Rainer Bruno Zimmer
Was die Welt ist, brauchen wir vordergründig nicht zu wissen. Es reicht das Wie. Es reicht zum Leben, wenn wir Situationen erkennen und uns darin erfolgreich verhalten können. Über ein ganzheitliches Erkennen von Situationen hinaus können wir auch mehr oder weniger systematisch Details und innere Zusammenhänge von Situationen erkennen und daraufhin entsprechend strukturierte Handlungen vollführen. Je differenzierter dabei die Kontexte, Inhalte und Handlungsmöglichkeiten strukturiert sind, desto treffender können wir unterschiedliche Situationen erkennen und in ihnen agieren. Solche Strukturen sind für unser Leben grundlegend. Sie stellen das dar, was wir verstehen und verstehend tun und lassen können, d.h. was uns im Leben erschlossen ist. Sie bilden die Inhalte unserer individuellen Welt.
Diese unsere Welt hat sehr klein angefangen mit dem, was uns an Empfindungen, Wahrnehmungen und Verhalten in die Wiege gelegt worden ist. Und dann haben wir dazugelernt: durch behütetes Ausprobieren in der Kindheit, durch Imitation von Erwachsenen und anderen Kindern, durch Erwerb der Sprache, und dann – mit Hilfe der Sprache stark beschleunigt – durch Übernehmen von Strukturen, die andere Menschen in Gegenwart und Vergangenheit schon erprobt und etabliert haben. So haben wir im Laufe unseres Lebens unsere Welt erweitert und sind im selben Maße gewachsen, und können – und müssen – das fortsetzen, solange wir leben.
Dies ist nun schon einmal nicht das gängige Weltbild. Im gängigen Weltbild gibt es eine von uns unabhängige, objektive Welt, den Kosmos. In dem treffen wir u.a. auch die anderen Menschen an, und demnach müssen wir uns selbst in gleicher Weise wie die anderen Menschen objektiv in diesen Kosmos einordnen, der ansonsten ohne uns im Prinzip derselbe Kosmos wäre. Die Strukturen dieser objektiven Welt kann man forschend erkennen und technisch in Handlungsmöglichkeiten umsetzen. Entsprechend kann man nicht zuletzt auch Strukturen des Menschen erschließen. Dabei ist nun schon seit langem gängige Sicht, dass das menschliche Erkennen und Handeln so funktioniert, dass der Mensch mental geeignete Modelle von Situationen der objektiven Welt konstruiert, speichert und aktuell hält, und dann in der aktuellen Situation jeweils aus seinem Modellvorrat das passende Modell abruft und sich gemäß diesem Modell verhält. So sieht es jedenfalls überwiegend aus, wenn wir verbalisieren, was wir erkennen und was wir tun.
In letzter Zeit ist sogar die weitergehende Sicht entwickelt worden, dass diese Modelle und Vorgänge gänzlich von unserem Gehirn mit seinen inneren Strukturen und naturgesetzlichen Abläufen erbracht werden. Das Gehirn kann das alles sozusagen alleine, während unser entsprechendes Erleben nur ein beiläufiger Seiteneffekt der Gehirnvorgänge ist. All unser Erleben würde uns danach vom Gehirn vorgespielt.
Während mit der Sicht der mentalen Modellierung der Welt kaum jemand ein Problem zu haben scheint, ist diese Sicht der Welt-Modellierung als reiner Gehirnphysiologie umstritten, weil sie den Menschen auf ein physikalisches Objekt reduziert.
Kritische Fragen
Man fragt sich aber gleich, wer oder was denn die Instanz ist, der das Gehirn das Erleben vorspielen soll. Man fragt sich auch, wie man von einer objektiven Welt wissen kann, wenn man nur das hat, was einem das Gehirn vorspielt. Im Übrigen möchte man wissen, wie wohl ein Gehirnforscher in einem Gehirn die Repräsentation von Denkstrukturen nachweisen will, die er nicht versteht. Man muss ja nicht gleich an einen Spezialisten denken, dem nur 50 Leute auf der Welt folgen können. Es genügt ein Mensch, der weithin anders denkt als dieser Gehirnforscher – also die meisten. Um Übereinstimmung von Denken und Gehirnvorgängen nachzuweisen, wird der Forscher von diesem Menschen wissen müssen, was er denkt, aber davon das Meiste nicht verstehen. Eventuell wird es der Mensch gar nicht formulieren können. Der Forscher kann also prinzipiell nur Übereinstimmung nachzuweisen versuchen für Gedanken, die er selbst versteht. Warum sollte diese Einschränkung akzeptabel sein?
Was uns begegnet
Trotzdem ist die Sicht sehr nützlich, dass uns unser Erleben vom Gehirn vorgespielt wird: Wir haben ja nichts Anderes als das, was uns – scheinbar oder wirklich – vorgespielt wird, nichts Anderes als dieses Erleben. Uns begegnet in diesem Erleben nicht zusätzlich noch irgend etwas dahinter. Es begegnen uns weder unser Gehirn – wir bekommen es normalerweise ein Leben lang nicht zu Gesicht und nehmen es überhaupt nicht wahr –, noch begegnet uns am Gehirn vorbei eine andere, "objektive" Welt, die unser Gehirn darin beeinflussen soll, was es uns vorspielt. Eine solche behauptete Hintergrundstruktur unseres Erlebens ist Fiktion – eventuell nützlich, aber nicht beliebig belastbar. Unser Erleben ist ursprünglich und direkt. Was uns darin begegnet, kommt wie aus dem Nichts.
Unser Erleben hat zunächst zum Inhalt, dass da etwas ist und nicht nichts. Etwas steht aus dem Nichts heraus – es "existiert". In diesem Sinne ist unser Erleben merklich, "artikuliert". Artikuliertheit ist aber noch kein Erlebensinhalt, keine Varietät, keine Struktur. Woher kommt die Struktur dessen, was wir erleben?
Wir neigen dazu zu denken, dass unser Erleben nicht nur artikuliert ist sondern auch seine Struktur und Bedeutung mitbringt. Dem ist aber nicht so. Nehmen wir zum Beispiel das Folgende: εν αρχη ην ο λογοσ και ο λογοσ ην προσ τον θεον και θεοσ ην ο λογος. Den meisten Menschen auf der Welt wird damit eine unbekannte fremde Schrift begegnen, manchen ein griechisches Textstück, anderen unmittelbar der Anfang des Johannesevangeliums. Was Menschen unterschiedlich begegnet, kann nicht in gleich Artikuliertem stecken, sondern muss von den Menschen unterschiedlich beigetragen werden. Ein anderes Beispiel: Aus einem Lautsprecher tönt etwas. Dem Einen begegnet irgendwelche Klassik, dem Anderen abstoßendes Getöne, einem Dritten sofort das Brahms-Violinkonzert, dem Vierten eine berühmte Aufnahme von Menuhin und Furtwängler. Der Eine versucht es zu überhören, der Andere flucht und geht weg, der Dritte hört etwas genauer hin, der Vierte erinnert sich daran, dass er seine Schallplatte der gleichen Aufnahme noch digitalisieren wollte, und nimmt sich das vor. Auch Handlungsrelevanz steckt nicht in dem uns begegnenden Artikulierten, sondern in dem, was wir dabei erkennen und was wir gerade im Sinn haben.
Wir bemerken, was uns begegnet, aber was wir darin erkennen, hängt davon ab, welche Begriffe wir mit dem Artikulierten assoziieren. Die Begriffe und Begriffsstrukturen werden durch unser erfolgreiches Handeln aufgebaut und gefestigt – insbesondere auch durch Lernen und Üben – und sie bestimmen unser Erkennen. Jeder Mensch hat dementsprechend eine individuelle Welt, nämlich die Gesamtstruktur seiner assoziierbaren Begriffe, kurz: all das, was er individuell begreifen und leben kann.
Die Welt lässt sich dann abstrakt so definieren, dass sie alle prinzipiell für Menschen möglichen individuellen Welten umfasst, also alles was Menschen prinzipiell begrifflich fassen können. Diese Definition von "Welt" mag hier etwas formal-abstrakt erscheinen, aber die zugehörigen Teilwelten sind uns vertraut, z.B. die Alltagswelt, die Berufswelt, die Welt des Kindes, die Welt der Mode, die Finanzwelt, die Welt der Kunst, die Welt der Physik, die Welt des Verkehrs, die Welt des Verbrechens, die Welt der Tiere, u.v.a.m. Zu allen solchen Welten gehören ihre Gegenstände, ihr Wissen und Können, ihre Rollen, ihre geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze, ihre Einrichtungen, ihre Karrieren, ihre Wirtschaft, ihre Geschichte, ihre Literatur, ihre Medien, u.a.m. – jeweils selbst eigene Teilwelten.
Ursprüngliche Teilwelten
Ursprünglicher als die obigen Teilwelten ist aber eine andere Einteilung der Welt. Uns begegnen ja nicht nur äußere Situationen und Zusammenhänge, sondern – auf dieselbe assoziative Weise und genau so effektiv – auch innere: unsere Gedanken, unsere Erinnerungen und Vorstellungen, unsere Körperwahrnehmung, unsere Gefühle, unsere Antriebe, unser inneres Sprechen. Innere und äußere Phänomene kommen gleichermaßen und parallel in unserer Welt vor, und indem wir sie als solche klassifizieren, strukturieren wir die Welt erstmals grundlegend.
Unsere Welt hat klein angefangen und ist im Laufe unseres Lebens unübersehbar gewachsen. Wir begreifen und können immer mehr. In der Gedankenwelt sprechen wir eher von "verstehen" als "begreifen". Sie wächst laufend dadurch, dass wir immer mehr Gedanken haben, die wir verstehen – solche, die wir uns selbst "erdacht" haben, und solche, die andere Menschen erdacht und kommuniziert, und die wir erlernt haben. Verstehen ist konstruktiv. Selbst wenn wir meinen, wir gingen analytisch vor und in die Details von Unterstrukturen hinein, so müssen die Unterstrukturen ja doch erst einmal konstruiert und unserer Gedankenwelt hinzugefügt worden sein.
Mit den neu begriffenen Weltinhalten – und entsprechend auch mit dem Vergessen und Verlernen – verändern sich unsere Assoziationen, z.B. von "irgendwelchem Getöne" zum "Brahms-Violinkonzert", und überschreiten dabei auch die Grenzen unserer inneren Teilwelten. Erst begegnen uns außenweltliche Laute, später eventuell das musikalische Gedankenobjekt "Brahmsviolinkonzert" und das Wohlgefühl eines Musikgenusses. Je mehr Welt wir uns erschließen, desto mehr begegnet sie uns in dieser von assoziierten Gedanken geprägten Weise – "geprägt", weil wir uns mit dem zuvor aus der Außenwelt Begegnenden (z.B. den Lauten) gar nicht mehr aufhalten, so dass es uns auch nicht mehr begegnet. Eventuell glauben wir schließlich, das Gedachte sei die Außenwelt.
Sprache und Kultur
Die Kommunikation von Phänomenen macht einen Sprung durch das Erlernen von Symbolsystemen, vor allem von gesprochener und geschriebener Sprache. Ein junger Mensch trainiert im Gebrauch von Sprache jeweils dasselbe zu assoziieren wie seine Mitmenschen, z.B. auf "8+9" immer "17" zu assoziieren. Er übernimmt dabei schon bewährte Stücke ihrer Welt, und muss sie sich nicht erst auf sich allein gestellt erarbeiten.
Dies ist die Grundlage der Kultur und der objektiven Welt. Seine eigene Welt vergrößert man am besten in der Weise, die die Vorfahren und die Mitmenschen einem vorgemacht haben und vormachen, indem man sozusagen ihre Welt nachbaut. Man sucht danach, wie man seine Lebensmöglichkeiten erweitern kann, und die direkteste Methode ist, sprachvermittelt Lebensweisen anderer Menschen nachzumachen.
Den Bestand aller solcher Lebensmöglichkeiten, Weltbauteile und -verfahren unserer Umwelt kann man als unsere Kultur auffassen. Das Nachbauen aus ein und derselben Quelle von Möglichkeiten bewirkt, dass die meisten Menschen, denen man begegnet, das gleiche Grundrepertoire alltäglicher Lebensweisen haben – "das sieht und denkt und fühlt und macht man so" – und dass es große und kleine Gruppen von Mitmenschen gibt, die jeweils gleiche Spezialrepertoires haben, z.B. alle Frauen, oder alle Lastwagenfahrer, oder alle Fotografen, oder alle Fußballer, oder alle Porzellansammler. Es begegnet nicht von vornherein allen Menschen dasselbe, aber ihre Welten überlappen vielfach, und die Teile, die bei vielen Menschen überlappen, sind kollektiv. Diese Art von Kollektivität kann man erkennen, wenn andere sich so verhalten, wie man es selbst auch tut oder täte, und man kann sie erkennen, wenn man darüber kommuniziert und merkt, dass man sich einig ist. In diesem Rahmen ist Objektivität ein Spezialfall von Kollektivität, nämlich mit zusätzlichen – kollektiven – Kriterien der universellen Nachprüfbarkeit.
Wir haben nun das Rüstzeug, unsere gängige Weltsicht zu überprüfen.
Die objektive Welt
Fangen wir an mit der Frage nach dem Kosmos als objektiver Welt. Wir haben schon festgestellt, dass das, was uns begegnet, alles ist, was uns begegnet, dass es also einschichtig ist. Etwas womöglich Realeres dahinter, eine von uns unabhängige, angeblich nicht-illusionäre, primäre Welt der Tatsachen kann uns logischerweise nicht auch noch begegnen. Es begegnet uns nur eine, unsere Welt, und es gibt keinen Zweifel an dem, was uns begegnet.
Was ist dann der Kosmos, die objektive Welt? Zunächst einmal die Gegenstände der Außenwelt, die nach unserer Erfahrung allen Menschen in gleicher Weise begegnen, oder begegnen würden oder begegnet wären. Ein Supermarkt ist ein Supermarkt, ein Kind ist ein Kind, eine Wolke ist eine Wolke, Kälte ist Kälte, jetzt, früher, und in Zukunft.
Der größte Teil des Kosmos liegt aber in unserer Gedankenwelt und besteht aus mentalen Objekten. Ein Elektron begegnet uns nie in der Außenwelt, sondern es ist ein mentales Objekt, und ebenso sind die Theorien der Elektrostatik, -dynamik und -mechanik, der Festkörperphysik, der Physik der Elementarteilchen u.a.m. mentale Objekte, die von mentalen Objekten handeln, die nicht in der Außenwelt vorkommen. Was in der Außenwelt vorkommt, sind die Experimente, aufgrund derer man feststellt, dass die Theorien zur Vorhersage von Ereignissen in der Außenwelt taugen, ferner die Ereignisse, die man mit den Theorien erklären kann, und schließlich die Geräte, die man mit ihnen bauen kann.
Ebenso ist es mit dem astronomischen Kosmos. Uns begegnen in der Außenwelt Sonne, Mond und Sterne, die wir als leuchtende, veränderliche, bewegliche Formen am Himmel sehen. Astronomische Körper, Feuerbälle, Radioquellen begegnen uns nur in ihren Theorien. Auch wenn wir sie im Teleskop betrachten, begegnen sie uns nicht eigentlich, sondern uns begegnen etwa Bilder, die uns ein bildgebendes Gerät zeigt, das z.B. auf einer Theorie der Optik beruht, der wir vertrauen – auf Grund kollektiver Kriterien universeller Nachprüfbarkeit.
Die Welt der Mikrobiologie ist ebenfalls überwiegend mental. Uns begegnen die Merkmale von Lebewesen, aber ihre Zellstrukturen, ihre Physiologie und ihre Vererbung sind rein mentale Theorieinhalte.
Alle diese Theoriegegenstände werden gewöhnlich als äußere gegenständliche Realität angesehen, als Kosmos, der unabhängig von uns besteht. Dabei begegnet er uns gar nicht in der Außenwelt, sondern existiert rein mental. Nicht bloß fiktiv sondern objektiv, und damit von uns unabhängig, ist er nur dadurch, dass die Menschen über ihn kommunizieren können und sich darüber einig sind, dass die Theorien im Großen und Ganzen vertrauenswürdig sind.
Das heißt nicht, dass wir unsere gängige Sicht vom Kosmos als der objektiven Außenwelt für die Praxis aufgeben müssen. Sie taugt weithin als praktische, auch bildliche, Vorstellung, aber wir dürfen sie nicht als absolut belastbare Wahrheit überstrapazieren. Eine Theorie gilt nur, solange ihr nichts widerspricht, das uns in der Außenwelt begegnet. Der Kosmos kann sich ändern, wenn nämlich eine Theorie durch eine andere ersetzt wird. Naturgesetze sind Theorien. Sie können keine Fakten bestimmen, sondern hängen von ihnen ab.
Gehirn und Welt
Das Gehirn ist ein weitgehend mentales Objekt, seine Funktion ist reine Theorie. Was es nicht kann, ist, eine von uns unabhängige, objektive, Kosmos-artige Welt zu modellieren, denn so eine Welt gibt es nicht. Der Kosmos ist fast gänzlich mental und es hat keinen Sinn, dieses Mentale noch einmal mental – nämlich auf unser mentales Modell vom Kosmos – abgebildet zu denken. Was wir können, ist, dass wir zu dem, was uns begegnet, in den inneren Teilwelten Weiteres begegnen lassen – zu dem Baum: die Buche, die Bucheckern, ihren Geschmack, den Wald, die schattige Kühle, das Ziel des Spaziergangs usf. Wir können assoziieren und tun es die ganze Zeit, und das sollte in einer Theorie des Gehirns wohl die Hauptrolle spielen.
Schon gar nicht kann das Gehirn die Welt modellieren. Der Kosmos ist keineswegs alles, sondern nur ein kleiner Teil der uns erschlossenen Welt. Die Welt der Naturwissenschaften ist eine, aber keineswegs besonders große, unter den Teilwelten, die wir oben schon aufzuzählen begonnen haben. Da gibt es auch noch die Welten der Wirtschaft und Finanzen, des Sports, der Gastronomie, der Architektur, der Psychologie, der Medizin, der Mathematik, der Religion, des Handels, der Politik, der Philatelie, der Kommunikation, der Medien, der Computer, des Internets, des Schiffbaus, des Zirkus, des Tourismus, u.v.a.m. Das sind jeweils riesige Welten, die alles enthalten, was viele Menschen ihr Leben lang, und über viele Generationen hin aufeinander aufbauend, an Möglichkeiten erschlossen und weitergegeben haben.
Auch wenn ein Mensch für sich nur Ausschnitte einer begrenzten Zahl von solchen Teilwelten erschließt, schafft er es ein Leben lang nicht, auch nur die Inhalte aufzuzählen, die ihm so erschlossen sind. Es ist nicht zu sehen, wie jemand dann so eine Menschenwelt gar in eine formale Repräsentation bringen und diese im Gehirn nachweisen wollte, und warum die Welt, wie sie uns begegnet, überhaupt noch einmal in das Gedankenobjekt Gehirn hineinkonstruiert werden soll, wo sie uns dann theoretisch bestenfalls noch einmal so begegnen könnte, wie ohnehin schon.
Die Wissenschaftswelt und die Wunder der Schöpfung
Wir haben oben schon einige Aussagen über Theorien gemacht, z.B. dass es mentale Objekte sind, die darauf abzielen, Voraussagen zu machen. Es gibt Alltagstheorien, z.B. wie unser Gesprächspartner "tickt", und es gibt wissenschaftliche Theorien. Bei ersteren sind wir gewohnt, dass man sich auch irren kann, bei den wissenschaftlichen Theorien gibt es Konventionen für die nachvollziehbare Bestätigung – z.B. Experimente über die Voraussagen – die mehr oder weniger garantieren, dass man sich auf eine bestätigte Theorie verlassen kann.
Ein wesentlicher Zug von wissenschaftlichen Theorien ist deshalb, dass sie formal sind, d.h. dass sie Aussagen über definierte Objekte, Relationen und Transformationen machen, oft in mathematischer Form, und dass sie Parameter ausweisen, durch deren Messung sie falsifiziert werden können. Obwohl sie nicht verifiziert sondern nur in einer endlichen Zahl von Fällen ausprobiert werden können, gibt es eine Menge verlässlicher Theorien, die häufig oder routinemäßig angewendet werden.
Sie gelten dann geradezu als Gesetze, deren Voraussagen unausweichlich sind, und die sozusagen den Lauf der Dinge nicht nur erklären sondern erzwingen, auch den vergangenen. Natürlich erzwingen sie nichts, ihre Bestätigung ist immer nur endlich, und dass es auch immer wieder einmal anders kommt, ist kein Wunder – im eigentlichen Sinne des Wortes. Wunder sind überhaupt nichts Besonderes. Wir haben schließlich keinen Einfluss darauf, was uns in der Welt begegnet, und können damit nur umgehen, indem wir unseren Alltags- und wissenschaftlichen Theorien vertrauen und dabei auch einschätzen, inwieweit wir ihnen vertrauen können. Und so vertrauen wir darauf, dass nicht im nächsten Moment der Boden unter uns verschwindet oder es von einer Sekunde auf die andere keine Atemluft mehr gibt.
Im Übrigen können wir mit Theorien praktisch nur etwas anfangen, wenn sie nicht zu komplex sind. Etwas bestimmtes, regelmäßig Begegnendes – man denke z.B. an Wolkenformen – könnte so vielgestaltig sein, dass die kürzest mögliche Theorie dafür jedes von ihr erfasste Ereignis einzeln beschreiben müsste. Ein Naturgesetz, dass Naturgesetze einfach seien, gibt es nicht.
Für außerordentlich wichtig werden Theorien über die Entstehung des Kosmos gehalten, weil viele sich damit erhoffen, die Welt von Grund auf verstehen zu können. Es gibt einige, aber selbst die besten verfügbaren Theorien dafür sind nur unzureichend bestätigt. Eine prominente – auch unzureichend bestätigte – ist die Urknalltheorie. Sie besagt im Kern, dass unser Universum das Resultat eines vor rund 14 Milliarden Jahren explodierten Punktes sei, und das wird dann als Anfang der Welt verstanden, als Schöpfung der Welt, genauer gesagt, des Kosmos, nämlich der von uns unabhängigen Außenwelt, die wir mehr oder weniger unzulänglich wahrnehmen.
Aber wir haben schon dargestellt, dass diese Welt rein fiktiv ist. Sie begegnet uns ausschließlich in den Theorien unserer Gedankenwelt. In unserer individuellen Außenwelt begegnen uns keine Expansion des Universums, keine Hintergrundstrahlung, keine Gravitation, keine dunkle Masse und keine dunkle Energie. Ihre Konstrukteure sind die Menschen, die die entsprechenden Theorien im Laufe der Zeit aufgestellt haben.
Der gedachte zeitliche Anfang des gedachten Kosmos ist keine Schöpfung im Sinne des Anfangs der Welt. Unsere Welt entsteht "live", indem uns artikuliert begegnet, was wir begreifen, und sie ist, wie wir oben gesehen haben, eine riesige Struktur riesiger verbundener Teilwelten, die unser Leben ausmachen, jede so umfangreich und komplex, dass sie ein Mensch inzwischen meist gar nicht mehr komplett fassen kann. Und diese Welt ist wirklich wie – wenn man so will: von einer außerweltlichen Instanz – geschöpft, nämlich artikuliert aus dem Nichts. Sie macht unser Leben aus, sie beginnt und endet mit ihm.
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"Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes geht". Man muss kein Christ sein, um hier zu erkennen, dass schon vor zwei Jahrtausenden Menschen gesehen haben, was die Welt ist und wie das Dasein funktioniert, nämlich indem uns – wie von außerhalb der Welt – Artikuliertes begegnet.
Heute hat kaum noch jemand eine Sicht auf das Dasein, und so können manche Naturwissenschaftler der Öffentlichkeit leicht weismachen, sie modellierten die Welt, die Welt sei der Kosmos, alles darin sei mit elementaren Kräften und Teilchen zu erklären, der Kosmos existiere unabhängig von uns, so unabhängig, dass unser Gehirn uns unser Leben darin richtig oder falsch vorspielen könne, auch unser Ich. Das unkritisch zu akzeptieren ist analog zu dem von Wissenschaftlern vielfach und zu Recht kritisierten Verhalten, dass religiöse Aussagen unbesehen geglaubt werden, weil Autoritäten sie schon seit je behaupten.
Die Naturwissenschaft erhebt den Anspruch, besonders sorgfältig und kritisch zu sein, und das sollte sie dann auch in Bezug auf sich selbst sein. Sie sollte unzweifelhaft wissen, auf Grund welcher Voraussetzungen Naturwissenschaft überhaupt funktionieren und was sie überhaupt aussagen kann.
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