt dauerhaft zu behalten, ist möglich. Man muss sie möglichst regelmäßig auffrischen, indem man sie immer wieder in den Blick nimmt.

 


 

2.
Schriften zum Luther-Jahr

 

 

Religiöse Autonomie heute
Von der Unmündigkeit des Christenmenschen

Wer wirklich in das Reich Gottes will, den kann nichts daran hindern.

 

 

… den sollt ihr hören
Fragen an Christen und andere

Eine Jesus nachempfundene, daseinsphilosophische Abrechnung

 

 

Das Gleichnis vom neuerdings verlorenen Sohn

Er kommt nicht an

 

 

Das Gleichnis von der virtuellen Welt

So ist unser Dasein

 

 

Das Vaterunser

teilrestauriert zum unauffälligen Mitbeten mit den Christen

 

 

 


 

Religiöse Autonomie heute
– Von der Unmündigkeit des Christenmenschen –

 

Wer selig werden will, der kann das sofort, in dieser Welt, ohne sich zu verbiegen.
Von organisierter Religion ist dafür keine Hilfe zu erwarten.
Wer aber wirklich in das "Reich Gottes" will,
den kann kein Mensch, kein System, keine Lebenslage daran hindern.

 

 

Luther hat die Bibel ins Deutsche übersetzt. Das sieht so aus, als habe er den Menschen ein Stück weit den Weg in Richtung religiöser Autonomie geebnet, denn spätestens seit der Verbreitung der Luther-Bibel sind die Deutschen im Prinzip nicht mehr darauf angewiesen, dass man ihnen sagt, was in der Bibel steht, sondern sie können selbst darin lesen und prüfen, was ihnen darüber gesagt wird. Heute gilt dies entsprechend für Menschen fast aller Sprachen.

Das Luther-Jubiläum im Jahr 2017 ist ein guter Anlass, einmal in den Blick zu nehmen, ob und wie weit dieser Weg weiter gegangen worden ist. Haben wir heute religiöse Autonomie, oder wenigstens mehr als damals? Und ist sie überhaupt ein Thema?

 

Grundsätzliches

 

Autonomie in Bezug auf eine Haltung heißt, dass man sie aus seinen eigenen Möglichkeiten heraus einnehmen kann, aus eigenem Wissen und Können. In Bezug auf die Religion, also auf die Bindung an Gott, bedeutet Autonomie dementsprechend, dass man seine Bindung an Gott aus eigenem Wissen und Können haben kann. Man kann sich selbst vor Gott bringen und vor ihm sein. Man ahnt schon: Das wird kaum gelebt, und es ist so gut wie kein Thema. Sehr wohl ein Thema ist zwar die Suche nach Gott, aber es berichtet so gut wie niemand, dass er oder sie Gott gefunden habe und wie man ihn findet. Christen werden vielleicht einwenden, sie glaubten, Gott in seinem Sohn Christus gefunden zu haben, aber das heißt ja: sie sehen sich nicht direkt vor Gott. Wenn Gott gesucht wird, dann sichtlich nicht effektiv.

An sich beinhaltet Autonomie weiterhin, dass man über seine Haltung frei entscheiden und sie auch zurücknehmen kann. Es ist klar, dass man keine Bindung an etwas haben kann, wenn man es nicht in irgendeiner Art und Weise wahrnehmen kann. Die Form unserer Bindung an Gott lässt sich als eine Art Sehen mit dem "inneren Auge" umschreiben. Und so, wie man sich nicht entscheidet, ob das, was man sieht, ein Auto ist – denn ein Auto sieht man einfach direkt – , so kann man sich auch nicht entscheiden, ob man Gott sieht. Entweder man kann Gott sehen oder nicht. Wenn man Gott einmal gesehen hat, dann kann man das nicht mehr zurück nehmen. Wenn man Gott nicht sehen kann, dann mag man autonom sein, aber nicht religiös autonom.

Bindung an Gott aus eigenem Wissen und Können: das heißt nicht, dass man sich diese Fähigkeit allein aus eigener Kraft erarbeiten muss. Andere Menschen können im Prinzip durchaus zur Erlangung beitragen, aber am Ende ist man in der eigenen Religion von keinem Menschen abhängig, sondern man kennt und sieht Gott selbst. Das ist nicht zu verwechseln mit religiösem Subjektivismus. Es ist nicht damit getan, sich irgendwie ein persönliches Schema von Religion zuzulegen und davon begeistert zu sein. Warnungen vor "Privatreligion" sind insoweit angebracht. Wer aber vor religiöser Autonomie warnt, der strebt offensichtlich religiöse Abhängigkeit an.

 

Bibelverständnis und Religionssysteme

 

Der Weg vom sprachlichen Zugang zu alten Bibeltexten –  oder anderen religiösen Referenztexten – bis zum Verständnis der Gottesbeziehung des Menschen kann allerdings weit sein. Es ist nicht einmal von vornherein sicher, dass dieses Verständnis aus den Texten extrahiert werden kann, und wenn: auf welche Weise und in welchem Umfang – schließlich wird es schon seit zwei Jahrtausenden versucht –; und es ist nicht offensichtlich, wie man weiterkommen könnte, sollten die Texte nicht zum Ziel führen. Es gibt dann zwar noch Hinweise, das Reich Gottes in einem selbst zu suchen oder in der Natur zu sehen, und es gibt Wege der Meditation. Aber diese Ansätze tragen eventuell nur ein Stück weit. Ein umfassendes Verständnis müsste sowohl diese Ansätze als auch die der Bibel und wohl noch manche weitere umfassen und integrieren können.

Der – durchaus hinterfragbare – Anspruch Luthers war allerdings, dass die Bibel allein schon alles sage, was zur Rechtfertigung des Menschen vor Gott zu sagen ist, und dass die Rechtfertigung auch das Entscheidende an der Beziehung des Menschen zu Gott sei.

Wie steht es also heute mit dem Bibelverständnis? Die christlichen Glaubensgemeinschaf­ten haben aus der Bibel große Lehrsysteme über den einen Gott und sein Reich abgeleitet. Sie beanspruchen jeweils die Wahrheit, aber die Lehren gehen auseinander bis zum eindeutigen Widerspruch. Die Unterschiede werden gepflegt und betont, und damit grenzen sich die Religionsgemeinschaften bewusst voneinander ab. Und das gilt nicht nur für die Christenheit, sondern für alle abrahamitischen Religionen untereinander.

Nun ist es aber im Leben so: Wenn man viele einander widersprechende Aussagen über denselben Gegenstand vor sich hat, dann muss man vermuten, dass keine von ihnen wahr ist. Die Mitglieder der Religionsgemeinschaften macht es aber offenbar nicht stutzig, dass verschiedene "Wahrheiten" über Gott existieren. Wenn die Frage nach der "Wahrheit" Gottes über Jahrtausende hin nicht entschieden werden kann, dann kann sich das ein Laie auch nicht zutrauen, und es bleibt ihm kaum etwas Anderes übrig, als sich einer "Wahrheit" aus seinem Umfeld anzuschließen und mit zu schwimmen – und dann ist auch der Klärungsbedarf weg. Religiöse Autonomie sieht natürlich anders aus.

Die Religionsgemeinschaften sind große Systeme aus Hierarchien von Klerikern, aus Lehren auf der Basis von Referenztexten, die üblicherweise auch einen Gründer herausstellen, aus Geboten, Vorschriften, Formen, Bauten, Kunstwerken, Unterorganisationen, Fachreferaten, Verwaltungen, Bildungs- und Sozialeinrichtungen, Veranstaltungen, Laien, und das alles mit den jeweiligen inneren Strukturen, äußeren Beziehungen, Zielen und Historien. Die Entscheidungen über die Lehre liegen allein bei den Klerikern. Die Theologen sind ihre Fachleute, die wissen, was in den letzten zig Jahrhunderten zu der jeweiligen "Wahrheit" Gottes geschrieben worden ist.

In solch einem System kann man sich ein Leben lang bewegen, ohne auf Gott zu treffen. Es führt unvermeidlich dazu, sich in ihm zu verlieren und damit die Suche nach Gott und die Führung zu Gott zu vergessen.

 

Religiöse "Wahrheiten" und die Vernunft

 

Als Laien-Mitglied muss man nehmen, was einem das System bietet. Sehen wir uns einige der christlichen Aussagen um die "Wahrheit" Gottes an – Vergleichbares zeigen auch andere verbreitete Religionslehren. Ihr übergreifender Anspruch ist, dass sie höhere Wahrheiten sind und innerweltlichen Wahrheiten vorgehen und sie gegebenenfalls aufheben.

Jeder weiß, dass kein Mensch von einer Jungfrau geboren wird, dass kein Mensch vom Tode aufersteht, dass kein Mensch Abweichungen von den Naturgesetzen erzwingen kann, oder dass eine bestimmte Lehre nicht zu recht für wahr gehalten werden kann, wenn viele abweichende und widersprechende Alternativen etabliert sind und die Kontroverse nicht gelöst ist. Um der "Wahrheit" Gottes näher zu kommen, soll man anscheinend seine eigene, bewährte Welterfahrung ein Stück weit aufgeben.

Man muss auch die Logik ein Stück weit aufgeben, denn aus einer Jungfrauengeburt folgt ja keineswegs die Göttlichkeit des Babys; mit einer Auferstehung kann man nicht die Göttlichkeit des Auferstandenen beweisen; und generell lässt sich aus Wundern eine besondere, göttliche Veranlassung logisch nicht herleiten, weil eine Koinzidenz nun einmal nicht dasselbe ist wie eine Kausalbeziehung.

Einen Anspruch auf Nachvollziehbarkeit kann man darüber hinaus ebenfalls vergessen: Wie ein Bittgebet wirksam sein kann; warum irgendein Sündencodex gültig sein soll; wie die Sündenvergebung für andere Menschen durch Jesu Tod funktionieren soll; was Ewigkeit mit unendlicher Zeit zu tun haben soll; wie die Auferstehung von den Toten näherhin ablaufen soll: für all das gibt es keine plausiblen Erklärungen, und Erklärungen werden üblicherweise auch nicht nachgefragt.

Schließlich sollte man auch eine zeitgemäße Ansprache eher nicht erwarten. Es herrscht die Auslegung alter Texte und Bilder, als ob es keine passenden aktuellen geben könnte. Man wird eingeladen, sich in ein, wenn auch wohlgehütetes Schaf, zu versetzen, also in ein fast jedermann fremdes, begrenzt intelligentes Herdentier. Es wird für unsere heutige dynamische Gesellschaft die Ethik einer statischen Gesellschaft propagiert, entwickelt in einer Zeit, als es die meisten heutigen Ethikfelder noch gar nicht gab. Gott wird als eine Art weiser und guter Herr oder König hingestellt, wie man sie längst nicht mehr kennt, und damit nicht nur als ungeeignetes Bild präsentiert, sondern als unbekannte und unzugängliche Figur, der man sogar noch unbedingt gehorchen muss. – Wenn man den Lehrern der Religion den Bezug auf die Bibel und die anderen Referenzschriften wegnähme, dann hätten sie nichts mehr zu sagen.

Eigene Welterfahrung, Logik, die Ansprüche auf Nachvollziehbarkeit und eine zeitgemäße Ansprache: das sind Aspekte der allgemeinen, persönlichen – wenn auch nicht der religiösen – Autonomie, die man also in diesen und Tausend anderen Fällen aufgeben soll, wenn man den Zugang zur Gottes-"Wahrheit" einer Religionsgemeinschaft finden will.

Dies reicht für viele Menschen, um sich abzuwenden, für Menschen, die sich vom christlichen Religionsangebot nicht ihre Vernunft abkaufen lassen wollen. Die christlichen Antworten darauf sind von der Art, dass man mit der Vernunft nicht an Gott herankommt, dass vieles nur in einem übertragenen Sinn gemeint ist, vieles als Legenden zu verstehen. Man wird darauf hinweisen, dass man etwas für sein Seelenheil tun muss, um sich nicht womöglich eine ewige Verdammnis einzuhandeln; dass die Gemeinschaft Geborgenheit und Liebe bietet. – Das reicht anscheinend für die Mitglieder, aber eben nicht für die, die sich abwenden; denen sich der Sinn nicht überträgt; bei denen die Legenden keine Resonanz erzeugen; die ewige Verdammnis als leere Drohung erkennen; und die Geborgenheit und Liebe selber finden.

 

Aussagen über Gott

 

Doch betrachten wir weiter christliche Aussagen zur "Wahrheit" Gottes, und zwar jetzt direkt über Gott. Gängig sind Aussagen, dass Gott groß sei, oder der höchste, allmächtig, gnädig oder zu fürchten; dass Gott der Urheber von Geboten und Verboten sei, und dass bestimmte Texte direkt von ihm inspiriert seien; dass Gott einen Willen habe, das Böse in der Welt aber zulasse, und dass er auch strafe; schließlich – für die Christen herausragend wichtig – dass Gott einen einzigen Sohn habe, ihn in die Welt geschickt habe, usw.

Die christlichen, wie auch die anderen abrahamitischen Glaubensgemeinschaften verkünden zwar einmütig, dass Gott nicht zu begreifen ist, aber sie machen trotzdem alle möglichen Aussagen über ihn, so als sei es nicht Gott, der nicht zu begreifen ist, sondern nur manchmal seine Ratschlüsse und Handlungen. Sie verkünden, dass Gott nicht von dieser Welt ist, aber sie machen trotzdem Aussagen über ihn, so als sei unsere Möglichkeit, etwas begrifflich zu fassen und begriffliche Aussagen darüber zu machen, nicht auf die Welt beschränkt. Sie verkünden, dass Gott absolut ist, aber sie machen trotzdem Aussagen über ihn, so als könnte man das Absolute doch, wie es Aussagen ja nun mal tun, in vielerlei faktische Beziehungen setzen, und das heißt doch: relativieren.

Wenn man glaubt, sich mit begrifflichen Aussagen auf den einen unbegrifflichen, außerweltlichen, absoluten Gott beziehen zu können, unterliegt man einem Wahn, wie es auch das Zweite Gebot schon lange weiß. Und wenn man versucht, die Gottesbindung des Menschen mit begrifflichen Aussagen zu erfassen und dazu die religiösen Inhalte der Bibel als Aussagen liest – das tut N.B. auch die historisch-kritische Methode –, dann versteht man weder das Eine noch das Andere.

Es ist nun, wie schon angesprochen, keine neue Idee, dass man die Bibelinhalte eben nicht als Aussagen nehmen darf, sondern als "symbolisch gemeint"; als Legenden; wie Märchen; als Texte, an die man nur da herankommt, wo sie im eigenen Leben eine Resonanz zeigen. Das führt eventuell weiter, wenn sich einem die Symbolik erschließt, aber sobald man an den Text trotzdem logische oder praktische Ableitungen anknüpft, z.B. Folgerungen daraus zieht oder Begründungen dafür liefert, dann hat man ihn schon wieder als ein Gebilde aus begrifflichen Aussagen genommen und den übertragenen Sinn zunichte gemacht.

Die Zehn Gebote kann man für richtig halten, man kann über sie meditieren und sie als fundamental verstehen. Sagt man aber, sie seien von Gott, und deshalb zu befolgen, und wenn man gegen sie verstoße, handle man gegen Gottes Willen, müsse seine Strafe fürchten und könne nur auf seine Gnade hoffen, dann ist man schon auf der Ebene der Begriffslogik, und von dem unbegrifflichen, außerweltlichen, absoluten Gott ist nicht mehr die Rede.

Die Figur "Sohn Gottes" ist ein treffendes und höchst wertvolles Bild für das Göttliche am Menschen. Wenn man aber diese Göttlichkeit exklusiv auf einen einzigen Menschen, Jesus Christus, projiziert,  dann spricht man sie allen anderen Menschen ab. Und wenn man gar sagt, Jesus Christus sei der einzige Sohn Gottes, "gesalbt", d.h. mit der speziellen Vollmacht Gottes versehen, demnach unser Herr, dem wir deshalb wie Gott gehorchen müssen, insbesondere seinen Befehlen, die er laut Neuem Testament erteilt hat usw., dann sind das alles innerweltliche Wahrheit beanspruchende Aussagen, und solche Aussagen können mit dem unbegrifflichen, außerweltlichen, absoluten Gott prinzipiell nichts zu tun haben. Sie sind leeres Gerede.

Die monotheistischen Religionsgemeinschaften glauben, dass sie auf einem sicheren Fundament von Aussagen über Gott stehen, und hängen doch nur an einem begrifflichen, innerweltlichen, relativen "Aussagengott", d.h. an einer gedanklichen Fiktion. Mit jeder ihrer Aussagen über "Gott" verfehlen sie den absoluten Gott. Und niemand erhebt seine Stimme dagegen oder merkt es auch nur. Menschen halten es für genügend Bindung an Gott, wenn sie einer Gruppe angehören, die sich über einen Satz von Aussagen mit dem Wort "Gott" definiert.

Aber wenn Gott derart verfehlt wird, dann heißt das: niemand sieht, wie die Bibel auf Gott zeigt; niemand "versteht" den Gottesbezug der Bibel; niemand "sieht" Gott. Und dann ist es völlig sinnlos, auf dem Prinzip "Sola Scriptura" zu bestehen, darauf, dass die Bibel allein maßgeblich und hinreichend für unsere Beziehung zu Gott sei. Eine unverstandene Bibel nützt in dieser Hinsicht gar nichts.

 


Die Kultur der Gott-Vermeidung

 

Das Ganze hat allerdings System, und das System ist erfolgreich: Die religiösen Eliten führen Milliarden von Mitgliedern auf den Aussagengott hin, und Milliarden Mitglieder glauben seit Jahrtausenden auf diesen Aussagengott hin. Dass solch ein System Bestand hat, erfordert eine riesige Nachfrage. Das heißt, der eigentliche Gott wird nicht nur unversehens verfehlt, er will von allen dauerhaft sicher vermieden werden.

Die Vermutung liegt nahe, dass das auf einen menschlichen Wesenszug zurückzuführen sein könnte. Tatsächlich gibt es einen schon sehr alten Hinweis auf einen solchen Wesenszug der Gottvermeidung, nämlich in der Genesis: in der Episode, in der Adam und Eva sich vor Gott verstecken, weil sie erkennen, dass sie nackt sind. Das kann man so lesen, dass der Mensch es generell scheut, mit seinem nackten Dasein vor Gott zu stehen. Die Daseinsphilosophie beschreibt diesen Grundzug des Daseins neutral und emotionslos: Wir sind der Welt verfallen, wir lassen unsere Aufmerksamkeit derart lückenlos von der Welt in Anspruch nehmen, dass wir gar nichts davon wissen wollen, dass und wie man etwas Anderes – Außerweltliches – in den Blick nehmen könnte, und dass wir es deshalb auch nicht wissen, nicht können und nicht wollen

Gott verfehlen oder gar vermeiden: das ist Null religiöse Autonomie. Das ist völlige religiöse Unmündigkeit. Das ist notorische Ignoranz gegenüber der Lehre Jesu – wenn nicht Verrat an Jesus. Und das ist der Zustand heute, organisatorisch verfestigt über Jahrtausende der Vergangenheit und, so wie es aussieht, für weitere Jahrtausende oder auch alle Zukunft, denn er ist die naheliegende – wenn auch nicht zwingende –Ausprägung eines Grundzugs des menschlichen Daseins, und der ist absolut unabänderlich. Alle tanzen immer um das Goldene Kalb, heute nicht mehr aus Gold sondern aus Aussagen. Und so gehen sie unbeirrt fehl.

 

–  –  –


Utopischer Nachtrag

 

Genau betrachtet, ist das Problem ja nicht, dass man gegen die hier wirksame, grundlegende Disposition des Daseins, nämlich die starke Anziehungskraft der Welt, überhaupt nicht ankommen könnte. Zwar kann man sich der Welt völlig hingeben, aber man kann von ihr auch auf sich selbst zurück geworfen werden, und man kann auch von sich aus zu ihr auf Abstand gehen. Das Problem ist, dass alle dies negativ belegen, scheuen oder sogar fürchten, und einander darin bestärken. Der Einzelne muss das aber trotzdem nicht mitmachen.

Grundsätzlich ist jeder frei, Gott in den Blick bekommen zu wollen, und grundsätzlich kann jeder diesen Blick auch wirklich zeitweise erreichen und ihn dann immer wieder auffrischen (wie es das Dritte Gebot rät). Vor allem lohnt es. Man bekommt damit sein ganzes Dasein vor Gott in den Blick. Man sieht dann, wie das Dasein angelegt ist und wie man sich am besten dazu stellt – insbesondere auch zermürbende Fehlhaltungen vermeidet –, man erkennt den Sinn des Daseins, und merkt, dass man sein "Daseins-Spiel" die ganze Zeit zu bestehen versucht hat, ohne den Sinn und die Spielregeln zu kennen. Und man sieht selbst, dass da nichts zu scheuen oder fürchten ist, sondern dass die ganze Daseinssituation außerordentlich gut ist und man froh darüber sein kann.

Aber so gut wie niemand schafft es in diesen Zustand, und wer es schafft, der sei gewarnt: Er ist allein, und allein ist es aussichtslos und gefährlich, religiöse Autonomie gegen die allseits etablierte Gottvermeidung der Allgemeinheit verfechten zu wollen. Man muss es sozusagen Gott überlassen, ihr die Augen zu öffnen.

Vielleicht findet sich trotzdem irgendwann ein neuer Luther, der die Menschen einen weiteren Schritt voranbringt – der z.B. mit aller Klugheit und Vorsicht vielen beibringt, dass es keine Wahrheiten über Gott geben kann, dass man aber Gott wahrnehmen kann. Damit würde allen sichtbar, dass der sogenannte religiöse Fundamentalismus gar kein Fundament hat. Die Christen müssten zwar auch eine Menge Aussagen über Gott aufgeben, aber vor allem die Lehre Jesu bliebe ihnen erhalten, und die Christologie könnten sie dahingehend neu lesen – "Relectures" sind ja in Mode –, dass Aussagen über Christus so zu verstehen sind, dass sie auf das "gottebenbildliche" Eigentliche Selbst des Menschen zeigen. Die Christologie würde damit aufgewertet. Sie gewänne ihre existenzielle Bedeutung und den Bezug zur Jesu Lehre zurück.

 


 

… den sollt ihr hören

Fragen an Christen und andere

Eine Jesus nachempfundene, daseinsphilosophische Abrechnung

 

 

Also hört!

 

Ich sage:

Gehet ein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis abführt; und ihrer sind viele, die darauf wandeln. Und die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führt; und wenige sind ihrer, die ihn finden.

Also frage ich Euch:

Milliarden seid Ihr. Seht Ihr, dass Ihr die Vielen seid und nicht die Wenigen?

 

Ich sage:

Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als der Schriftgelehrten und Pharisäer,
so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.

Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließet vor den Menschen! Ihr kommt nicht hinein, und die hinein wollen, lasst ihr nicht hineingehen.

Lasset sie fahren! Sie sind blinde Blindenleiter.
Wenn aber ein Blinder den andern leitet, so fallen sie beide in die Grube.

Also frage ich Euch:

Sind die heutigen Theologen und Verkünder etwa keine, sogar sehr bemühten Schriftgelehrten? Arbeiten sie nicht alle daran, Wahrheiten aus der Schrift heraus zu holen und zu verkünden?
Haben sie bei allem ihrem Wissen auch eine Verbindung zu Gott?

 

Ich sage

in meinen Reden und Gleichnissen, wie es mit Gott und dem Himmelreich ist, was der Sinn unseres Daseins ist, wie Seligkeit in diesem Leben zu erreichen ist, was es mit Schuld und Vergebung, Versuchung und Erlösung auf sich hat.

Also frage ich Euch:

Meint Ihr, es gebe Wichtigeres als meine Lehre? Warum heißt es in Eurem Bekenntnis: "… geboren aus der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben …"? – Zwischen Geburt und Foltertod nichts Nennenswertes?

 

Ich sage:

Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden …  Sammelt euch aber Schätze im Himmel …

Niemand kann zwei Herren dienen: ... Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.

Also frage ich Euch:

Seht Ihr, dass Mammon nur ein Beispiel ist, oder geht bei Euch Geld als Gegenteil von Gott durch? Stehen nicht alle innerweltlichen Schätze "auf Erden" den außerweltlichen Schätzen "im Himmel" gegenüber? Ist es nicht ohnehin offensichtlich, dass man sich nicht gleichzeitig auf den außerweltlichen Gott und auf die Weltinhalte fokussieren kann? Sind geistiger und geistlicher Reichtum, z.B. Können, Wissen, Glaubenslehren, religiöse Systeme nicht  Inhalte der Welt? Warum sollten sie von dieser Unverträglichkeit ausgenommen sein? Wie sollte man mit diesen "Schätzen auf Erden" zu Gott finden können?

Ich sage:

Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.

Ich preise dich, Vater und Herr Himmels und der Erde, dass du solches den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart.

Es sei denn, dass ihr umkehret und werdet wie die Kinder,
so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.

Also frage ich Euch:

Seid Ihr selig? Kennt ihr Seligkeit überhaupt aus eigenem Erleben? Wer und wie viele von Euch sind einmal in Richtung Himmelreich und Seligkeit umgekehrt?
Ihr geht meistens völlig in der Welt auf. Könnt Ihr Euch nicht wenigstens ab und zu davon ablösen und Euer Dasein in den Blick nehmen?
Und dann auch Gott sehen? Ihn anderen zeigen?

Ihr sorgt Euch um Mitgliederzahlen.
Wie viele Menschen habt Ihr ins Himmelreich geführt?
Wo ist Eure Erfolgsstatistik?

 

Ich sage:

Ihr sollt das Heiligtum nicht den Hunden geben, und eure Perlen nicht vor die Säue werfen, auf dass sie dieselben nicht zertreten mit ihren Füßen und sich wenden und euch zerreißen.

Also frage ich Euch:

Versteht Ihr das nicht als einen Rat an die, die schon durch die enge Pforte hindurch sind? Wen seht ihr als die Hunde und die Säue?


Ich sage:

Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe ihr ihn bittet.

Also frage ich Euch:

Warum betet Ihr trotzdem das Vaterunser als Bitten und nicht als Gottgegebenheiten? Seid Ihr hinter die Psalmen zurückgefallen?

Warum bittet Ihr, dass Gottes Wille geschehe, da er doch geschieht? Warum bittet Ihr, dass sein Reich komme, wenn es doch da ist? Könnt Ihr es nicht sehen? Warum bittet Ihr um das tägliche Brot, da Ihr doch von jedem Wort lebt, das durch den Mund Gottes geht, d.h. da doch Gott Euch Eurer Leben lang durchgehend alles schafft und begegnen lässt, was Euer Leben ausmacht – den ganzen Daseinsfilm? Warum bittet Ihr, dass Gott Euch Eure Schuld vergibt, da Euch doch schon je vergeben ist? Könnt Ihr Euch selbst nicht vergeben, weil Ihr anderen nicht vergeben könnt? Warum bittet Ihr Gott darum, Euch nicht in Versuchung zu führen, da doch die Welt es ist, die Euch "versucht" und fordert, während allein der Blick auf Gott Euch davon erlöst?

Und wie heilig ist Euch eigentlich der Name Gottes? Ist Gott denn nun außerhalb unserer Welt, nicht begrifflich fassbar, absolut? Wieso stellt Ihr dann dauernd Behauptungen über Ihn auf und meint, damit auch noch irgendetwas begründen zu können? Wieso hängt Ihr Ihm dauernd innerweltliche Attribute und Beziehungen zu Innerweltlichem an, und versucht Ihn damit zu relativieren? Wisst Ihr nicht, dass das alles nichtig ist? Was glaubt Ihr, warum ich über Gott und das Himmelreich in Gleichnissen rede? Versteht Ihr das Zweite Gebot nicht?

 

Ich sage:

Weh euch Schriftgelehrten! denn ihr habt den Schlüssel der Erkenntnis weggenommen.
Ihr kommt nicht hinein und wehret denen, die hinein wollen.

Also frage ich Euch:

Die Kleriker und Theologen betreiben Exegese, d.h. Auslegung. In welchem Fachgebiet gibt es das sonst, dass ein Fachmann einen fachlichen Text nicht einfach liest und versteht? In welchem Fachgebiet gibt es das sonst, dass man 2000 Jahre strittig an einer alten Schrift heruminterpretiert, statt einen aktuellen weltweiten Wissensstand, in diesem Falle vom Dasein, zu haben und fortzuentwickeln?

Wo ist der Schlüssel?

Ist nicht mein Wort über das Bedürfen und Bitten der Schlüssel zum Vaterunser – nicht einmal unter der Fußmatte versteckt sondern offen vor der Pforte liegend?
 Will es überhaupt jemand durch die enge Pforte schaffen?

 


Ich sage:

Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.

Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht;
denn sie verstehen es nicht.

Selig sind eure Augen, dass sie sehen, und eure Ohren, dass sie hören.

Also frage ich Euch:

Wie seht Ihr das? Das Himmelreich war weiter weg und ist nun nahe gekommen, zwar noch nicht ganz da, es wird aber schon irgendwann endgültig kommen?
Nah ist nah. Seid Ihr schon darin? Oder geht Ihr daran vorbei, ohne es zu sehen?

 

Ich sage im Gleichnis:

Er [der Vater] aber sprach zu ihm [dem älteren Sohn]:
Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein.

Also frage ich Euch:

Ist das nicht nah genug? Was ist denn für jeden von Euch das, was von Gott "dein" ist? Kann man das nicht sehen? Kann man das ignorieren? Ausschlagen?

 

Ich sage:

meinen Jüngern, dass sie niemand sagen sollen, dass ich der Christus wäre.

Also frage ich Euch:

Seht ihr das nicht so, dass das Volk entsetzt ist von meinen Reden, die ihnen den schmalen Weg durch die enge Pforte weisen und sie vor Gott führen sollen, und dass es stattdessen den Gesalbten Gottes will? Seid ihr nicht auch so? Und dass die "Weisen und Klugen" daraufhin dem Volk Christus geben?
Wer ist heute noch Jünger, der mein Verbot einsieht und befolgt?

 

Ich sage im Gleichnis:

Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.

Also frage ich Euch:

Welchen Sinn hat es, dass Ihr mich als von den Toten auferstanden positioniert?
Weil es Euch in erster Linie gar nicht um meine Lehre geht?

 


Ich sage:

Was heißet ihr mich aber Herr, Herr, und tut nicht, was ich euch sage?

Also frage ich Euch:

Bekennt Ihr nicht auch "Jesus Christus, unsern Herrn". Habt ihr mich nicht verstanden, dass wir alle, ja alle, wie gut geförderte Kinder Gottes leben können und Gott wie unseren guten, uns fördernden Vater ansehen? Will es Euch nicht in den Kopf, dass alle Menschen Gottes Söhne und Töchter sind, darunter auch ich.

Haltet ihr es für ehrlich und ethisch, jedem einzelnen Menschen diese Göttlichkeit wieder abzusprechen und sie wie unerreichbar auf eine einzige Figur zu projizieren? Fürchtet Ihr Euch immer noch, gottesebenbildlich und vor Gott zu sein,
obwohl einem Menschen doch nichts Besseres passieren kann?

Seht ihr nicht, dass Christus ein Bild für das Dasein eines jeden Menschen ist: von Gott in die Welt gesetzt, um Leben zu mehren, mit einem göttlichen, d.h. zeitlosen Selbst, das vom Tod nicht betroffen ist? Und ist dieses Bild als Schlüssel zur engen Pforte nicht unendlich wertvoller als eine Herren-Figur für den breiten Weg?

 

Ich sage:

Wer Ohren hat, zu hören, der höre!

Also frage ich Euch:

Habe ich gesagt: Hört jemand anders? Habe ich gesagt: Gehorcht mir?
Habe ich gesagt: Schaut auf mein Leben, meine Taten, meinen Körper?
Habe ich gesagt: Dichtet mir etwas an?
Wie wollt ihr mir nachfolgen, wenn ihr mich nicht hört?

 

Ich sage Euch:

Ich sehe das Göttliche in Eurem Wesen. Vergeben ist Euch sowieso.

Aber mich noch einmal für Euch hinrichten lassen würde ich nicht.

 


 

 

Das Gleichnis vom neuerdings verlorenen Sohn

Er kommt nicht an

 

 

Ein Sohn ließ sich von seinem Vater sein Erbteil auszahlen, zog damit in die Welt hinaus und vertändelte es, bis er völlig mittellos war und nicht mehr ein noch aus wusste.

Da dachte er daran, wie gut es auch der einfachste Arbeiter seines Vaters habe, und beschloss zu ihm zurück zu gehen und zu ihm zu sagen: "Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor Dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich Dein Sohn heiße. Kannst Du mich trotzdem bitte als einfachen Arbeiter einstellen?"

Da er nun aber den Weg zurück nicht mehr wusste, ging er in eine Kirche, um nach dem Weg zu fragen. Die Menschen dort sagten ihm, dass der Vater ihres Wissens nur einen einzigen Sohn habe, nämlich Christus, und der sei der Weg.

Sie trösteten ihn aber, halfen ihm in seiner Not und boten ihm ihre Gemeinschaft. Und so blieb er bei ihnen.

 


 

 

Das Gleichnis von der virtuellen Welt

 

 

Mit unserem Dasein ist es wie mit dem Spiel in einer virtuellen Welt.

Die Spieler selbst sind außerhalb der virtuellen Welt, ebenso die Erschaffer und Vorführer. Den Spielern begegnen die Inhalte der virtuellen Welt. Sie verstehen die Inhalte direkt und können daraufhin handeln oder sie dulden.

Die Spieler konzentrieren sich normalerweise so intensiv und ausdauernd auf die virtuelle Welt, dass sie ganz darin aufgehen. Sie identifizieren sich dann ausschließlich mit ihrer Spielfigur in der virtuellen Welt und ihrem Ergehen, und möchten gar nicht aufhören zu spielen. Ihre eigentliche Spielsituation "von außen" haben die Spieler dabei nicht im Blick.

Dass Spieler während des Spiels diesen Blick von außen auf die virtuelle Welt dennoch gewinnen, ist die Ausnahme. Es geschieht normalerweise nur, wenn sie von außen gerufen werden, oder wenn sie im Spiel scheitern: dann können sie "auf sich selbst zurückgeworfen" werden. Das geschieht aber selten, denn die virtuelle Welt "hat System", und diese Systematik ist intuitiv erschließbar und dann direkt zugänglich. Wenn man sie einmal verstanden hat, kann man normalerweise darauf vertrauen und scheitert nicht.

Ein Spieler kann den Blick "von außen" aber auch im Guten gewinnen, indem er es von sich aus schafft, aus dem Spiel in der virtuellen Welt aufzutauchen. Während des Spiels tut das aber so gut wie niemand. Sich gleichzeitig auf die Inhalte der virtuellen Welt und auf die Spielsituation außerhalb und gegenüber der virtuellen Welt zu konzentrieren, ist unmöglich.

 

Was in der echten Realität anders ist:

Um in der echten Welt zu spielen, brauchen die Spieler keine Geräte, keine Bildschirme, Lautsprecher, Kopfhörer, Mikrofone, keine Mäuse, Tastaturen, Joysticks, Bewegungs­sensoren, sondern alles in der Welt begegnet ihnen unmittelbar, und sie agieren direkt mit ihren Entschlüssen und Automatismen.

Die Wahrnehmung der Spieler in der echten Realität hat mehr Kanäle. Zusätzlich zu den Kanälen zur Außenwelt gibt es auch die zur körperlichen und zur mentalen Innenwelt. Neben den Sinneswahrnehmungen der Außenwelt gibt es die inneren Wahrnehmungen der Haltung und Bewegung des Körpers und der Körperteile, des körperlichen Wohlbefindens und Schmerzes, und schließlich die Wahrnehmungen der geistigen Innenwelt: der Gedanken, Einfälle, Denkprozeduren, Erinnerungen, der inneren Bilder, inneren Sprache, Gefühle, Stimmungen, Antriebe und Hemmungen, der Vorhaben und des Willens. All das nehmen wir wahr, es begegnet uns in der Welt.

Eine virtuelle Welt kann sehr reichhaltig sein, wenn sie von einer großen Mannschaft mit einem großen Budget entwickelt worden ist. Noch weitaus reicher kann eine virtuelle Welt sein, wenn sie so konzipiert ist, dass allen Spielern – es können Millionen sein – die Möglichkeit gegeben ist, innerhalb eines gewissen Rahmens jeweils eine Teilwelt selbst aufzubauen, und wenn sie weiterhin so konzipiert ist, dass jedem einzelnen Spieler alles begegnen kann, was die anderen Mitspieler aufgebaut haben, so dass er sie auch nachbauen und darauf weiter aufbauen kann. So eine Welt wächst permanent, und das ist in der echten Realität nicht anders.

Was in  der echten Realität anders ist, ist die Freiheit von Vorgaben. Es gibt keine Grenze, die man nicht überschreiten oder umgehen könnte, um dann entweder ein neues Stück Welt zu erschließen oder zu scheitern. Und so haben an der realen Welt Milliarden von Menschen – die ganze Menschheit – seit Jahrtausenden gebaut, und jeder Mensch konnte und kann daraus nach seiner Wahl Teile übernehmen, um an der eigenen Welt weiter zu bauen und damit auch die Welt aller ein wenig anzureichern oder gar einen größeren Schritt voran zu bringen. Die reale Welt begegnet uns dadurch als geradezu unendlich reich – ein  kostenloser Reichtum.

 


 

 

Das Vaterunser

teilrestauriert zum unauffälligen Mitbeten mit den Christen

 

 

Unser Vater im Himmel,

heilig ist Dein Name,

Dein Reich kommt
[ständig in allem, was uns jeden Moment begegnet],

Dein Wille geschieht wie im Himmel, so auf Erden,

unser tägliches Brot gibst Du uns heute
[und überhaupt alles, was unser Leben ausmacht],

und vergibst uns unsere Schuld,
und auch wir vergeben unseren Schuldigern,

und führst uns nicht in Versuchung, sondern erlöst uns von dem Bösen,

[denn]
Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Amen
[So ist es].

 

 

 

 

 

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Für eine Begründung, siehe "Das Absolute" in diesem Buch.


 

 

 

3.
Andere Schriften

 

 

Die Daseinsphilosophie der Bergpredigt

Eine Kritik

 

 

Adam, wo bist du?

Ein Gedicht

 

 

 


 

 

Die Daseinsphilosophie der Bergpredigt

Eine Kritik

 

 

 

EINFÜHRUNG – Kritik versus Auslegung

 

Die Bergpredigt ist Jesus nachträglich zugeschrieben und anscheinend aus mehrfach weiter erzähltem Material zusammengestellt. Sie doziert in grundsätzlicher Weise von Gott, der Welt und dem Menschen. Sie wird kaum als eingängig sondern meist als radikal und auslegungsbedürftig angesehen. Ihre Wahrheit und ihre große Bedeutung werden aus der Zuschreibung zu Jesus als Gottes Sohn geschlossen.

Diese Abhandlung ist eine Kritik. Eine Kritik ist keine Auslegung. Eine Auslegung versucht das Verständnis eines nicht ohne weiteres zugänglichen Textes zu erarbeiten, indem sie weiteres Material heranzieht, etwa vom selben Autor oder aus dem zeitlichen Kontext. Eine Kritik setzt voraus, dass man von der Sache von vornherein etwas versteht. Die Sache ist hier unser Dasein, unser Wesen, unser Sein in der Welt, unsere Existenz, unsere Verwurzelung in Gott. Darüber kann jeder Mensch aus seiner eigenen Existenz heraus eine Menge herausbekommen und wissen, und unter Heranziehung solchen Wissens kann man in den Blick bekommen, was in der Bergpredigt gemeint ist, und z.B. feststellen, dass Jesus in dieser Sache überragend kompetent war.

Wissen um unsere Existenz liefern z.B. die Introspektion, die Religion, die Literatur, die Existenzphilosophie. Wenn man daraus ein kohärentes Bild herstellt, kann man etwa Folgendes sagen:

Unser Dasein besteht darin, dass "da etwas ist". Uns begegnen Phänomene und wir verstehen sie, d.h. uns begegnet Artikuliertes, und wir können ihm Struktur geben. Diese Phänomenstrukturen bilden unsere Welt. Wir unterteilen sie gewöhnlich in eine äußere und eine innere Welt. In der äußeren Welt begegnen uns Gegenstände und Zusammenhänge, in der inneren Welt begegnen uns Gedanken, Bilder, Vorstellungen, Erinnerungen, Gefühle, Antriebe. Wir erkennen und verstehen sie alle unmittelbar. Sie laufen ab wie ein interaktiver Daseinsfilm. Wir agieren darin ähnlich wie der Spieler in einer virtuellen Realität, nur eben hier in der realen Realität unserer Welt.

Die Welt ist alles, was wir Menschen prinzipiell verstehen und leben können. Gott ist nicht von dieser Welt, sondern außerweltlich. Er ist daher prinzipiell nicht zu verstehen, z.B. kann man ihm auch keine innere Struktur zuschreiben. Wie der Spieler der virtuellen Realität sich außerhalb derselben befindet, so "spielen" wir in unserer realen Realität von außerhalb, können uns aber darin verlieren und ihr verfallen. Was da spielt, nennen wir unser Eigentliches Selbst. Es ist nicht von dieser Welt. Da es außerhalb der Welt kein Verstehen und keine Struktur in unserem Sinne gibt, kann man das Eigentliche Selbst nicht begrifflich von Gott unterscheiden. Der außerweltliche Gott, unser außerweltliches Eigentliches Selbst und das jeweilige Eigentliche Selbst der anderen Menschen können allenfalls verschiedene "Sichten" auf ein und dasselbe Außerweltliche sein.

Unser Verstehen von Phänomenstrukturen ist konstruktiv, wir bauen mit jeder Erfahrung unsere schon verstandene Welt – das, was wir leben können – weiter aus. Dies ist das Gesetz unseres Daseins: Welt bauen, Leben mehren, unseres und das der anderen Wesen vom Typ Dasein, d.h. der Mitmenschen. Schuld ist, Leben nicht gemehrt oder es sogar gemindert oder verhindert zu haben. Indem wir Möglichkeiten ergreifen, Leben zu mehren, lassen wir andere Möglichkeiten ungenutzt. Wir werden also unweigerlich schuldig. Unsere Aufgabe ist, aus unserer Schuld zu lernen und sofort weiter – und besser als vorher – Leben zu mehren.

Dies ist eine Skizze des Vorwissens, auf dem die folgende Kritik der Bergpredigt beruht. Bei Bedarf werden wir weitere Aspekte nachtragen.

Der einzige Anspruch dieser Darstellung ist, dass Gott absolut ist. Und deshalb ist auch dieser Anspruch absolut. Außerweltliches kann von uns nicht wie Innerweltliches verstanden werden, es ist nicht definierbar, man kann ihm keine Attribute geben und es nicht in Aussagen erfassen, es hat keine Struktur und befindet sich in keiner Struktur. Es ist kein Begriff.

Die gottbezogene Hypothese dieser Darstellung ist, dass man so etwas kann, wie ihn in den Blick bekommen, dass man daher auch versuchen kann, mit eventuell nur annähernd zeigender Rede auf ihn zu zeigen, und dass solche Rede und das hinsehende "Verstehen" solcher Rede eine Kompetenz eigener Art ist. Annähernd zeigende Rede ist immer so zu verstehen, als ginge ihr die Klausel "es ist, wie wenn" voran.

Man muss der obigen Darstellung unseres Daseins also nicht folgen und braucht sie nicht als "Wissen" zu akzeptieren. Es kommt einzig darauf an, ob man sieht, worauf sie zeigen will, ob man das "es" aus dem Vorsatz "es ist, wie wenn" sieht – bzw. ob man ggf. besser darauf zeigen kann. Immerhin hat die obige Darstellung gerade so nebenbei auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen (außerweltliches Eigentliches Selbst), das Leben als Wort Gottes (Artikulation), und auf die Sünde als Verfallenheit in der Welt gezeigt, und die Plausibilität der Dreieinigkeit im Sinne verschiedener Sichten auf dasselbe Außerweltliche angedeutet.

Die nachfolgende Kritik ist also zunächst darauf aus, in zeitgemäßer Sprache einerseits die existenziellen Aspekte herauszuholen, auf die die Bergpredigt – hier Matthäus, Kap. 5 bis 7 in der deutschen Fassung Martin Luthers – zeigt, und andererseits deutlich zu machen, worauf sie sicher nicht zeigt. Dieser Ansatz führt allerdings noch weiter: Er fördert zutage, dass der Textautor mit dem Leser spielt, und wie souverän und warum er es tut.

 


MATTHÄUS 5

 

Die Seligpreisungen

 

1.      Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm.

2.      Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:

3.      Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.

4.      Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.

5.      Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.

6.      Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.

7.      Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

8.      Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.

9.      Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.

10.  Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.

11.  Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen.

12.  Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.

 

Die Bergpredigt fängt mit ihrem Höhepunkt an. Wenn es ansonsten in der Bibel meist um das Verstehen, die Einhaltung oder die Verletzung der Spielregeln unseres Daseins als in die Welt geworfene Gotteskinder geht, so geht es in den Seligpreisungen um das absolut Positive an unserem Dasein.

Seligkeit ist eigentliches Glück, ein über alles guter Daseinszustand. In der Welt können wir nach Glück streben und Glück haben. Wir sehen dann, dass die Dinge für uns gut gelaufen sind oder gut liegen, und genießen das Gefühl, dass alles gut ist. Dies ist ein flüchtiger Vorgeschmack von Seligkeit. Dauerhaft sind nicht die für uns guten Zeiten in der Welt, sondern die Wechselhaftigkeit der Welt. Seligkeit sieht sozusagen das ganze Dasein, einschließlich dieser Wechselhaftigkeit, als einen Glücksfall: Die Welt ist richtig, interessant, reich, schön, gut, ein übergroßes Geschenk. Seligkeit ist dabei keine naive Weltsicht, die alles Böse und Unglück in der Welt verdrängt oder beschönigt. Es geht um eine Daseinshaltung, in der man mit sich und der Welt, einschließlich der schlimmen Phänomene und auch, wenn das Schlimme einen selbst trifft, im Reinen, locker, erlöst und froh leben kann.

Seligkeit ist also nichts Jenseitiges, sondern eine richtige Haltung zur Welt, die aus der annähernden Sicht auf unsere im Absoluten verwurzelte Daseinssituation folgt. Wäre Seligkeit außerweltlich, etwa eine Seinsart im Jenseits, dann könnte man über sie gar nichts sagen. Sie wäre unbegrifflich, und wir könnten uns von ihr absolut nichts versprechen.

Seligkeit fällt uns nicht zu. Die Welt ist attraktiv, und wir spielen gerne in ihrer realen Realität, gehen leicht darin auf, verfallen ihr eventuell ganz. Dabei ist uns nur unsere Situation in der Welt bewusst, nicht aber unsere Daseinssituation gegenüber der Welt, als Spieler von außerhalb. Vor lauter Konzentration auf unseren Avataren und auf dessen Vorteile in der Welt sehen wir nicht, welch ein absolut grandioses "Computerspiel" wir da in Form der Welt geschenkt bekommen und welche Freiheit wir darin haben.

Um Seligkeit zu erlangen, müssen wir uns aus dieser "verfallenen" Situation befreien oder befreit werden. Wir können Texte suchen, die etwas über Seligkeit sagen, und versuchen sie zu verstehen. Oder ein Stück Welt bricht zusammen und damit ihre Attraktivität, weil wir in dem Spiel mehr oder weniger scheitern. Dann werden wir auf uns selbst zurück geworfen, schauen auf unsere eigentliche Spielposition, und fragen uns vielleicht sogar, ob wir weiterspielen sollen. Wenn es gut geht, lernen wir einerseits aus dem Verlust, wie viel wertvoller Welt ist, als wir gewöhnlich denken, und andererseits aus dem Überwinden, dass wir ein teilweises Zerbrechen von Welt überwinden oder ertragen, und uns immer wieder neues Leben erschließen können. Und so erleben wir ein kleines oder großes Stück echter Seligkeit. –

Wie zeigen die Seligpreisungen der Bergpredigt auf diese existenziellen Zusammenhänge? Knapper, poetischer und fehlerfrei. Seligkeit wird bildhaft umschrieben: das Himmelreich besitzen, getröstet sein, das Erdreich besitzen, gerecht gestellt sein, Barmherzigkeit erlangt haben, Gott schauen, Gottes Kind heißen, im Himmel reich belohnt sein. Der Bezug auf das Erdreich, d.h. auf die Welt, sichert, dass Seligkeit nicht einfach als jenseitig verstanden wird. "Gott schauen" steht für den Blick auf die Daseinssituation mit Gott als Schöpfer unseres interaktiven Daseinsfilms. "Gottes Kind heißen" besagt einerseits, dass wir unsere göttliche Komponente, unser Eigentliches Selbst, dabei ebenfalls im Blick haben, andererseits, dass wir uns in der Welt am besten bewegen wie Kinder, die wissen, dass ihr Vater sie nicht überfordert sondern auf immer mehr Lebenstüchtigkeit hin trainiert. "Barmherzigkeit erlangt haben" sagt, dass wir von Schuld nachhaltig entlastet sind. "Getröstet sein" und "von Gerechtigkeit satt sein" bedeuten, dass uns das Leid und das Böse der Welt nicht beherrschen können.

Das alles ist ziemlich treffend, aber etwas weniger vollständig, als unsere obige Beschreibung von Seligkeit. Wichtige existenzielle Zusammenhänge kommen nicht in den Blick, z.B. dass Seligkeit eine durch den Blick auf das Außerweltliche perfekt ausgerichtete Daseinshaltung ist.

Vor allem fällt auf, wie verwirrend, ja geradezu schlecht die Seligpreisungen geschrieben sind.

Das beginnt bei kleinen Störungen der Systematik: Die erste Seligpreisung endet mit einer Verheißung für die Gegenwart: "ihrer ist das Himmelreich". Warum weisen die Verheißungen aller weiteren Seligpreisungen in die Zukunft, bzw. was soll gelten: Gegenwart oder Zukunft? Die letzte Seligpreisung (ab Vers 11) weicht in der Form von allen vorhergehenden ab, wechselt in die zweite Person, bringt zusätzlich Jesus ins Spiel, und schiebt nach der Belohnung im Himmel noch die zweite Begründung mit den Propheten nach, als wäre die erste nicht ausreichend. Der Abschluss der Seligpreisungen wird dadurch verunsichert.

Die gröbste Merkwürdigkeit ist die sprachliche Konstruktion: "Selig sind die X, denn sie werden Y". Der erste Teil kann zweierlei bedeuten "selig impliziert X" oder "X impliziert selig". Der Textautor lässt das offen, obwohl es leicht eindeutig zu machen wäre. "Denn" drückt immer eine Kausalität aus, also: "weil zukünftig Y, deshalb die Beziehung zwischen selig und X", oder an einem Beispiel: Weil sie künftig getröstet werden sollen, sind die Leid Tragenden selig oder die Seligen Leidtragende. Als gegenwärtig Ungetröstete selig sein? Der Textautor unterlässt es, die Zusammenhänge richtig und unmissverständlich zu formulieren. Sollte das Schlampigkeit sein – ausgerechnet, wo es um unsere Existenz geht?

Weiter ist festzustellen, dass die Zuordnungen der Y zu den X geradezu willkürlich sind. Warum steht da nicht "Selig sind, die reinen Herzens sind, denn ihrer ist das Himmelreich" oder "Selig sind, die da Leid tragen, denn sie werden Gottes Kinder heißen"? Und warum bekommen die einen das Himmelreich und die anderen das Erdenreich? – Nun kann man sagen, Himmelreich, Trost, Erdreich besitzen, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit usw. seien sämtlich Aspekte der Seligkeit und in so einer Aufzählung austauschbar: Wenn man selig ist, hat man das Himmelreich, ist getröstet, usw. Aber warum werden diese Aspekte dann überhaupt vereinzelt und einzeln den X zugeordnet?

Und wenn die Y Aspekte der Seligkeit sind, Aspekte wessen sind dann die X? Aus unserem Vorwissen heraus können wir sagen, die X bezeichnen Situationen, in denen der Zugang zur Seligkeit nahe liegt, weil in irgendeiner Weise die Verfallenheit in der Welt aufgehoben ist und man die Welt als Gegenüber in den Blick bekommt. Dabei gibt es zwei Kategorien: einerseits die "harte Tour" wenn uns ein hartes Schicksal dazu zwingt, indem wir z.B. Leid und Ungerechtigkeit zu tragen haben oder verfolgt werden, andererseits die "sanfte Tour", wenn wir uns selbst um einen Blick auf das Außerweltliche bemühen und uns dazu von innerweltlichen, materiellen und geistigen Strebungen ein Stück frei machen müssen, z.B. von Macht, Reichtum, intellektueller Stärke, und wir uns dementsprechend geistig arm, sanftmütig, barmherzig, friedfertig verhalten.

Die Struktur der Seligpreisungen wäre demnach: Zugang zur Seligkeit findet man am ehesten in den Situationen X und dann erlebt man sie als Y.

Das bleibt aber noch weit hinter der äußersten Konsequenz unserer obigen Beschreibung zurück, nach der wir in der Daseinshaltung der Seligkeit auch das schlimme Schicksal als gut empfinden. Diese Zurückhaltung des Textautors ist unter Umständen verständlich. Er geht ja immerhin so weit, dass er Seligkeit überhaupt mit schwerem Schicksal in Verbindung bringt, aber auch das ist schon eine Assoziation, die fast alle Leser provozieren dürfte und die man deshalb besser gut verpackt, abwiegelt, wenn nicht gar sicherheitshalber verbiegt und versteckt. Dazu sind die aufgezählten "Mängel" des Textes gut geeignet: um etwas darin zu verstecken, braucht man genügend Textlänge; Aufzählungen harmloser, eingängiger Inhalte können der unauffälligen Einbettung eines problematischeren Inhalts dienen und ihm die Spitze nehmen; die Verrätselung der Logik nimmt der Härte der Botschaft die Gewissheit.

Die verwirrende Gestalt der Seligpreisungen hat damit vier mögliche Begründungen: Jesus verstand nichts von existenzieller Seligkeit, der Textautor verstand nichts von existenzieller Seligkeit, der Textautor hat grob nachlässig geschrieben, oder der Textautor hatte Gründe sich sehr vorsichtig zu äußern und daher kalkuliert so geschrieben, dass es wie nicht besser gekonnt erscheint.

Das Letztere ist zu vermuten, wir müssen aber an dieser Stelle nicht endgültig klären, welche Alternative zutrifft, und wir müssen diese Frage auch nicht für die Seligpreisungen allein beantworten; denn wir werden im weiteren Verlauf dieser Kritik immer wieder vom Text auf diese Fragen gestoßen werden.

 

Salz und Licht

 

13.  Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten.

14.  Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein.

15.  Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind.

16.  So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.

 

Durch die Abtrennung vom vorigen scheint dieser Absatz ohne Bezug. Er führt aber die Gedanken der Verse 11 und 12 direkt fort. Wer das Außerweltliche im Blick hat, wird die Pflicht haben und nicht anders können, als anderen diese Sicht weiterzugeben, und dann wird es ihm gehen wie den Propheten – und Jesus selbst. Und wenn sie umgebracht sind, wird man sie aufgrund ihrer wahren oder erfundenen "guten Werke" – nicht ihrer Einsichten – zu leuchtenden Vorbildern für das Leben in der Welt aufbauen.

Mit den positiven Reden vom Licht und Salz lenkt der Textautor den Blick vom brutalen Prophetenschicksal ab, und damit das sicherer funktioniert, benutzt er zwei Bilder, wo eines genügte. Er nimmt so Rücksicht auf einen innerweltlichen Zug der menschlichen Natur: man will mit klaren Existenzfragen nichts zu tun haben, selbst wenn die Botschaft froh ist.

Am Ende dieses Abschnittes stehen trotzdem nicht Ängste sondern der Appell. Wenn ein Mensch Gott im Blick hat, dann ist er verpflichtet, den Mitmenschen zu zeigen, wohin sie blicken müssen, um Gott zu sehen.

 

Jesu Stellung zum Gesetz

 

17.  Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.

18.  Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.

19.  Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.

20.  Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.

 

Jesu Stellung zum Gesetz ist eindeutig. Er versteht und übernimmt die "Gesetze" unseres Daseins aus dem Alten Testament ohne Einschränkung und entwickelt das Reden über diese Gesetze weiter.

Wir wissen und Jesus wusste – wie man an seinen Gleichnissen sieht –, dass man über das Dasein nur annähernd zeigend reden kann, und dass das wortgenaue, ggf. spitzfindige Verständnis, wie es der religiösen Elite zugeschrieben wird, das Außerweltliche völlig verfehlt. Die geforderte Genauigkeit ist nicht Buchstaben-, Wort-, oder Detailgenauigkeit. Bei Daseinsgesetzen handelt es sich nicht um Gebote, die man einhalten kann oder nicht, sondern es sind absolute Spielregeln, an denen es kein Vorbeikommen gibt. Wenn die Verse 18 und 19 diese Absolutheit der Gesetze ausdrücken sollen, dann zeigen sie insoweit korrekt. Aber wer würde das aus ihnen herauslesen?

Vers 20 kann man nur äußern, wenn man das Dasein selbst im Blick hat und die vorherrschende Art der Auslegung von Daseinsgesetzen als innerweltliche Lehrdoktrinen und Lebensregeln durchschaut. Der Vers beweist damit auch die existenzielle Kompetenz sowohl Jesu als auch des Textautors.

Dieser wirkt allerdings wie gehemmt. Den letzten Vers knüpft er mit dem Thema Gerechtigkeit an die beiden vorigen an, die schon nicht konsistent sind – Buchstaben­genauigkeit und Genauigkeit bis auf das "kleinste Gesetz" sind ja verschiedene Typen von Genauigkeit –, und die Anknüpfung erzeugt nichts als Irritation, da doch die Schriftgelehrten und Pharisäer gerade als besonders genau bis übergenau galten. Der Leser wird so zweimal zum fragenden Nachdenken provoziert, und dann bleibt er notgedrungen an dem vom anscheinend überforderten Textautor in falschen Bezügen platzierten, wie pflichtgemäß zitierten letzten Vers hängen. Wenn unsere Vermutung stimmt, dass der Textautor kalkuliert schreiben wollte, dann können wir hier auch weiter vermuten, dass er das tatsächlich beherrschte, z.B. eine Überforderung glaubwürdig zu simulieren.

Ob der Autor nun tatsächlich überfordert war, oder nur so tat, um eine vermutete Überforderung der Leser zu vermeiden: Was letztlich überfordert, ist Jesu Rede, dass die religiöse Elite nicht ins Himmelreich kommt. Das kann man auch heute noch niemandem beibringen.

 

Vom Töten

 

21.  Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist (2.Mose 20,13; 21,12): »Du sollst nicht töten«; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein.

22.  Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig.

23.  Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat,

24.  so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe.

25.  Vertrage dich mit deinem Gegner sogleich, solange du noch mit ihm auf dem Weg bist, damit dich der Gegner nicht dem Richter überantworte und der Richter dem Gerichtsdiener und du ins Gefängnis geworfen werdest.

26.  Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du auch den letzten Pfennig bezahlt hast.

 

Dieser Absatz schließt wiederum direkt an den vorigen an und macht nun klar, wie die Genauigkeit gemeint ist: als Korrektheit der Sinnerfassung. Oberflächlich sieht es so aus, als sei Jesus nun selbst spitzfindig. Zürnen ist bei Weitem nicht Töten, soll aber schon ein bisschen Töten sein und damit schwer strafwürdig? Aber das Gebot wird ja nicht wörtlich "genauer" genommen, sondern sein Sinn wird genauer genommen, und der ist eben weiter.

Tatsächlich deckt der zweite Teil der Zehn Gebote viele Arten böser Taten nicht ab, kann also nicht als vollständig gemeint sein. Als Daseinsgesetz kann er nur alle Aspekte unsere Beziehung zu den Mitmenschen meinen, wie von Jesus zusammengefasst: liebe deinen Nächsten wie dich selbst, d.h. als ein Wesen mit einem außerweltlichen, gottesebenbildlichen, Eigentlichen Selbst wie wir selbst. Das Daseinsgesetz besagt, dass wir das Leben zu mehren haben, unser eigenes Sein in der Welt, und das der Nächsten nicht weniger.

Leben mehren können wir nicht an Hand weniger oder vieler, kleinteiliger oder umfassender Vorschriften. Leben ist nicht kodifizierbar. Es geht wie bei den Seligpreisungen wieder um eine Daseinshaltung, nämlich um die Haltung, das Leben zu mehren. Aus dieser Haltung heraus wird man seinen Mitmenschen auch kleine Lebensminderungen nicht zumuten wollen.

Der Preis der Fehlhaltung, mit ihrer systematischen Verletzung des Daseinsgesetzes, ist unverarbeitete Schuld. Die Haltungskorrektur ist das "Gericht", das Richtig-Machen der Haltung, – das einem selbstverständlich gut tut und nach dem es einem besser geht.

Das ganze Drohgebäude dieses Absatzes über das Töten ist in dieser Hinsicht höchst irreführend – als sei unverarbeitete Schuld nicht lebensmindernd und schlimm genug. Aber der Text ist wieder korrekt auf den normalen Leser hin kalkuliert. Ihn werden die Drohungen bestenfalls zu dem Vorsatz veranlassen, in den genannten Situationen mit ihren Mitmenschen umgänglicher zu sein. Die Unmäßigkeit der Drohungen wird ihn aber vor allem davor abschrecken, sich mit der – so drastisch negativ belegten – existenziellen Frage der richtigen Daseinshaltung zu befassen, und das wird ihn davor bewahren, sich dann womöglich wahrhaft zu entsetzen.

Die Einhaltung des Daseinsgesetzes steht natürlich über jeder religiösen Form. Es ist deshalb bemerkenswert, dass der Textautor und wohl auch schon Jesus selbst es für nötig gehalten haben, dies wie in den Versen 23-24 mittels eines Beispiels ausdrücklich zu betonen. Es muss damals viel unüberwindliche Formalreligiosität vorgeherrscht haben.

 


Vom Ehebrechen

 

27.  Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2.Mose 20,14): »Du sollst nicht ehebrechen.«

28.  Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.

29.  Wenn dich aber dein rechtes Auge zum Abfall verführt, so reiß es aus und wirf's von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde.

30.  Wenn dich deine rechte Hand zum Abfall verführt, so hau sie ab und wirf sie von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle fahre.

31.  Es ist auch gesagt (5.Mose 24,1): »Wer sich von seiner Frau scheidet, der soll ihr einen Scheidebrief geben.«

32.  Ich aber sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen Ehebruchs, der macht, dass sie die Ehe bricht; und wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die Ehe.

 

Dieser Absatz führt am Beispiel des Ehebruchs im Kontext seiner Zeit und Gesellschaft die Logik fort, dass es nicht reicht, Einzelgebote formal zu erfüllen, sondern dass der Maßstab die Daseinshaltung zur Mehrung des Lebens ist. Er ist noch wütender als der vorige Absatz. Die sporadischen Verletzungen des Daseinsgesetzes im Zusammenleben sind Jesus ein Ärgernis, aber noch ärger sind ihm die systematischen, verrechtlichten Minderungen des Lebens von Frauen.

Aber welche Begründung gibt man den Zuhörern? Sie hätten im Wirkungsbereich ihres Handelns Leben zu mehren? Stark emotionale Vergleiche ziehen vielleicht noch am ehesten: Das Schuldgefühl gegenüber der Ehefrau beeinträchtigt das Leben des Mannes schlimmer als der Verlust eines Auges oder der rechten Hand. Das ist eine gut nachvollziehbare, psychologische Begründung, und so braucht man den Zuhörern dann nicht mehr auf die Nase zu binden, dass das Schuldgefühl ja doch auf einer existenziellen Schuld beruht.

 

Vom Schwören

 

33.  Ihr habt weiter gehört, dass zu den Alten gesagt ist (3.Mose 19,12; 4.Mose 30,3): »Du sollst keinen falschen Eid schwören und sollst dem Herrn deinen Eid halten.«

34.  Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Thron;

35.  noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße; noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des großen Königs.

36.  Auch sollst du nicht bei deinem Haupt schwören; denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen.

37.  Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.

 

Abgesehen von seiner juristischen Ausprägung ist das Schwören eine innerweltliche Taktik, die die Adressaten einer Aussage beeindrucken soll. Ob, wann und wie man schwört, ist in beiden Ausprägungen keine existenzielle Frage und fällt fast aus dem Rahmen der Bergpredigt.

Direkt oder indirekt beim Außerweltlichen zu schwören, ist natürlich Unsinn, aber auch nur ein Symptom, das man nicht als solches kurieren kann. Dem so irrig Schwörenden müsste schon die Einsicht beigebracht werden, dass das Außerweltliche nicht begrifflich ist und es daher keinen Sinn hat, es mit irgendetwas Innerweltlichem in Verbindung bringen zu wollen, auch nicht mit innerweltlicher Wahrheit. Ein paar Verbotsregeln sind dazu beim besten Willen nicht geeignet.

Es ist auch nicht weniger unsinnig, bei Innerweltlichem zu schwören. Unsere Daseinssituation ist nun einmal so, dass der Strom der uns begegnenden Phänomene nicht unser Werk ist, und dass wir ihn deshalb auch nicht garantieren können.

Aus unserem anfangs umrissenen Vorwissen heraus ist relativ leicht zu erkennen, dass der zweite Halbsatz von Vers 36 das meint. Aus demselben Vorwissen heraus ist nicht zu erwarten, dass man selbst durch den Versuch zu Ende zu denken, was der Mensch vermag und nicht vermag, das Außerweltliche und seine "Rolle" in unserem Dasein in den Blick bekommen kann. Der Textautor konnte Jesu Sicht nicht nach-denken. Er musste hier schon selbst den Blick auf das Dasein haben, um ihn Jesus zuschreiben zu können.

 

Vom Vergelten

 

38.  Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2.Mose 21,24): »Auge um Auge, Zahn um Zahn.«

39.  Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.

40.  Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.

41.  Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.

42.  Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.

Der Sinn der Rede von Auge und Zahn ist, dass man Leben, das man gemindert hat, wiederherstellen muss. Wenn man einen Mitmenschen um ein Auge gebracht hat, dann muss man das eigentlich in dem Maße wiedergutmachen, dass er anschließend so gut weiterleben kann, als hätte er das Auge noch. Das ist natürlich schwierig genug und oft unmöglich.

Der Sinn des Daseins wird aber überhaupt nicht erfüllt, wenn man das Leben nur nicht mindert, sondern wir wissen, dass wir das Leben zu mehren haben. Jesus vertritt dies konsequent und stellt es klar der gängigen Sicht gegenüber. In dieser ist es ja ziemlich naiv, persönliche Aggression widerstandslos hinzunehmen. Von der Grundanlage des Daseins her haben wir aber eben kein Recht, Leben zu mindern, auch nicht wenn vorher jemand anders unser Leben schuldhaft gemindert hat, sondern wir haben in jeder Situation Leben zu mehren.

Jesus ist hier also nicht radikal, weltfremd oder rätselhaft. Wenn man das Dasein versteht, dann sind seine Worte nichts Besonderes. Fremd sind sie nur Menschen, die dieses Verständnis verpassen, weil sie den offenen Blick auf ihre Existenz scheuen.

 

Von der Feindesliebe

 

43.  Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3.Mose 19,18) und deinen Feind hassen.

44.  Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen,

45.  damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.

46.  Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?

47.  Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?

48.  Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

 

Wir haben Leben zu mehren, unseres und das unserer Mitmenschen – so gut wir es können, aber ohne Einschränkung. Wir alle – alle Menschen – sind in der grundsätzlich gleichen Spielsituation in unseren realen Realitäten, in denen es uns gut oder schlecht gehen kann, in der es andere leichter, schwerer, angenehmer oder unangenehmer haben können als wir, und in der alle als Gerechte und Ungerechte, in richtigen oder falschen Daseinshaltungen, Fortschritte machen oder auch überfordert sein können.

Dies reicht zu begründen, dass das zu mehrende Leben auch das Leben der Feinde einschließt.

Aber es ist von "lieben" die Rede. Daher tragen wir hier die existenzielle Definition von Liebe nach. Innerweltlich ist Liebe eine Bindung mit einer bestimmten Qualität, sowie das Ausleben dieser Bindung. Existenzielle Liebe ist dann eine Bindung zum Außerweltlichen, und das davon bestimmte Leben. Eine existenzielle Bindung kann für uns nur eine annähernde Sicht sein: auf Gott, auf das jeweils eigene, Eigentliche Selbst, und auf das Eigentliche Selbst des Mitmenschen.

Das Eigentliche Selbst ist bei jedem Mitmenschen sozusagen gleich außerweltlich, absolut. Daraus begründet sich ganz zwanglos, was in diesem Absatz der Bergpredigt so apodiktisch daherkommt: dass man mit allen Mitmenschen existenziell gleich verbunden ist und sie ohne Unterschied, einschließlich der Feinde, als Gottes Kinder zu sehen und zu nehmen hat, und dass wir ebenso unsere eigene Bindung an Gott zu leben haben.

All das gibt dieser Absatz treffend und in geeigneten Bildern wieder. Der Ausdruck "vollkommen sein" wie Gott ist vielleicht nicht selbstverständlich. Er sagt ja nicht nur "alle lieben, wie Gott es tut". Wie sind wir existenziell vollkommen? Mit einer Daseinshaltung, die durch die Sicht auf das Außerweltliche perfekt ausgerichtet ist.

Auch dieser Absatz über die Feindesliebe dekoriert die existenzielle Rede sozusagen um. Er stellt sie nicht einfach nackt in den Raum, und er hilft auch gerade nicht, das im Grunde Gemeinte in den Blick zu bekommen, sondern verdeckt es mit dem Feigenblatt innerweltlicher Begründung: was Zöllner und Heiden tun, reicht nicht; für einen Lohn muss man schon etwas Besonderes tun. – Das bedeutet, dass der Textautor, obwohl der existenzielle Inhalt aus dem knappen Text kaum zu extrahieren ist, den Leser trotzdem davor schützen möchte. Ob schon Jesus selbst sein existenzielles Wissen so vorsichtig unter die Leute zu bringen versucht hat, werden wir weiter unten diskutieren.

Was können wir am Ende des ersten Kapitels der Bergpredigt als Zwischenergebnis festhalten?

Die Rede ist existenziell kompetent und konsequent, in ihren Bildern sehr anschaulich, aber trotzdem zu knapp, um den Hörern und Lesen existenzielle Sichten zugänglich zu machen. Obendrein lenkt sie geradezu systematisch von diesen Sichten ab.

 

 


MATTHÄUS 6

 

Vom Almosengeben

 

49.  Habt Acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr die nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden; ihr habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel.

50.  Wenn du nun Almosen gibst, sollst du es nicht vor dir ausposaunen lassen, wie es die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Gassen, damit sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt.

51.  Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut,

52.  damit dein Almosen verborgen bleibe; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.

 

Dieser Absatz wie auch der Anfang des folgenden sagen zusammengefasst, dass mit der öffentlichen Ausübung, womöglich gar Zurschaustellung religiöser Praxis nicht mehr als öffentliche Beachtung zu gewinnen ist. Wenn man im Verborgenen Almosen gibt oder betet, dann werde es einem Gott "vergelten".

Der Text vermittelt keine Einsicht, wie und womit es vergolten werden soll. Der Autor könnte suggerieren wollen, dass man das dann schon sehen würde. Weil im Verborgenen der äußerliche "Gewinn" wegfällt, muss man ja immerhin einen guten inneren Grund finden, aus dem man Almosen gibt und betet. Den könnte man aber auch einfach willentlich selbst setzen, etwa um zu erschließen, wie sich frommes Sein anfühlt. Enttäuschungen wären dabei nicht ausgeschlossen, und dann sähe man nichts von Gottes Lohn.

Wenn man andererseits schon richtig betet und Almosen gibt, indem man den Blick auf das Außerweltliche in einem selbst und auf das Außerweltliche im Anderen lenkt, dann ist der gesuchte Grund schon vorher geschenkt, nämlich die gut ausgerichtete Daseinshaltung: ich kann immer Leben mehren, und die Notsituation des Bedürftigen ist dafür eine Win-Win-Gelegenheit.

Es bleibt aber die Frage, wie man in diese Daseinshaltung kommt. Der Blick auf das Außerweltliche schenkt die richtige Daseinshaltung und in dieser geht der Blick auf das Außerweltliche. Dies ist ein zyklischer Zusammenhang, und die Frage ist eigentlich, wie man in diesen "Engelskreis" hinein kommt.

Nicht nur fehlt die Antwort, sondern die Frage wird nicht gestellt. Sie ist aber höchst bedeutend, denn sie ist äquivalent zu der Frage: Wie verhilft man den Menschen effektiv dazu, Gott annähernd in den Blick zu bekommen?

Jesus hat diese Frage offensichtlich verfolgt, sonst hätte er wohl nicht so viele Gleichnisse erfunden und keine Bergpredigt dieser Art gehalten. Dem Textautor dagegen war die Frage schon nicht mehr bewusst oder zu schwierig – für sich selbst oder für die Leser. Er tut so, als reichten innerweltliche Anweisungen.

 

Vom Beten. Das Vaterunser

 

1.      Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt.

2.      Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.

3.      Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.

4.      Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.

5.      Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt.

6.      Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.

7.      Unser tägliches Brot gib uns heute.

8.      Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

9.      Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

10.  Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben.

11.  Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

 

Das Vaterunser ist eine existenziell tiefgründige Zusammenfassung unserer Daseinssituation. Um das zu zeigen, formulieren wir die Verse um:

9. Das Außerweltliche ist für uns wie ein Vater. Wir können es nicht begreifen.
10. Es ist, wie wenn dieser Vater unser Sein in der Welt lenkt, indem er uns eine unermesslich reiche Welt begegnen und verstehen lässt und andererseits unser Eigentliches Selbst befähigt, darin willentlich zu handeln.
11. Unser Dasein ist so angelegt, dass wir es bestehen können. Es ist, wie wenn der Vater es so fügt, dass wir in der Welt alles finden, was unser Leben ausmacht.
12. Wenn wir Leben mindern, werden wir schuldig. Diese Schuld kann uns beherrschen. Von ihr werden wir frei, wenn wir aus ihr lernen, und damit wieder und besser Leben mehren. Dies müssen wir auch den Mitmenschen zubilligen, die eventuell unser Leben mindern. Wir müssen ihnen ihre Schuld grundsätzlich vergeben, andernfalls beherrscht sie uns.
13. Wir können der Attraktivität der Welt verfallen. Was uns immer davor bewahren und davon erlösen kann, ist die Rückbindung an das Außerweltliche. Es ist absolut in jeder Daseins-Hinsicht.

Zu den vorangehenden Texten der Bergpredigt kommt hier viel und gewichtiges Neues hinzu:

-         das Urvertrauen, dass unser Dasein wie von einem fürsorglichen Vater gefügt ist,

-         die Einsicht, dass das Außerweltliche begrifflich nicht zu erfassen sondern absolut ist,

-         der außerweltliche Ursprung des Willens,

-         das Vergeben-Sein der Schuld,

-         das Verfallen an die Welt und der Weg zurück,

-         die verschiedenen "Sichten" auf das Außerweltliche, seine Dimensionen: Reich, Kraft, Herrlichkeit, Ewigkeit.

 

Als Daseinsgesetze sind das alles Gegebenheiten. Darum zu bitten, ist sinnlos, es ist von vornherein so. Bitten kann man allenfalls darum, dass man Klarheit darüber gewinnt, d.h. dass man das, worauf das Vaterunser existenziell zeigt, in den Blick bekommt.

Wir leben tatsächlich auf der Basis von Urvertrauen. Wir vertrauen auf die Regelmäßigkeit der uns begegnenden Phänomene, so wie wir sie verstehen, z.B. dass nicht im nächsten Moment unser Fußboden weg ist und der Stuhl, auf dem wir sitzen, im leeren Raum hängt, oder dass es in 5 Minuten in der Welt kein Licht mehr gibt.

Die Menschen haben schon verstanden, dass Gott kein Begriff ist, und nutzen es, dass man ihm in der Welt der Begriffe nicht begegnen muss.

Wir wissen, dass in der Welt deren Gesetze gelten, und dass wir, um in der Welt optimal zu leben, diese Gesetze möglichst gut verstehen und uns clever danach richten müssen – aber dann läuft alles auf zunehmende Entropie hinaus, auch auf abnehmendes Leben. In der Welt bleibt kein Raum für freien Willen. Als Träger des freien Willens kommt nur der außerweltliche Spieler unserer realen Realität in Frage, unser Eigentliches, authentisches Selbst.

Da das Außerweltliche kein Begriff ist, kann man ihm kein Schuld- und Vergebungs-Denken zuschreiben. Unser Dasein ist selbst so, dass Schuld und Vergebung unausweichliche Gegebenheiten sind. Wenn wir Leben nicht mehren, rührt sich unser absolutes Gewissen, und mit ihm kann man nicht diskutieren. Unsere Aufgabe bleibt, Leben zu mehren. Man wird ihr nicht gerecht, wenn man die Schuld einerseits einfach übergeht, oder andererseits in der eigenen oder fremden Schuld und Schuldhaftigkeit fixiert bleibt. Man muss die konkrete Schuld verarbeiten, d.h. ihre Ursache und ihren Anlass verstehen, damit man ab sofort besser Leben mehren kann, nicht zuletzt das Leben des Anderen, das man schuldhaft gemindert hat. Mehr ist existenziell mit der Schuld nicht zu machen, sie ist dann in eine Mehrung des eigenen Lebens umgewandelt. Es bleibt existenziell nichts weiter nach: sie ist vergeben. Aber man muss natürlich auch noch mit den innerweltlichen Folgen weiterleben.

Das Verfallen an die Welt erleben wir alle als selbstverständlich. Wir sind sozusagen in diesen Prozess hineingeboren, kennen zunächst gar nichts Anderes als die Welt, die uns mit ihren Attraktionen bindet und in der wir unvermeidlich, manchmal auch absichtlich, Leben mindern. Das Böse ist jede Haltung, die Leben nicht mehrt. Wir müssen erst einmal lernen und gezeigt bekommen, dass unser Dasein so ist, wie wenn alles an einer außerweltlichen Komponente hängt, die man durch Bemühen sogar in den Blick bekommen kann. Und dass man auf so eine Weise unser Eigentliches Selbst in den Blick bekommen kann, von dem her wir der Welt sozusagen von außen gegenüberstehen und ihr keineswegs mehr verfallen sind. Die Abhilfe gegen das Verfallen, auch gegen das böse Verfallen bringt der Blick auf das Außerweltliche. Das ist die Struktur der "Erlösung". Das Außerweltliche ist absolut, d.h. wörtlich "abgelöst" von der Welt und ihrer Sorge.

"Reich", "Kraft", "Herrlichkeit", "Ewigkeit" sind im Vaterunser-Text mit einem "denn" angeknüpft. Wir bitten den Vater, "denn" der hat immer alle Herrschaftsattribute, die man braucht, um die Bitten zu erfüllen. Das ist alles nichtig. Gott ist kein Begriff, man kann daher von ihm nichts erwarten oder erhoffen, ihn nicht in eine Bitte einbauen und auch nicht in eine Begründung für das Erwarten oder Erhoffen. – Wir haben das oben mit der Interpretation als Daseinssichten schon korrigiert. Ein paar kurze Erklärungen: "Reich" meint Gottesherrschaft, und die besteht existenziell darin, dass wir keine und das Außerweltliche alle Kontrolle über die uns begegnenden Phänomene hat. "Kraft" bezieht sich als zusätzliche, andere Sicht wohl eher auf die Kraft unseres Eigentlichen Selbst, in der Welt gegen die zunehmende Entropie Leben mehren zu können. "Herrlichkeit" steht in enger Beziehung zum "Reich", also zu den Phänomenen, und es bedarf nur einer kleinen Meditation, um zu erkennen, dass die Gesamtheit der uns begegnenden Phänomene, die Welt, die wir verstehen, über alles herrlich ist. "Ewigkeit" heißt nicht unendliche Zeit, sondern "außerhalb der innerweltlichen Zeit". –

Diese Erläuterungen sollen nur zeigen, dass es nicht unplausibel ist, dass Jesus von seinem Blick auf das Außerweltliche her selbst von "Reich", "Kraft", "Herrlichkeit", "Ewigkeit" gesprochen haben dürfte. Aber die Gestaltung des Vaterunsers als eine Reihe von Bitten dürfte nicht von Jesus selbst sein. Er hat gewusst, was auch der Autor des 23. Psalms wusste, dass Gott einem sowieso alles gibt, was man dem Vaterunser-Text nach erst erbitten soll. Und er hat es im übernächsten Abschnitt Vom Schätzesammeln und Sorgen noch einmal überdeutlich ausgesprochen.

Mit der Formulierung als Bitten und mit der "denn"-Anknüpfung einer weltlichen Begründung macht der Textautor wieder den ganzen existenziellen Inhalt der Rede unkenntlich, für alle außer für Insider. Das hat nun schon Methode, einschließlich genau dieser Feinabstimmung. Denn er macht es wieder so, dass man darüber stolpern muss: Im Vers 8, direkt vor dem Vaterunser, qualifiziert er implizit das Bitten als sinnlos ab, da Gott sowieso schon vorher weiß, was wir bedürfen. Und dann schreibt er doch Bitten.

Offensichtlich war es zu Zeiten und im Umfeld des Textautors nicht opportun, Jesu Lehre offen zu vermitteln.

Am Schluss schiebt er auch noch die unverstandenen Verse 14 und 15 nach: Gott vergibt uns genau dann, wenn wir allen Mitmenschen vergeben. Ein solches Gottes-Kalkül ist nichtig. Unser Dasein ist so, dass uns je schon vergeben ist, mir und den Mitmenschen. Aber in der Welt verfolgt mich die Schuld, meine und die der Mitmenschen gegenüber mir, wenn ich den Zugang zu dieser existenziellen Vergebung nicht finde. Dann kann ich mir nicht vergeben, weil ich überhaupt nicht vergeben kann. Sozusagen das beste Training für Vergebung ist, den Mitmenschen zu vergeben, weil sie in derselben Daseinssituation sind wie ich, und weil ihnen schon vergeben ist.

 


Vom Fasten

 

12.  Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer dreinsehen wie die Heuchler; denn sie verstellen ihr Gesicht, um sich vor den Leuten zu zeigen mit ihrem Fasten. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt.

13.  Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht,

14.  damit du dich nicht vor den Leuten zeigst mit deinem Fasten, sondern vor deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.

 

Diese Verse wirken hier wie ein Intermezzo eingestreut. Sie setzen eigentlich die Verse 1-6 fort, und bringen nicht mehr als ein weiteres Beispiel der öffentlichen Ausübung und Zurschaustellung religiöser Praxis. Der obigen Diskussion ist also hier nichts Neues hinzuzufügen. Es geht letztlich weiter darum, in einen Engelskreis hineinzukommen, der einen in die richtige Daseinshaltung bringt.

 

Vom Schätzesammeln und Sorgen

 

15.  Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe einbrechen und stehlen.

16.  Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo sie weder Motten noch Rost fressen und wo die Diebe nicht einbrechen und stehlen.

17.  Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.

18.  Das Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein.

19.  Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!

20.  Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.

21.  Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?

22.  Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?

23.  Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?

24.  Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht.

25.  Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen.

26.  Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen?

27.  Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden?

28.  Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.

29.  Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.

30.  Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.

 

Hier geht es also darum, was wir brauchen, damit wir die Daseinssituation bestehen, und wie wir dafür ausgestattet sind. Nach Vers 33 braucht man das Reich Gottes und die entsprechend ausgerichtete Daseinshaltung, und dann fällt einem alles zu. "Reich Gottes" meint, dass unsere außerweltliche Komponente "regiert", d.h. unser Eigentliches Selbst, dass wir also eigentlich, nämlich frei von innerweltlichen Einflüssen und Wertungen, wahrnehmen und handeln. In diese Position kommen wir durch den Blick auf das Außerweltliche, der alles in unserer Welt relativiert und richtig – gerecht – einordnet. Einen Mechanismus, der das Außerweltliche bewegt, uns alles Nötige zu geben, wenn wir diese Bedingungen erfüllen, kann es nicht geben. Wir sehen dann einfach mit "lauterem Auge", was wir vorher nicht sahen: dass uns alles zufällt.

Wie erreicht man nun das "Reich Gottes", die "Gerechtigkeit", die richtige Daseinshaltung, den Blick auf das Außerweltliche? Man muss danach "trachten, sein "Herz" auf das Außerweltliche werfen, wie es Vers 21 nahe legt.

Umgekehrt findet man all das nicht, wenn man sich mit Schätzen innerhalb der Welt befasst. Dabei ist es übrigens gleichgültig, ob man sich an materielle oder immaterielle Werte, "Mammon", Genuss, Macht, intellektuellen Gewinn, oder auch nur an den kleinen Vorteil verliert. Immer ist man dann von den Anforderungen der Welt bestimmt und hat für das Außerweltliche keine Zeit, keinen Raum in seinem Bewusstsein, den Blick nicht frei.

Zur Erkenntnis des "lauteren Auges", dass "uns alles zufällt", was unser Leben ausmacht, werden noch zweierlei Qualitäten erwähnt: Zum einen Schönheit. Das primitivste Gras ist schön. Man muss nur in Ruhe genau genug hinsehen – und sich vielleicht vorstellen, man müsste selbst so etwas nachbauen, nicht nur als Modell, sondern zellgenau, lebens- und reproduktionsfähig, und vor allem nicht aus vorhandenem Material, sondern aus nichts. Die andere erwähnte Qualität ist die Kontingenz: Alle unsere Sorge in der Welt kann unser Leben nicht verlängern. Wenn es zu Ende ist, ist es zu Ende. Aber solange wir leben, sind wir die ganze Zeit lebensfähig, können unser Dasein bestehen, den nächsten Schritt tun, Leben mehren, auch von sehr niedriger Basis aus und auch wenn das sehr anstrengend sein kann.

Das alles ergibt ein klares Bild der Spielregeln unseres Daseins. Sie sind in diesem Abschnitt der Bergpredigt korrekt und deutlich angesprochen. Der Textautor lässt sogar die Härten in den Versen 24 und 27 offen stehen und versucht nur, sie mit bildhafter und poetischer Sprache zu überstrahlen – und mit reichlich innerweltlichen Begründungen zu wattieren, als ginge es gar nicht um Daseinsgesetze: innerweltliche Schätze lohnt nicht zu sammeln, weil sie ohnehin verfallen; wenn das Auge böse ist, ist das ganze Leben finster; die Vögel und die Lilien leben, ohne sich zu sorgen – also können die Menschen das auch; man soll nicht sorgen, weil man sonst dem Vorbild der Heiden folgt; man soll nicht für morgen sorgen, weil die heutige Sorge auch schon reicht. Diese Begründungen könnte man einfach getrost alle weglassen, und der Text verlöre nichts von seiner existenziellen Substanz.

Wenn es zuvor nicht ganz eindeutig war, ob der Textautor nicht deutlicher schreiben konnte oder wollte, so wird nun klar, er kann alles: die Wahrheit schreiben, verschleiern, verbiegen, ablenken, merken lassen, dass er manipuliert. Er hat große eigene existenzielle Kompetenz. Und wenn er sie in einer Zusammenfassung wie dieser Bergpredigt Jesus zuschreibt, dann muss man annehmen, dass der sie selbst hatte und nicht ohne Erfolg zu verbreiten versuchte.

 

 


MATTHÄUS 7

 

Vom Richtgeist

 

1.      Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.

2.      Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.

3.      Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?

4.      Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen?, und siehe, ein Balken ist in deinem Auge.

5.      Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.

6.      Ihr sollt das Heilige nicht den Hunden geben und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, damit die sie nicht zertreten mit ihren Füßen und sich umwenden und euch zerreißen.

 

Wie man sich leicht überlegen kann, bedeutet richten hier urteilen bzw. verurteilen (und nicht das perfekte Ausrichten unserer Daseinshaltung). Dass jeder sich dabei geradezu naturgemäß gegenüber den Mitmenschen begünstigt, ist bekannt, wenn auch regelmäßig verdrängt. Wir wissen, dass wir dahin tendieren, unser eigenes Bild zu beschönigen, unsere Fehler auf andere zu projizieren, und an anderen das zu verurteilen, was wir uns selbst nicht zu leben zutrauen.

Was aber ist der existenzielle Aspekt des Urteilens? Es erfolgt nach innerweltlichen Kriterien, und zwar nach denen des Urteilenden. Man könnte auch sagen: das Urteilen ist diesen Kriterien, d.h. der Gesetzlichkeit der Welt unterworfen. Damit ist es aber auch der Urteilende. Wenn er sich in seinen Maßstäben allein auf die Gesetze der Welt einlässt, bestimmen sie auch ihn selbst. Unsere Art des Urteilens fällt damit genau so auf uns zurück, wie es Vers 2 sagt. Das gilt überdies auch für unser Urteil über die Welt als ganze.

Es kommt noch etwas Wichtiges hinzu: die inhärente Mangelhaftigkeit des Urteilens nach innerweltlichen Kriterien. Voraussetzungen für Urteile sind Aussagen über Fakten. Genauer gesagt sind es objektive, theoretische, relationale Aussagen, z.B.: Die Person A hat zum Zeitpunkt Z am Ort O zur Person B den Satz S gesagt. Daran ist alles problematisch:

-         die Objektivität, denn ein und dieselbe Situation wird von mehreren beteiligten Personen stets verschieden erlebt und verstanden;

-         der theoretische Charakter, denn die Motivation von A, was A mit S meint, und wie B es auffasst, begegnen einem ja nicht als Phänomene, sondern darüber müssen wir erfahrungsbasierte Vorstellungen – eben Theorien – heranziehen, wobei unsere Erfahrungen die in Frage stehende Situation möglicherweise gar nicht abdecken;

-         die Relationalität, denn sie kann grundsätzlich niemals alles erfassen, was in einer Situation "drinsteckt"; was uns in einer Situation an Phänomenzusammenhängen und -folgen begegnet, lässt sich immer beliebig verfeinern; 10 Jahre später sehen wir in derselben Situation mehr.

Selbst, wenn wir glauben, diese Einschränkungen zu berücksichtigen und fair zu urteilen, sind die Einschränkungen doch nicht ausgeräumt. Und dann bleibt immer noch der absolute Fehler, dass wir im innerweltlich begründeten Urteil und den Konsequenzen, die wir daraus ableiten, das Außerweltliche gar nicht im Blick haben, weder das Selbst des Anderen noch unsere eigene Daseinssituation mit dem "Live"-Autoren unseres Daseinsfilms.

Wie bewältigt der Textautor der Bergpredigt diese Zusammenhänge? Er bringt nur das Ergebnis, dass wir über Andere nicht urteilen sollen, und den Hinweis dass unsere Urteilsweise auf uns zurückfällt, letzteres ohne Begründung, aber illustriert mit dem Bild vom Splitter und Balken. Das ist im Vergleich mit dem sonstigen Text angemessen, der ja insgesamt eher knapp und mit Begründungen sparsam ist. Auch wir haben in dieser Kritik Begründungen weglassen müssen, um den Rahmen nicht zu sprengen. Der Textautor braucht sich daher keine Mühe zu geben, um etwas abzumildern oder zu verdecken. Den existenziellen Kern voll zu vermitteln ist so aufwendig, dass in der knappen Darstellung niemand auf ihn stoßen wird.

Nun steht da aber auch noch als letzter Vers dieses Abschnitts, anscheinend ganz zusammenhanglos die Warnung vor der Lebensgefahr, wenn man das Heilige vor die Hunde und die Perlen vor die Säue zu wirft. Darüber muss man stolpern, und es zwingt einen zu einer Analyse, was das soll. Kein Absatz ohne stutzig machende Stolperstelle! Der Vers sagt genau, was der Autor mit seinen ständigen, für den Eingeweihten immer kenntlich gemachten Sinnentstellungen will: sich selbst schützen. Er will nicht wegen seiner heiligen Erkenntnisse verletzt oder getötet werden.

Die Bergpredigt ist eine Zusammenfassung der Existenzlehre Jesu. Er hat sie offen verkündet, und die religiöse Führung seiner Zeit hat ihn dafür umbringen lassen. Er hat die Gefahr gesehen und davor gewarnt. Man kann aber von keinem Textautor verlangen, dass er sich derselben Gefahr aussetzt. Dieser Textautor ist sehr geschickt: Er verkleidet dieselbe Existenzlehre als innerweltliche Vorschriften-Lehre, und entschuldigt sich hier sozusagen bei dem Leser, der den Kern doch herausliest, und versieht ihn mit einer ggf. lebensrettenden Warnung.

 

Von der Gebetserhörung

 

7.      Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.

8.      Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.

9.      Wer ist unter euch Menschen, der seinem Sohn, wenn er ihn bittet um Brot, einen Stein biete?

10.  Oder, wenn er ihn bittet um einen Fisch, eine Schlange biete?

11.  Wenn nun ihr, die ihr doch böse seid, dennoch euren Kindern gute Gaben geben könnt, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten!

 

Ein Abschnitt ohne jegliche Ecken und Kanten, geradezu aalglatt. Noch einmal geht es um das Bitten. Für diesen Abschnitt gilt immer noch – wie für die Bitten des Vaterunsers – die Qualifizierung aus Matthäus 6,8: "euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet". Damit bedeutet dieser Abschnitt: ohne Bitten wird oder ist schon gegeben, und zwar Gutes.

Dies passt sehr gut zum vorigen Abschnitt über das Urteilen. Das, was uns Gott gibt und was unser Leben ausmacht, die reale Realität, die uns der außerweltliche Schöpfer begegnen lässt, ist gut. Unser innerweltliches Urteil über die Welt als schlecht, böse und ungerecht ist falsch. So steht es da, verkleidet als mildes Gleichnis, aber in seinem existenziellen Kern doch absolut konfrontativ: wir sehen alle die Welt nicht richtig.

Könnte man das nachvollziehen? Ja, aber auch hier können wir, um den Rahmen nicht zu sprengen, wieder nur knappe Hinweise geben. Wir hatten ja schon zu Matthäus 6,30 die kleine Gedankenübung, eine Graspflanze aus nichts nachzubauen. Wir können sie auf die ganze Welt ausdehnen. Es gibt Menschen, die virtuelle Realitäten, etwa Computerspiele, entwerfen und implementieren können, die immerhin so attraktiv sind, dass sie sich millionenfach verkaufen und gespielt werden. Man muss sich nur eine virtuelle Realität vorstellen, die die ganze Welt abbildet, und sich dann vergegenwärtigen, dass alle Menschen dies als reale Realität ihres Daseins ja tatsächlich spielen, sich regelmäßig darin verlieren und nicht zu spielen aufhören, d.h. nicht sterben wollen. Ein so schlechtes "Spiel" kann das also nicht sein. – Ein anderer Ansatz ist es, alles, was uns in der Welt zur Verfügung steht, als geschenkt zu erkennen: Wir haben nichts dafür getan, dass es die Schrift, die Sprache und die Medien gibt, in denen wir einen Text wie diesen lesen können, oder dass es den Stuhl oder anderweitigen Sitz gibt, auf dem wir dabei sitzen. Und natürlich haben wir nichts dafür getan, dass es die Holz-, Stahl-, Textil-, Transport-Industrie usw. gibt, ohne deren Existenz es den Stuhl nicht gäbe, usw. Das alles müsste es in unserer Welt nicht geben, aber es steht zur Verfügung und wir haben nichts dazu getan, es ist uns geschenkt. – Was wir hier beschrieben haben, ist ein Teil der Daseinshaltung, in die wir durch den Blick auf das Außerweltliche ausgerichtet werden können. N.B.: der Textautor hat diese Sicht. Wie könnte er sonst verklausuliert schreiben, dass die Welt, die uns Gott begegnen lässt, gut ist.

 

Vom Tun des göttlichen Willens

 

12.  Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.

13.  Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind's, die auf ihm hineingehen.

14.  Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind's, die ihn finden!

15.  Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe.

16.  An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man denn Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln?

17.  So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte.

18.  Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen.

19.  Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.

20.  Darum: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.

21.  Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel.

22.  Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt? Haben wir nicht in deinem Namen böse Geister ausgetrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele Wunder getan?

23.  Dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch noch nie gekannt; weicht von mir, ihr Übeltäter!

 

Das Gesetz ist also anscheinend, dass wir den Leuten das tun, was wir möchten, dass sie uns tun. Das "führt zum Leben" ist aber unbequem, da der Weg dorthin schmal ist und nur von Wenigen gefunden wird. Diese Formulierungen können gerade noch dafür durchgehen, dass es das Daseinsgesetz ist, Leben zu mehren, dass es die Überzahl der Menschen trotzdem vorzieht, Bewährtes zu leben statt mühevoll und riskant neue Lebensmöglichkeiten zu erarbeiten, und dass überhaupt nur wenige das Dasein und das Außerweltliche annähernd in den Blick bekommen. Ohne Vorwissen wird man die Formulierungen jedoch niemals in diesem Sinne verstehen können.

Und dann werden falsche Propheten des bequemeren Lebens angeprangert. Statt gute Früchte zu bringen, nämlich Leben zu mehren, reklamieren sie für sich besondere Autorität, indem sie behaupten, im Namen Gottes zu weissagen, böse Geister zu vertreiben und Wunder zu tun. Mit Gott hat das aber absolut nichts zu tun.

Jesus hat sich später wütend mit den Pharisäern und Schriftgelehrten angelegt. Der Textautor ist weniger mutig. Er schlägt nur den Sack und nicht den Esel. Über ein paar kleine falsche Wahrsager, Exorzisten und Wunderheiler öffentlich herzuziehen, dürfte nicht besonders gefährlich gewesen sein sondern eher systemkonform.

Dieser Absatz bringt kaum etwas Neues und ist so harmlos, wie er aussieht. Vor allem, weil letztlich niemand den Blick der Leser auf das Außerweltliche herbeischreiben kann.

 

Vom Hausbau

 

24.  Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute.

25.  Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es war auf Fels gegründet.

26.  Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf Sand baute.

27.  Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, da fiel es ein und sein Fall war groß.

28.  Und es begab sich, als Jesus diese Rede vollendet hatte, dass sich das Volk entsetzte über seine Lehre;

29.  denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten.

 

Die ersten vier Verse qualifizieren die vorangegangene existenzielle Rede als sicher belastbar, und alle andere Rede über das Dasein und das Außerweltliche als haltlos. Das könnte man näher darlegen, aber der Textautor tut es nicht.

Und dann zerreißt der vorletzte Vers das ganze Wohlgefallen, das man von einer über alles wertvollen, Augen öffnenden, Einsicht schaffenden Rede erwarten könnte: das Volk ist darüber entsetzt. Das ist gefährlich für Jesus, er hat das Heilige den Hunden gegeben. Und für den Textautor ist es der Grund, die ganze Bergpredigt so zu bearbeiten, dass er damit das Entsetzen des Volks vermeidet, und dass der existenzielle Inhalt trotzdem wieder auffindbar bleibt. Dies leistet er mit Bravour. Über den biblischen Text der Bergpredigt hat sich noch niemand entsetzt.

Es gibt auch keine Auslegung, die erklären könnte, warum sich das Volk über eine Rede entsetzt, an der vordergründig nichts Entsetzliches ist. Das existenzielle Vorwissen erklärt es mühelos: Die Menschen lassen sich voll auf die Welt ein, und wollen daraus nicht herausgerissen werden, ja ihr In-der-Welt-Sein nicht einmal diskutiert sehen. Es ist ein Grundzug der Menschen – den zu testen man besser unterlässt –, dass sie Existenzfragen scheuen und mit ihnen nichts zu tun haben wollen. Adam und Eva verstecken sich, um nicht vor Gott mit der Nacktheit ihrer Existenz konfrontiert zu werden.

Der letzte Vers bedeutet nichts weiter, als dass Jesus kompetent über das Dasein und das Außerweltliche sprach, die Schriftgelehrten dagegen inkompetent – wir haben ja schon dargelegt, dass Aussagen über das Dasein und das Außerweltliche grundsätzlich nichtig sind – man möchte ergänzen: je gelehrter und ausgefeilter, umso nichtiger.

Christologische Auslegungen kommen hier zu einem anderen Ergebnis. Die Vollmacht wird als eine persönliche Vollmacht von Gott an seinen einzigen Sohn Jesus Christus interpretiert. Das ist schon nicht im Einklang mit dem vorangehenden Text: der sagt – fallweise dekliniert – 15-mal "euer Vater" oder "dein Vater", einmal "unser Vater" und einmal "mein Vater". Jesus will allen Hörern seiner Predigt nahe bringen, dass Gott für sie alle wie ihr Vater ist, wie auch für Jesus selbst und für alle anderen Menschen. Nachdem wir in dieser Predigt so viele Beweise der existenziellen Kompetenz Jesu und des Textautors gefunden haben, wäre es auch sehr verwunderlich, wenn der Textautor dies in seinem letzten Satz Lügen strafen würde. Es kann ja gar nicht sein, dass Gott einen einzigen Sohn hat und ihm eine weltgültige Vollmacht übergibt, denn dies sind begriffliche Aussagen über das Außerweltliche und daher nichtig und inkompetent. Wenn man sich nur genügend mit dem Dasein befasst, dann wird offensichtlich, dass das Dasein so ist, wie wenn es ständig von guten Eltern gefördert würde.

 

 


ERGEBNIS

 

Die Bergpredigt ist eine sehr ergiebige Lehre über unser Dasein. Sie ist dem höchst kompetenten Daseinslehrer Jesus von einem ebenso kompetenten Autor zugeschrieben. Dieser hat den Text konsequent und erfolgreich so getrimmt, dass die Auslegung über Jahrhunderte nicht auf die brisanten existenziellen Inhalte gestoßen ist. Mit existenziellem Vorwissen erschließen sie sich mühelos, zumal der Textautor an auffälligen Hinweisen nicht spart.

Letztlich ergibt dies ein tieftrauriges Bild. Die Seligpreisungen besagen doch, dass die Befassung mit dem Dasein und dem Außerweltlichen uns selig macht. Dass die Angst der Menschen vor genau dieser Befassung stärker sein soll, und man die Seligpreisungen und alles andere Wissen um das Dasein und das Außerweltliche deshalb verstecken muss, ist absurd und pervers. Trotzdem ist es die Realität, damals und heute.

Allerdings ist niemand gezwungen, sich ihr persönlich auszuliefern. Dass am Außerweltlichen etwas zu fürchten sei, ist eine nichtige Aussage. Dass der annähernde Blick auf das Dasein und das Außerweltliche heilt, kann jeder für sich selbst ausprobieren und dann letztlich selbst wissen.

 

 

 


 

 

 

 

Adam, wo bist du?

 

 

 

Das Fenster: eine Glaswand

bis zum Fußboden,

außen bündig zur Fassade.

Dahinter der Abgrund.

Sicherheitsabstand halten.

 

Und am Ende der Welt?

Keine Wand.

Viel mehr Abstand halten?

Existenzangst?

Wie unselig!

 

Natürlich ist es irgendwann

aus mit meiner Welt.

Aber bis dahin:

 

Wenn immer ich meinen Fuß

über den Rand setze,

wächst unter meinem Tritt

neuer, fester Boden.